Ems-Chemie: Wie man einen Konzern aufbaut

Nr. 24 –

Die Ems-Chemie der Familie Blocher hat kürzlich erfolglos gegen einen ehemaligen Mitarbeiter wegen Industriespionage geklagt. Doch die Hovag, die Vorläuferin der Ems-Chemie, ist selbst erst durch das Ausnutzen fremder Geschäftsgeheimnisse zum Grossunternehmen aufgestiegen.

Anfang der fünfziger Jahre. In Westeuropa geht es nach den Kriegsverheerungen wirtschaftlich aufwärts. Die Schaufenster zeigen lang entbehrte Waren wie Orangen und Bananen, in den Kinos laufen die neusten US-amerikanischen Filme. Und Nylonstrümpfe sowie Perlonhemden treten ihren Siegeszug an.

Entwickelt und zur Produktionsreife gebracht wurden die neuen Kunstfasern Nylon beziehungsweise Perlon Mitte der dreissiger Jahre von der Chemiefirma du Pont in den USA und der deutschen IG Farben in Leuna. Das Ergebnis langjähriger, kostspieliger Forschungsarbeit. Noch 1938 wurde der lukrative neue Markt kartellisiert, indem sich die deutsche und die US-Firma die Absatzmärkte aufteilten.

Nach dem Krieg wurde die IG Farben zerschlagen. Nebenbei errangen die USA so in Sachen Nylon eine marktdominierende Stellung. In West- wie in Ostdeutschland wurde versucht, an die alte Erfolgsgeschichte von Perlon anzuknüpfen. In der Kunststoffchemie gab es insbesondere in Ostdeutschland, in Sachsen und Thüringen, moderne Produktionsanlagen. In Schkopau, Leuna und Schwarza ballte sich Fachwissen von Wissenschaftlern und Ingenieuren.

Da erscheint plötzlich, Anfang 1953, die Holzverzuckerungs AG (Hovag) aus Domat/Ems in Graubünden mit einem Konkurrenzprodukt auf dem Weltmarkt: Grilon. Quasi aus dem Nichts. Hergestellt von einer in der Branche unbekannten Firma, aus der zehn Jahre später die Ems-Chemie werden sollte.

Holzverzuckerung hat mit moderner Kunststoffchemie so viel gemeinsam wie eine Dampfmaschine mit einem Laptop. Und nun also Grilon. Ein Wunder. Oder ein Stück generalstabsmässig ausgeführtes Wirtschaftsraubrittertum. Denn seit 1947 hat die Hovag mit einem ehemaligen Naziwissenschaftler zusammengearbeitet, und im folgenden Jahrzehnt wirbt sie in mehreren Wellen Fachleute aus Ostdeutschland samt Produktionsgeheimnissen ab. So entstehen in der Schweiz Milliardenvermögen.

Die Hovag

Schon in den späten dreissiger Jahren wollte der Schweizer Industrielle Werner Oswald das in Graubünden reichlich vorhandene Holz mittels Verzuckerung zu Alkohol und dann zu Treibstoff verarbeiten. Technisch ein einfaches chemisches Verfahren – ähnlich wie bei den qualmenden «Holzvergasern» während des Kriegs –, aber wenig effektiv, sehr kostenintensiv und wirtschaftlich unrentabel. Das ändert sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Die Schweiz – weitgehend abgeschnitten von Rohstoffeinfuhren – braucht eine gesicherte Treibstoffversorgung. Und so bekommt Werner Oswald in Graubünden eine neue Fabrik. Der Staat zahlt. In wenigen Monaten werden 1941 in Domat/Ems nicht nur die Fabrikationsanlagen für die Holzverzuckerung, sondern auch Wohnhäuser und Strassen erbaut. Es ist ein profitables Geschäft, dessen Ende 1945 allerdings absehbar ist. Zwar hat der Industrielle mit der Eidgenossenschaft eine Abnahmegarantie seines teuren Sprits bis 1955 ausgehandelt. Aber mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird klar, dass die Hovag auf dem Markt nicht konkurrenzfähig ist. Ihr technisch minderwertiges Produkt, das sogenannte «Emser Wasser», lässt sich nur noch verwenden, indem man es normalem Treibstoff beimischt. Ein veraltetes Auslaufmodell, auf massive staatliche Subventionierung angewiesen.

Die Unternehmensleitung unter Werner Oswald läuft denn auch Sturm gegen das Auslaufen dieser Subventionen. «1000 Arbeitsplätze in Gefahr, 4000 weitere vor Not und Elend», argumentiert sie im Abstimmungskampf. Im September 1955 wird ein Bundesbeschluss zur «Gewährung einer Hilfe an die Holzverzuckerungs AG» gefasst. Dagegen wird das Referendum ergriffen. In der Volksabstimmung vom Mai 1956 lehnen die Stimmberechtigten die weitere staatliche Unterstützung der Hovag ab.

