Geschichten von Ausgeschlossenen: «Jetzt beginnt das Herzrasen und ein Zittern»

Nr. 34 –

Die Internetkinderpornografie brachte ihren Mann ins Gefängnis, sie selbst liess sich in die Psychiatrie einweisen. Marianne Dreher erzählt, wie ihr schleichend der Alltag abhanden kam und sie am Ende in der Sozialhilfe landete. Ein Auszug aus dem neusten Buch von Fredi Lerch.

Ein Verwaltungsgebäude in der Altstadt von Bern: Die vier Fenster der Cafeteria sind vergittert, davor das Trottoir einer Seitengasse. Heller Vormittag Ende November 2009, die Bäume an der Aarhalde winterlich kahl. Der Raum ist durch eine Glaswand zweigeteilt. Die Selbstbedienungstheke mit einem Kaffeeautomaten, mit Gipfeli, Schokolade und Früchten liegt im Nichtraucherbereich. Seit im Kanton Bern in öffentlichen Räumen ein Rauchverbot gelte, arbeite ihre Kollegin nur noch drüben, sagt Marianne Dreher und steckt sich eine Zigarette an. Eben betritt hinter der Glaswand ein städtischer Angestellter, der, wie es scheint, durch eine Muskelerkrankung behindert ist, den Nichtraucherbereich. Sie geht hinüber und serviert ihm seinen Kaffee.

Marianne Dreher ist 41, trägt das braune Haar schulterlang und hat ein rundes Gesicht und Ringe unter den Augen. Auch wenn sie seit der Operation stark abgenommen hat, ist sie nach wie vor eine dicke Frau. Im Allgemeinen gehöre das Servieren nicht zu ihrer Arbeit, sagt sie, als sie zurückkommt und sich wieder hinter ihren Milchkaffee setzt. Und fürs Kassieren gebe es eine Kasse, wo man hineinwerfe, was man schulde. Kontrolle gebe es keine, immerhin bedienten sich ja hier ausschliesslich staatliche Angestellte, und wenn abends die Kasse nicht stimme, sei das nicht ihre Sache. Zu ihrem Pflichtenheft gehört der Abwasch, das Putzen, Nachfüllen und Aufräumen, dazu der Einkauf am Morgen. Schauen, dass es laufe, das sei ihr Job hier.

Pro Woche arbeitet sie zweieinhalb Tage, am Dienstagvormittag, dazu am Donnerstag und am Freitag, jeweils von 8 bis 11 und von 13.45 bis 16.15 Uhr. Für den Sozialdienst sei das eine Vierzigprozentstelle. «Schwierig, hier hundert Prozent zu arbeiten, wenn zweieinhalb Tage vierzig Prozent sind», sagt sie. Ihr ist es egal, denn an ihrem Lohn ändert das sowieso kaum etwas: Früher erhielt sie von der Sozialhilfe 920 Franken als «Grundbedarf», dazu 100 Franken, «weil ich mich anständig benommen habe auf dem Sozialamt». Seit sie arbeitet, erhält sie zusätzlich zum Grundbedarf 200 Franken für die Arbeit hier in der Cafeteria. Damit sie von Bern-Bethlehem, wo sie wohnt, in die Altstadt zur Arbeit kommt, braucht sie aber ein siebzig Franken teures Monatsabonnement für den Bus. Deshalb verdient sie für die zweieinhalb Arbeitstage unter dem Strich exakt dreissig Franken mehr, als sie erhalten würde, wenn sie zu Hause bliebe und im Übrigen auf dem Sozialamt als anständige Klientin registriert wäre. «Dafür krieg ich hier den Kaffee gratis», lächelt sie und holt noch zwei Tassen.

Aber schon nur, dass man sagen könne, man gehe arbeiten, sagt sie dann, sei eigentlich etwas Schönes, auf jeden Fall, wenn man so lange arbeitslos gewesen sei wie sie. Auch schätzt sie, dass ihre Chefin, die in einem oberen Stock dieses Hauses in der Personalabteilung arbeitet, gewöhnlich sage: «Probier es», wenn sie eine Neuerung vorschlage für den Einkauf oder die Organisation der Kantine.

