Klimawandel: Reichen die Deiche?
Die Klimaerwärmung lässt den Meeresspiegel ansteigen – um wie viel, ist nach wie vor umstritten. Eine neue Studie zeigt jetzt: Er steigt höher, vielleicht sogar viel höher, als der Weltklimarat bislang annahm. Viele grosse Küstenregionen wären gefährdet.
Wie schnell und wie weit wird der Meeresspiegel steigen?, fragen sich rund um den Globus Menschen, die Deiche bauen oder Küstenstädte planen. Maximal um 58 Zentimeter bis zum Ende des Jahrhunderts, hatte der Weltklimarat IPCC 2007 in seinem letzten Bericht geschrieben. Doch diese sehr moderate Einschätzung, mit der sich an den meisten Küsten noch leben lässt, war schon damals umstritten.
James Hansen, der wohl bekannteste Klimaforscher der USA, hat kürzlich mit seiner Kollegin Makiko Sato eine besonders dramatische Abschätzung vorgelegt. Um bis zu fünf Meter könnten die Pegel bis zum Ende des Jahrhunderts steigen, schreiben sie im vor kurzem erschienenen Sammelband «Climate Change. Inferences from Paleoclimate and Regional Aspects». Weite Teile etwa der Niederlande oder auch Bangladeschs, Vietnams oder Myanmars müssten bei einem solchen Anstieg aufgegeben werden, ebenso Megametropolen wie New York oder Shanghai.
Dieser dramatischen Prognose liegt die Annahme zugrunde, dass der Masseverlust der Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis sich alle zehn Jahre verdoppeln könnte. Und das würde bedeuten, dass der grösste Teil des Meeresspiegelanstiegs in nur zwei Jahrzehnten erfolgt. Eine geordnete Umsiedlung von mehreren Hundert Millionen Menschen wäre in einer derart kurzen Zeitspanne kaum möglich.
Die Belege für Hansens und Satos These sind allerdings, wie die AutorInnen selbst eingestehen, dürftig. Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich mithilfe von Satellitendaten der Schwund der Eisschilde zuverlässig berechnen.
Anstieg nicht mehr abzuwenden
Andere sind mit ihren Prognosen vorsichtiger. Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und Martin Vermeer von der Aalto Universität in Helsinki waren 2009 aufgrund anderer Berechnungsmethoden zum Schluss gelangt, dass – falls die Treibhausgasemissionen weiter zunehmen – bis 2100 ein Meeresspiegelanstieg zwischen 75 und 190 Zentimetern zu erwarten sei. Vorausgesetzt, das Verhältnis zwischen steigendem Meeresspiegel und in die Höhe kletternden Temperaturen verhalte sich wie in den vergangenen tausend Jahren. Anders als Hansen und Sato rechnen sie also nicht damit, dass sich der Anstieg des Meeres exponentiell beschleunigt.
Nun haben Rahmstorf und Vermeer gemeinsam mit Michiel Schaeffer und William Hare von der niederländischen Universität Wageningen ihre Berechnungen auf die kommenden zwei Jahrhunderte ausgedehnt und das Resultat Ende Juni in der Fachzeitschrift «Nature Climate Change» veröffentlicht. Zwar fällt es erneut weniger drastisch aus als bei Hansen und Sato – unbequem ist es alleweil.
Selbst wenn es gelingen sollte – was angesichts des kaum verminderten weltweiten CO2-Ausstosses immer weniger realistisch erscheint –, den Temperaturanstieg unter zwei Grad Celsius zu halten: Der Meeresspiegel würde im Jahr 2100 trotzdem rund 75 Zentimeter höher liegen als hundert Jahre zuvor.
Doch das ist noch nicht alles. Auf mindestens 149 Zentimeter über das Niveau des Jahres 2000 steigt der Meeresspiegel gemäss diesen neusten Berechnungen bis ins Jahr 2300 an – selbst dann, wenn der Atmosphäre nach 2100 wieder Treibhausgase entzogen werden könnten.
Für viele Küstenregionen würde das zu zahlreichen Problemen führen. In den Niederlanden etwa wird man vermutlich nicht mehr jeden Deich so erhöhen können, und an den flachen Mündungen von Mekong, Nil und anderen Flüssen gingen mehrere Hunderttausend Quadratkilometer fruchtbares Ackerland verloren.
Wenn der Eisschild schmilzt
Auch wenn diese neuste Studie zu den Folgen der Klimaerwärmung auf den Meeresspiegel zu einem deutlich langsameren Anstieg kommt, als es Hansen und Sato tun, zeichnet sie auch ein düsteres Bild. Will man den Meeresspiegelanstieg in den nächsten Jahrhunderten auf ein verkraftbares Mass begrenzen, muss der Temperaturanstieg sofort eingeschränkt werden. Aber selbst wenn die bisher als «sicher» geltende Marke von zwei Grad nicht überschritten wird, bietet das keine Gewähr dafür, dass das Meer nicht im nächsten oder übernächsten Jahrhundert viele grosse Küstenmetropolen und wichtige landwirtschaftliche Flächen zu fluten droht.
Aber können wir uns darauf verlassen, dass die Anstiegsraten wenigstens nicht allzu schnell zunehmen, anders als es die eben publizierte Studie nahelegt? Stefan Rahmstorf streicht gegenüber der WOZ heraus, dass Hansen und Sato ihre Prognose eines exponentiellen Anstiegs weder physikalisch begründen noch mit Daten belegen können. Sie argumentieren stattdessen mit Hinweisen darauf, dass in früheren Erwärmungsphasen nach Eiszeiten der Meeresspiegel mitunter sehr schnell angestiegen sei – um mehrere Meter pro Jahrhundert.
Ein solcher Fall tritt ein, wenn einer der grösseren Eisschilde innerhalb relativ kurzer Zeit zusammenbricht. Am ehesten könnte das heute mit dem westantarktischen Schild passieren, der grösstenteils auf Felsen unterhalb des Meeresspiegels aufliegt. Ausschliessen mag Rahmstorf ein solches Szenario nicht, auch wenn er es für sehr unwahrscheinlich hält.