Ein provenzalisches Winzermärchen: Der Flüchtling und das Feengold

Nr. 35 –

Correns, ein abgelegenes Winzernest im grünen Tal des Argens, wird zum ersten Biodorf Frankreichs – angeführt von einem aussergewöhnlichen Bürgermeister.

Michael Latz.

Michael Latz kommt verspätet zum Interview. Er stellt eilig eine Flasche Wein auf den blechernen Tisch auf seinem Landgut, ein paar Gläser, Brot, Käse – und schon wieder klingelt sein Telefon. Er geht ran, keine Frage, spricht ungehetzt. Sein Sohn sei es gewesen. Seine Söhne seien sehr wichtig für ihn. Er sei reich, weil er drei Söhne habe. In der Weinflasche schimmert der Rosé, «Lisa» steht gross und deutlich auf der Etikette. So habe seine Mutter geheissen, «Lieschen» hätten sie alle genannt.

Michael Latz ist der Bürgermeister von Correns, einem Flecken mitten in der Provence. Tourismus ist in Correns fast ein Fremdwort. Die einzige Auberge ist im Winter geschlossen und auch im Sommer nicht durchgängig offen, die einzige Bar ist gar keine, sondern ein Cercle, wie sie während der Revolution gegründet wurden. Einen Kaffee bekommt man dort zwar, aber mit dem sicheren Gefühl, dass man nur geduldet ist.

Über dem Ortsschild prangt eine grosse Tafel: «1er Village BIO de France», erstes Biodorf Frankreichs, das im Jahr 1997 ausgerufen wurde. Eigentlich eine kleine Sensation. Dennoch kennt Correns kaum jemand oder weiss gar von der lokalen Rebwurzelrevolte. Latz hat so gar nichts Missionarisches an sich. Und dem eigensinnigen Völkchen reicht es, wenn es grade die mitbekommen, die zufällig das Ortsschild passieren. Man ist hier nicht scharf auf Rummel, man war immer für sich. Das bedingt die geografische Lage: Rundherum ist die in einem Talkessel liegende kleine Siedlung umschlossen von bewaldeten Bergen, in die sich der Fluss Argens, der Silberne, gegraben hat.

Die Chance für Correns

Eine eigene, ziemlich unnahbare Welt – die Mitte der neunziger Jahre plötzlich in eine Existenzkrise geraten war. Seit je hat man in Correns kaum etwas anderes gemacht als Wein angebaut. Im Gegensatz zur restlichen Provence jedoch, die vor allem für ihren Rosé bekannt ist, wachsen in den Rebgärten rund um Correns vorwiegend weisse Traubensorten. Für die war kein Markt mehr zu finden. Wirtschaftlicher Zerfall und Abwanderung der Jungen drohten. Michael Latz, soeben zum Bürgermeister gewählt und selbst Besitzer eines Weinguts, sah nur eine Chance, den Flecken zu retten: Er und die etwa dreissig anderen Winzerfamilien mussten allesamt auf bio umstellen, damit die Verdienstmöglichkeiten im Ort wieder besser würden. Der Clou: Die abgeschiedene Lage und der atypische Weinbau, die zu einem existenziellen Nachteil geworden waren, sollten als Vorteil für Bioqualitäten genutzt werden.

Michael Latz erzählt auf Französisch. Er spricht kein Deutsch, obwohl seine Eltern beide Deutsche waren. Und beide waren jüdisch. Lisa Meyer aus Hamburg, Gottfried Latz aus Bad Homburg bei Frankfurt. Kennengelernt hatten sich die beiden in New York, nachdem Lisa mit ihren Eltern vor den Nazis zunächst über Spanien nach Argentinien geflohen war und Gottfried nach Australien, wo er Schafe hütete; danach ging er nach Kenia, wo er mit Kaffee handelte, was er später auch in Ruanda und im Kongo tat.

Dort wurde 1951 Michael Latz geboren. 1960, als der Kongo unabhängig wurde, musste die Familie ihre Plantagen aufgeben und abermals fliehen. Per Zufall, weil eine Cousine in der Nähe wohnte, die einen Notar kannte, der von dem zum Verkauf stehenden Weingut wusste, kamen sie nach Correns – und fingen wiederum bei null an. Ein Bruder der Mutter lieh Lieschen und Gottfried das Geld, um das Gut zu kaufen. Nach ziemlichen Anfangsschwierigkeiten stellte sich der Erfolg ein, insbesondere als Michael nach seinem Studium als Agrarökonom in den Betrieb einstieg.

Wie schaffen es zugezogene, andersgläubige ausländische Flüchtlinge in einem weltabgewandten Nest der Provence, akzeptiert zu werden? Noch dazu, wenn diese Flüchtlinge in das ortsübliche Metier einsteigen und also zur Konkurrenz werden? Wie schafft es ein Spross dieser Flüchtlinge und der einzigen jüdischen Familie im Ort, zum Bürgermeister gewählt zu werden? Sein Dorf gar von bio zu überzeugen in einem Land, wo es durchaus nicht selbstverständlich ist, seinen Müll zu trennen, und wo der Strom noch selbstverständlicher als in anderen Ländern aus den Atomkraftwerken kommt? 