Am 1. Mai hat sie hier angefangen. Zuvor, im Februar, wurde sie vom Sozialamt in einen einmonatigen Kurs geschickt. «Finde deine Kompetenzen», habe er geheissen oder so, und sei gedacht gewesen für Leute wie sie, zur Unterstützung bei der Integration in die Arbeitswelt. Beim Lebenslauf, den sie alle hätten schreiben müssen, seien sie ermuntert worden, möglichst offen und ehrlich zu sein. So habe sie zum Beispiel auch ihre Aufenthalte in der psychiatrischen Klinik erwähnt. Dass anschliessend die Lebensläufe für alle einsehbar aufgehängt worden sind, hat sie empört: Eine solche Art von Teambildung könne ihr gestohlen bleiben. Plötzlich haben alle von ihr Dinge gewusst, die sie ihnen sicher nie erzählt hätte und die sie auch nichts angingen. Gelesen habe ihren Lebenslauf zum Beispiel jener Kursteilnehmer, der sich als Architekt bezeichnet und konsequent über alles geschnödet habe; über die Sozialhilfe, den Kurs, die Aufträge, die sie hätten erledigen müssen. Am zweitletzten Tag dann sei ein Experte gekommen, der darüber zu befinden gehabt habe, wer von der Gruppe sich für eine «berufliche Integration» eigne und wer bloss noch für eine «soziale». Der Experte sei ihr sofort unsympathisch gewesen, auch weil er auf das erneute Gejammer des Architekten eingegangen sei und ihn gebauchpinselt habe, ein Mann mit seinen Fähigkeiten sei natürlich schwierig zu vermitteln. Da habe es sie «verjagt». Laut und deutlich habe sie dem Architekten, wenn er denn einer gewesen sei, klargemacht, dass er entweder schweigen oder, wenn es ihm hier nicht passe, auf die Sozialhilfe verzichten und verschwinden solle.

Im Abschlussbericht des Kurses sei sie tags darauf als «nicht teamfähig» bezeichnet und lediglich für die «soziale Integration» empfohlen worden. So sei sie hier in dieser Cafeteria gelandet, und eigentlich sei sie froh, dass es so gekommen sei. Sie wisse nicht, ob sie es auf dem freien Arbeitsmarkt wirklich wieder schaffen würde.

Die beherrschenden Schwiegereltern

Max Dreher, ihren späteren Ehemann, lernt Marianne, die damals noch Amrein heisst, in den frühen neunziger Jahren kennen. Sie hat Coiffeuse gelernt, nach der Ausbildung im November 1986 aber sofort in den Verkauf gewechselt. (…)

Max lädt sie bald einmal ein, bei ihm zu wohnen. Sie willigt ein und findet sich deshalb 1995 plötzlich in einem jener gutbürgerlichen Wohnquartiere, die sich hinter Solothurn am Jurahang entlangziehen. Mit Max zusammen bewohnt sie eine Fünfzimmerwohnung im Parterre des Zweiparteienhauses. Die Kelleretage verfügt talwärts über einen Vorbau mit Schwimmbecken, Sauna und Sprudelbad, dazu eine geräumige Sitzecke samt kleiner Küche.

Dass in der Wohnung des oberen Stocks die Eltern von Max wohnen, stört sie nicht. Das sind Leute, die es zu etwas gebracht haben: Sie hatten eine Bäckerei, einen Familienbetrieb zurück bis in Urgrossvaters Zeiten. Als der alte Dreher Anfang der neunziger Jahre zunehmend mit Hüftproblemen kämpfte und sich die Frage nach der Nachfolge plötzlich dringlich stellte, war für ihn klar, dass sein Sohn das Geschäft übernehmen würde. Immerhin war Max, obschon er zu dieser Zeit als Chauffeur arbeitete, gelernter Bäcker-Konditor.

Es habe, sagt Marianne Dreher, kurz bevor sie eingezogen sei, Streit gegeben im Haus. Max habe sich standhaft geweigert, den Betrieb zu übernehmen. Gesagt habe er: Die Eltern hätten in seiner Kinder- und Jugendzeit nur für diese Bäckerei gelebt, nie hätten sie Zeit gehabt. Er habe sich schon damals gesagt, das würde er nie wollen, «nie Zeit und immer Stress», Tag und Nacht, sogar samstags und sonntags nur die Bäckerei im Kopf zu haben.