Zuvor aber, 1953, hat die Hovag einen neuen Geschäftszweig lanciert, ebenjenen mit der Textilfaser Grilon.

Vom Nutzen der Geheimdienste

Der Eigentümer der Hovag, Werner Oswald, hatte im Zweiten Weltkrieg enge Verbindungen zum Schweizer Nachrichtendienst. Aufgabe der Nachrichtensektion 1 war die Beschaffung von militärischen, aber auch wirtschaftlichen Informationen aus Nazideutschland. Von besonderem Interesse für den Industriellen Oswald war die Treibstoffherstellung auf synthetischer Basis, ein Gebiet, auf dem die deutsche Chemie damals weltweit führend war. So stiess Oswald auf den Namen Johann Giesen – Professor Johann Giesen, Generaldirektor der IG-Farben-Werke Leuna, des Zentrums der deutschen Synthesetreibstoffproduktion während der Nazizeit. Zeitzeugen schildern Giesen als eine «sehr gebildete, stilvolle Persönlichkeit». Andere erinnern sich, er sei «wie ein Feldherr aufgetreten».

Während des Zweiten Weltkriegs ist der Generaldirektor und wissenschaftliche Experte oft auf Reisen. Meistens in Richtung Osten, ins sogenannte Generalgouvernement, nach Monowitz. Seine Aufgabe: Planung und Bau neuer Anlagen zur Methanolherstellung. Methanol ist kriegswichtig für die Herstellung von Flugzeug- und Raketentreibstoffen – ohne Methanol keine Messerschmitt 162 und keine V2-Rakete. 1944 produziert das von Giesen geplante und in Sklavenarbeit von Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz errichtete IG-Farben-Werk Auschwitz-Monowitz fünfzehn Prozent des deutschen Methanols. Um jeden mörderischen Preis.

Nach der Niederlage Nazideutschlands ist Johann Giesen zunächst wieder in Leuna tätig, bis ihn die US-Amerikaner, als sie das Land Sachsen entsprechend den alliierten Abkommen an die sowjetische Besatzungsmacht übergeben, mit in den Westen nehmen. Im IG-Farben-Prozess sagt er 1947 dann aus: «Von Menschenvernichtungen oder ähnlichen Untaten an den Konzentrationslager-Häftlingen habe ich in Auschwitz nie etwas erfahren …» Danach wird Giesen die Leitung des ehemaligen IG-Farben-Werks in Uerdingen übertragen. So weit ist das eine ganz normale Nachkriegskarriere eines deutschen Wissenschaftlers. Bis Ende 1949. Dann wird Giesen fristlos entlassen.

Was ist geschehen? Giesens Kontakte zu Werner Oswald und dessen Hovag in der Schweiz sind aufgeflogen. Giesen hatte seit 1947 Techniker nach Ems geschickt, die dort die erste Produktionsanlage der Polymerchemie in Betrieb setzten. Natürlich «ohne jede Gegenleistung», wie er 1949 auf Befragung versichert. Doch die britischen Besatzungsbehörden feuern ihn wegen «Verrat von Fabrikationsgeheimnissen», wie die beiden Historiker Lukas Straumann und Florian Schmaltz im Jahr 2002 dokumentiert haben.

Beim Schlossherrn auf Haldenstein

Kurze Zeit später siedelt Giesen in die Schweiz um und wird von Oswald im Schloss Haldenstein einquartiert. Der neue Forschungsleiter der Hovag hat nur eine Aufgabe: den Wechsel von der primitiven Technologie der Holzvergasung zur hochmodernen Kunststoffchemie – und zwar schnell. Doch dafür braucht man Fachleute, Spezialisten auf allen Gebieten der Polymerchemie. Davon gibt es nicht so viele. Schon gar nicht in der Schweiz. Aber Johann Giesen weiss, welche Leute er holen muss und wo sie zu finden sind. Als Erste organisiert er Ende der vierziger Jahre Spezialisten aus Halle-Leuna: Kurt Kahr, Leiter der dortigen Kaprolaktamfabrik, und sein Oberingenieur bringen nicht nur ihr Wissen, sondern auch eine komplette Sammlung von Plänen für Apparate, Rohrleitungen, quasi die Blaupausen einer kompletten Fabrik aus Leuna mit. Diese Dokumente werden in Ems später unter dem Namen «Rucksackunterlagen» gehandelt.

Unter der Leitung dieser beiden Fachleute aus der DDR werden entsprechend den mitgebrachten Plänen zügig die technischen Anlagen zur Herstellung von Kaprolaktam gebaut, dem Grundstoff für Nylon, das in Ems dann den Markennamen «Grilon» erhält – Nylon aus Grison/Graubünden.