Der Sohn hat sich gegen den Vater durchgesetzt. So hat der alte Dreher die Bäckerei verkauft und sein Einfamilienhaus zum Zweigenerationenhaus ausbauen lassen, indem er das Dach anheben und im Estrichgeschoss eine zweite Wohnung einbauen liess. Marianne Amrein ist beeindruckt, als sie vernimmt, der alte Dreher habe die Liegenschaft mit den zehn Aren Umschwung seinerzeit für eine Million Franken gekauft. Dass ihr Freund seinen Eltern monatlich 2500 Franken Miete bezahlt, macht ihr ein bisschen Sorgen: «Wenn wir einmal ein Kind haben und nur noch einen Lohn, dann kannst du das nicht bezahlen», sagt sie damals zu ihm. (…)

Dem Gerücht, Max sei schwul, schenkt Marianne in der ersten Zeit keine Beachtung: «Ich war ja frisch verliebt, und das Gerücht kam unter anderem von dessen Exfreundin. Sie hat mir erzählt, sie habe Max verlassen, weil er schwul sei.» Marianne Amrein denkt sich, diese Frau behaupte das lediglich deshalb, weil sie eifersüchtig sei. Und nachdem sie Max mit dem Gerücht konfrontierte und der sagte, da sei definitiv nichts dran, ist für sie die Sache erledigt. Umso mehr, als sie es mit ihrem Partner nicht schlecht getroffen hat: Zwar ist er ab und zu ein bisschen aufbrausend, und er kann auch laut werden: «Aber dreinschlagen? Nie. Da kann ich mich wirklich nicht beklagen.»

Im Zweigenerationenhaus, das merkt Marianne Dreher allmählich, sind die Türen auch offen, wenn sie zu sind. Die Schlüssel passen gleichzeitig zur Haustür und zu beiden Wohnungen. Abgeschlossen wird nur die Haustür. Schlüssel haben nicht nur die, die im Haus wohnen, sondern auch Bekannte von Maxens Eltern, die das Hallenbad mitbenutzen. An den Wochenenden versammelt sich zudem jeweils die ganze Familie Dreher. Dann kommen die beiden jüngeren Schwestern von Max – auch sie haben Schlüssel – nach Hause: die jüngere, die in der Nähe von Grenchen mit einem Geschäftsmann verheiratet ist und zwei kleine Töchter hat, und die ältere, die in Zürich mit ihrer Partnerin lebt. Eine lesbische Tochter, das müsse Platz haben, sagen die Eltern Dreher. Immerhin sei man eine grosse Familie. (…)

Erste Angstattacken

Als Marianne Amrein Max einmal fragt, ob man nicht die eigene Wohnung abschliessen könnte, um ungestört zu sein, lehnt er ab, das wäre für seine Eltern «eine unzumutbare Beleidigung». Und als das junge Paar seine Wohnung schliesslich doch einmal abgeschlossen habe, sei Vater Dreher heruntergekommen und habe gesagt: «Was wollt ihr jetzt diese Türe abschliessen, wir sind doch eine Familie.» Damit sei dann endgültig entschieden gewesen, dass die untere Wohnungstür nicht abgeschlossen werde.

(…) Was ihr zunehmend auffällt: Wenn der alte Dreher etwas sagt, gehorcht Max fast wie ein kleiner Bub. Bald einmal weiss sie auch, warum. Max erzählt ab und zu, dass sein Vater ihn früher oft und arg geschlagen habe; dass er noch als Achtzehn-, Neunzehnjähriger abends um zehn habe zu Hause sein müssen, und wenn er zu spät gekommen sei, «hets eis a Gring ggä». So ist der alte Dreher: Geht die Grossfamilie am Wochenende einmal auswärts essen, setzt er durch, dass man sich auf zwei Menüs einigt. Lauter verschiedene Menüs zu bestellen, sei unanständig, befindet er. Selten isst die Freundin von Max deshalb auswärts das, worauf sie Lust hat.

Wann Marianne Amrein dann auf dem PC von Max das erste dieser Fotos gefunden hat, weiss sie nicht mehr genau. Er selber erzählt, er habe schon Mitte der achtziger Jahre einen PC gehabt, weitergebildet habe er sich laufend mit den neusten Fachzeitschriften. Marianne ihrerseits beginnt erst während ihrer Umschulung zur Sekretärin, mit PCs vertraut zu werden. Das Bild, das sie plötzlich vor sich gehabt hat, daran erinnert sie sich genau, zeigte einen knapp fünfzehnjährigen nackten Buben. Sie konfrontiert Max mit dem Bild. Ihm ist das peinlich. Er habe sich da auf so eine Internetseite verirrt, habe sie dann halt schnell anschauen wollen, quasi zur Information, und dann zum Schauen, ob es funktioniert, eines der Bilder heruntergeladen, einfach so, das sei das erste und letzte Mal gewesen. Später wird sie sich fragen, ob sie nicht bereits in diesem Moment hätte gehen sollen. Aber sie geht nicht, lässt sich von Max überzeugen, immerhin ist es nur ein einziges Bild, und Max löscht es sofort und bereitwillig.

Die Zeit vergeht. Er ist als Vertragsfahrer unterwegs, sie pendelt als Swisscom-Sekretärin von Solothurn nach Bern und zurück. Als ihr Max Ende 2000 einen Heiratsantrag macht, sagt sie Ja. Nach dem Jahreswechsel fahren die Eltern wie immer für drei Wochen in die Lenk. Die Kinder sind eingeladen, zum Skifahren vorbeizukommen. Auch Max fährt für ein paar Tage ins Berner Oberland. Als Sekretärin in einer Buchhaltungsabteilung kann Marianne um den Jahreswechsel nicht frei machen. So bleibt sie allein zu Hause und stellt fest, dass der alte Dreher vor der Abreise die Heizung bis auf den Frostschutz ausgeschaltet hat. Sie ruft in die Lenk an, ihr sei kalt. Nun ja, sagt der alte Dreher am Telefon, sie sei ja tagsüber in Bern und nachts im Bett, und sonst sei niemand im Haus, da müsse die Heizung ja nicht laufen. Erst als sie droht, auf seine Kosten einen Monteur kommen zu lassen, weist er sie an, wie sie den Brenner der Heizung selbst in Gang bringen kann.

In diesen Wochen macht Marianne Amrein eine alte Erfahrung neu und intensiver denn je: «Man sitzt da, tut irgendetwas, was man eben tut, fernsehen oder am PC sitzen. Dann kommt dir blitzartig in den Sinn: Jetzt stirbst du und kein Mensch hilft dir. In diesem Augenblick beginnt das Herzrasen und ein Zittern, ein Zustand, wie wenn man einen Herzinfarkt bekäme.» Die Attacke dauere vielleicht eine halbe Stunde, dann verschwänden die Symptome. «Was zurückbleibt, ist Angst.» Vom Ort, an dem sich die Attacke ereignet habe, möchte man am liebsten für immer verschwinden. Man versuche, irgendwo hinzugehen, wo man sich wohler fühle, könne aber nicht weg: «Hinausgehen, sich ins Auto setzen und wegfahren, das wäre eine Riesensache, man schafft es einfach nicht. Man hat Angst, dass es einem unterwegs etwas geben könnte.»

Sie lässt sich krankschreiben und habe «sicher zwei Monate lang keinen Schritt mehr vors Haus hinaus gemacht», wie sie sagt. Nicht dass an jedem Tag eine solche Attacke aufgetreten wäre. «Aber die Angst vor der Angst, das war das Schlimmste.» Schliesslich hält sie es nicht mehr aus. Sie tritt in die Psychiatrische Klinik Solothurn ein, schildert ihre Zustände, weiss nicht, woher sie kommen, vermutet etwa, vielleicht seien die dauernden kleinen Sticheleien der Mutter Dreher einfach zu viel. In der Klinik erhält sie Tabletten zur Beruhigung und zur Stimmungsaufhellung, erholt sich schnell und kann nach sieben Tagen wieder nach Hause.