Oswald und Giesen denken weiter voraus. Wenn man schon durch die ostdeutschen Experten in den Besitz der wissenschaftlichen Grundlagen und der technischen Verfahren zur Herstellung der neuen Wunderfaser gelangt ist, warum dann nicht auch noch die Spezialisten für deren Verarbeitung holen? Und die sitzen ebenfalls in Ostdeutschland, in Thüringen, in Schwarza.

Der Experte auf diesem Gebiet ist ein Doktor Köching. Mit ihm sollte sich eigentlich der technische Ingenieur Johann Lesche auf den Weg nach Ems machen. Doch diesmal klappt es nicht ganz reibungslos. Die DDR-Behörden haben gemerkt, dass eine gezielte Abwerbung aus der Schweiz praktiziert wird, und auch der Name Giesen ist ihnen bekannt. So wird Lesche beim Versuch, die DDR unter Mitnahme einschlägiger technischer Dokumente zu verlassen, verhaftet. Er muss eine mehrjährige Zuchthausstrafe im berüchtigten Gefängnis Bautzen absitzen und kann erst nach seiner Freilassung das deutsche Wissenschaftlerkontingent in Ems verstärken.

Die zweite Welle des Know-how-Transfers aus der DDR beginnt im Jahr 1957. Diesmal sind eher Grundlagenforscher gefragt. Und zwar aus dem Institut der Akademie der Wissenschaften der DDR in Teltow-Seehof. Es ist ein rechter Exodus eines halben Dutzends Spezialisten aus der DDR. Einer der noch später Angeworbenen, der Chemiker A. S., dokumentiert all diese Vorgänge in seinem Privatarchiv.

Und dann, Ende der fünfziger Jahre, als dritte Welle die «Leuna-Fraktion». Junge Chemiker, bereits in der DDR ausgebildet. Es beginnt mit dem Patensohn von Johann Giesen, Peter Baumann. Der wirbt seinen Studienfreund Manfred Hoppe an, dieser den jungen Doktor der Chemie A. S. Sie sollen mit ihren Spezialkenntnissen die Kunststoffchemie in Ems weiterentwickeln und technologisch umsetzen.

A. S., Mitarbeiter der Forschungsabteilung von Leuna, hat gerade seine Doktorarbeit erfolgreich verteidigt. Seine beiden Kinder freuen sich auf die bevorstehende Reise zu Oma und Opa nach Berlin. Aber eigenartigerweise reist man in verschiedenen Zügen. Dann der bekannte Weg: Bahnhof Friedrichstrasse, «letzter Bahnhof im demokratischen Sektor», und schon ist die Familie S. in Westberlin.

Bis hierher unterscheidet sich die Reise nicht von der Tausender anderer DDR-Flüchtlinge in dieser Zeit. Doch dann gibt es für die Familie S. kein überfülltes Aufnahmelager Berlin-Marienfelde, kein Notaufnahmeverfahren, selbst die sonst übliche Befragung durch die alliierten Geheimdienste findet nicht statt. Die Reise geht sofort weiter. Alles ist bestens organisiert. Es ist eine Reise aus dem immer noch schwer zerstörten und dreckigen Halle, weg von den Lebensmittelkarten, den politischen Indoktrinationen und der schlechten Luft direkt in die Schweizer Berge, nach Chur. Einige Tage in einem Hotel, dann wird eine schöne Wohnung am Rheinufer bezogen. Die Kinder staunen.

Leuna-Toiletten

Der junge Chemiker staunt hingegen einige Tage später, als er seinen neuen Arbeitsplatz in der Forschungsabteilung der Hovag in Ems betritt. Plötzlich hat er das Gefühl, wieder im Betrieb in Leuna zu sein. Die Laktamfabrik, die Büro- und Laborgebäude – alles praktisch Kopien von Leuna. Die Übereinstimmung reicht bis in Details des Treppenaufgangs, sogar der Toiletten. Und er trifft in Ems auf viele Fachkollegen aus Leuna – die «Leuna-Fraktion» eben.

Die gezielte Abwerbung mitsamt der Übernahme fremder Geschäftsgeheimnisse erweist sich als durchschlagender Erfolg. Zwar kämpft die Emser Faserproduktion gegen grosse Konkurrenz, aber bereits 1954 hat die Inventa, eine Tochtergesellschaft der Hovag, eine Lizenz für das Produktionsverfahren nach Japan verkauft und spezialisiert sich in der Folge auf den lukrativen Lizenzbau von Produktionsanlagen. So entsteht in der Schweizer Provinz, ausgelöst durch den steten Know-how-Transfer aus Ostdeutschland, aus einer unbedeutenden kleinen Chemiebude ein heute milliardenschwerer Weltkonzern. Und das ursprüngliche Grilon? Nun, die heutige Ems-Chemie gebraucht den Markennamen noch immer für verschiedene Kunststoffe.