Dort kommen nun allmählich die Hochzeitsvorbereitungen in Gang. Später fragt sie sich, ob die Attacken damit in Zusammenhang gestanden haben könnten, dass sie schon damals gespürt habe, dass die Heirat nicht das Richtige sei. Mit ihrem Wunsch, es mit einer standesamtlichen Trauung bewenden zu lassen, kann sie sich nicht durchsetzen. Von der Bäckerdynastie Dreher dürfe man eine richtige Hochzeit erwarten, heisst es im oberen Stock. Max Dreher sagt später: «Ich habe mich dem Wunsch der Eltern gefügt.» Am 4. Mai 2001 geht man aufs Standesamt, tags darauf in die Kirche. Das Wetter ist so, wie man es sich wünscht. Marianne trägt ein weisses Kleid ohne Schleier, aber mit Schleppe, «wie ein Schneemann in der falschen Jahreszeit», frotzelt sie, sei sie durch die Kirche gesegelt. Für den Apéro hat man im Rasen vor dem Zweigenerationenhaus für die rund achtzig Gäste ein Festzelt aufgebaut. Am anschliessenden Essen im Restaurant haben dann mehr als fünfzig Personen teilgenommen. Von Mariannes Seite ihre Mutter mit dem neuen Mann, ihr Vater mit seiner neuen Frau und ihre Schwester mit Ehemann und den drei Kindern. Die anderen Gäste waren Gäste der Familie Dreher.

Seither ist auch Marianne Amrein im Zweiparteienhaus eine Frau Dreher. Das allerdings ist das Einzige, was sich dort mit der Heirat ändert.

Die erste Hausdurchsuchung

Schon vor der offiziellen Aufnahme Marianne Amreins in die Dreher-Sippe ist es für die Grosseltern in spe im oberen Stock zunehmend schwer verständlich gewesen, dass sich auch nach sechs Jahren Konkubinat immer noch kein Nachwuchs eingestellt hat. Obschon sich Max und Marianne nach der Heirat bemühen, wird aus dem Zweigenerationenhaus auch jetzt kein Dreigenerationenhaus. Der Erwartungsdruck nimmt zu. Marianne Dreher geht zu einem Arzt und bittet, ihre Fruchtbarkeit zu überprüfen. Sie erhält zur Antwort, in solchen Fällen überprüfe man zuerst die Fruchtbarkeit des Mannes, weil das einfacher gehe. So geht Max zum Doktor und kommt mit dem Bescheid zurück, es liege in seinem Fall «ein genetisches Problem» vor. Anlässlich der nächsten Nachfrage aus dem oberen Stock, wie es nun mit ihrem Nachwuchs stehe, rapportieren Max und Marianne: Von ihnen erhielten sie leider keine Grosskinder, die medizinische Abklärung habe ergeben, dass da ein genetisches Problem vorliege. Auch die Grosseltern in spe haben ihre Antwort parat: Sie hätten schon lange gedacht, dass Marianne keine Kinder haben könne, bei ihrem Übergewicht. Daher kämen ja wohl auch ihre «Anfälle». Wenn man so aussehe, müsse man einfach ein unglücklicher Mensch sein. Schliesslich wehrt sich Marianne: Es liege nicht an ihr, sondern an Max. – «Das ist nicht wahr, unser Sohn ist gesund.» – Marianne Dreher holt den schriftlichen Arztbericht. Die Schwiegereltern lesen und kommentieren dann bloss knapp: «Jä, das gits haut.» Später, habe ihr Max gesagt, seien ihm gegenüber seine jüngste Schwester und deren Gemahl, der Geschäftsmann aus Grenchen, noch deutlicher geworden: Er, Max, würde sich gescheiter eine gesunde Frau nehmen und sich von dieser da scheiden lassen. Der Arztbericht sei dann übrigens auch das Ende ihrer sexuellen Beziehung gewesen, sagt Marianne Dreher: «Danach war finito. Er wollte nicht mehr, warum, wusste ich nicht. Ich konnte seine Unlust nur auf mich beziehen, ich war überzeugt, ich würde ihm nicht genügen.»

Am 23. Oktober 2003 gibt die Swisscom den Abbau von 655 Vollzeitstellen bekannt. Betroffen ist auch Marianne Dreher. Die Abgangsbedingungen sind kulant: Sie erhält noch ein Jahr lang den Lohn, ohne zur Arbeit erscheinen zu müssen. Von nun an sucht sie, erfolglos, eine neue Stelle. Sie erinnert sich, dass sie in jenem Winter einmal mit einer Kollegin am PC gesessen und im Internet Stelleninserate durchgesehen habe. Plötzlich sei die Schwiegermutter im Raum gestanden, wie gewohnt, ohne anzuklopfen, und habe sie beide angefahren: «Jetzt sitzt doch nicht dauernd hinter diesem Computer, geht doch mal ein bisschen an die frische Luft.»

Marianne Dreher erhält in jenem Winter nur selten Besuch und sitzt tagelang allein zu Hause herum. (…)

Max wird immer verschlossener. Marianne sucht unermüdlich nach Wegen, «dass er friedlich bleibt», wenn er von der Arbeit kommt. Schon lange hat sie sich abgewöhnt, einen Wunsch zu äussern, wenn sie sich vor den Fernseher setzen und er die Fernbedienung in die Hand nimmt. Später, wenn sie zu Bett geht, setzt er sich gewöhnlich noch an seinen PC.

(…) Die technischen Fortschritte kommen seinen Interessen entgegen: Die Verbindungen werden billiger und schneller. Bald muss er sich nicht mehr über die Telefonleitung einloggen. Neben Fotografien ist es jetzt auch möglich, Filme anzuschauen und herunterzuladen.

Auf die Idee, dass es einschlägige Pornoseiten gibt, habe ihn, erzählt er später, «der Artikel in einem Computerheftchen» gebracht. Da sei die Rede gewesen von der dunklen Seite des Netzes: «In einem Artikel wurde berichtet, mit welchen Suchwörtern man via Suchmaschinen auf solche Seiten komme, weil dann unter zehn normalen Links ein dunkler sei. Klar haben sie geschrieben, dass diese dunklen Seiten illegal seien. Aber ich habe das dann halt ausprobiert.» Zumeist sucht er nach Aufnahmen von nackten Kindern, am liebsten Buben zwischen zehn und fünfzehn Jahren.

(…) Für gewisse Bereiche braucht es Passwörter, und um solche zu erhalten, muss er jeweils bezahlen. Er tut das mit seiner Visa-Kreditkarte und löst jeweils ein Abonnement für einen Monat: «In dieser Zeit ging es jeweils darum, möglichst viel Material herunterzuladen, um es später einmal anzuschauen. Also möglichst viel zu bekommen fürs Geld.»

Unter der Woche hält er sich zurück. Ein Chauffeur, der zu wenig schläft, riskiert seinen Job. Aber an den Wochenenden führt er nun, wie er später sagt, ein Doppelleben. Es gibt immer öfter Nächte von Samstag auf Sonntag, in denen er gar nicht mehr zu Bett geht. «Ab und zu fand ich ein Bild, das mich angetörnt hat. Langsam entstand so die Sucht: immer weiter und weiter suchen, bis wieder ein solches Bild darunter ist.» Törnt ihn ein Bild an, dann gibt ihm das «kurz eine Befriedigung». Wenn er sicher ist, dass seine Frau schläft, schaut er sich auch Kinderpornofilme an. (…)

Im September 2004 steht die Polizei erstmals mit einem Hausdurchsuchungsbefehl vor der Tür. Eine landesweite Polizeiaktion ist im Gang – sie trägt den Namen «Falcon». Dreher wird ein erstes Mal verhaftet.



Fredi Lerch erzählt im Buch «Alles bestens, Herr Grütter» die Geschichte von Marianne Dreher bis zum bitteren Ende: Die Polizei beschlagnahmt massenhaft Fotos und Videos mit kinderpornografischem Inhalt, Max Dreher kommt in Untersuchungshaft, wird aber bald wieder entlassen. In den nächsten Monaten verschlimmern sich Mariannes Angstzustände erneut, sie hält die Situation im Dreher-Haushalt kaum mehr aus. Im Sommer 2005 lässt sie sich in die psychiatrische Klinik einweisen. Ihr Mann wird wieder verhaftet, weil er auch nach der ersten Razzia weiterhin kinderpornografisches Material heruntergeladen hat. Diesmal wird er zu einer bedingten Strafe verurteilt. Marianne bekommt erst nach Monaten ihre Angstzustände in den Griff, lässt sich scheiden und baut sich langsam wieder ein eigenes Leben auf.