Latz meint, das Geheimnis des Erfolgs liege darin, dass er das Projekt von Anfang an als ein gemeinschaftliches betrieben habe. Nicht er habe Correns zum Biodorf gemacht, sondern alle zusammen. Zweimal sei er als Kind blöd angemacht worden, aber im Grossen und Ganzen habe es keine Probleme gegeben. Vielleicht habe dazu beigetragen, dass man seitens der Familie Latz nie einen Unterschied betont habe.

Seine Mutter sei jedoch sehr verärgert über ihn gewesen, als er 1995 Bürgermeister werden wollte. Sie habe gesagt, ein Jude müsse versteckt leben. Michael kümmerte es offenbar nicht allzu sehr. Er war bereits stellvertretender Bürgermeister, und schon als Student hatte er sich politisch engagiert, hatte marokkanischen AnalphabetInnen geholfen, war in die Sozialistische Partei eingetreten.

Klar seien die CorrenserInnen gegenüber der Bio-Idee zunächst misstrauisch gewesen. Und zwingen habe er niemanden wollen. Aber Latz konnte sie überzeugen, fast alle haben dann doch mitgemacht. Inzwischen wird auf etwa 95 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche von Correns, etwa 300 Hektaren, nur noch biologisch produziert.

Ein Dorf floriert

Das Konzept ging auf: Über 200 Leute sind zugezogen – enorm viel für ein Dorf mit heute knapp 900 EinwohnerInnen. Das Rathaus wurde modellhaft unter Bioaspekten renoviert, die Wände wie früher wieder mit Naturfarben verputzt und mit grossen Lettern «Republique Française – Liberté, Egalité, Fraternité» auf die Fassade geschrieben. In der Schulkantine bekommen die Kinder Biogerichte, die neue Heizung funktioniert mit Holz. Kostenlos beraten der Bürgermeister und sein Team DorfbewohnerInnen, wie sie ökologisch vorteilhaft bauen oder umbauen und damit auch Steuervorteile ausschöpfen können.

Die Kooperative von Correns ist bis heute die einzige Biowinzergenossenschaft in ganz Frankreich. Sie kann inzwischen stolze Preise verlangen für ihre edlen Bioweine. «L’Or des Fées», Feengold, ist ein neun Monate im neuen 400-Liter-Eichenfass gereifter Zaubertrank aus der für die Gegend typischen weissen Rebsorte Rolle. Niemand in Correns hätte sich zuvor träumen lassen, dass man für eine Flasche Genossenschaftswein ab Keller 19 Euro (23 Franken) erzielen kann. Der Präsident, Fabien Mistre, hat sich soeben zwei Kaltblutpferde gekauft. Mit ihnen statt mit schweren Maschinen will er seine Weingärten und auch die von KollegInnen künftig bearbeiten. Das nächste ehrgeizige Ziel heisst jetzt nicht mehr nur bio, sondern, noch strenger: biodynamisch. Heisst also: Es werden nur noch anthroposophische Pflanzen- und Mineralienpräparate eingesetzt.

Lune und David sind neu hier, ein motiviertes junges Paar, das einen Olivenhain und brachliegende Felder gekauft hat und nun Biogemüse wie Tomaten, Paprika und Kohl anpflanzt und auf den Wochenmärkten verkauft. Mit ihrer eigenen Körperkraft bauen sich die beiden ein von wilden Kräutern und Blumen umgebenes Steinhäuschen über dem Ufer des Argens. Das den Talkessel umgebende Heideland ist ideal für die Bienenvölker von Arnaud Rocheux, einem jungen Imker, der angefangen hat, in Correns Biohonig zu produzieren. Zwei Sorten bietet er an – nach wilden Kräutern duftender Honig aus den Heideblüten und solcher von Biolavendelfeldern.

Philippe Cambon ist schon ein paar Jahre hier. Der kräftige Hüne wollte raus aus Marseille – in die Natur. Heute zieht er mit sechzig Ziegen und zwei Hunden durch die Steineichenwälder hoch über dem Flusstal. Der Käse, den er von März bis November produziert und mit Pfeffer, Kräutern der Provence oder Knoblauch würzt, sichert ihm sein Einkommen.

Auch Jean-Pierre Droz, ein Geschäftsmann aus der Nähe von Basel, ist ins Netz gegangen, noch bevor es ausgeworfen war. Auf der Suche nach Land für den Anbau von aromatischen und medizinischen Pflanzen hat der Direktor einer Biokosmetikfirma von Correns gehört. Die isolierten und vor Verschmutzungen der konventionellen Landwirtschaft geschützten Felder gefielen ihm auf Anhieb – er kaufte. Das war 1996, noch bevor sich Correns komplett zum Biodorf wandelte.

Michael Latz ist nicht nur Bürgermeister und Besitzer der Domaine Aspras. Im nahen Brignoles hat er eine Firma für Verpackung und Marketing für den Weinverkauf aufgebaut. Das Gebäude hat er komplett ökologisch konstruieren lassen. Auch auf der Domaine Aspras wird gebaut, ein Laden für qualitativ hochstehende Produkte soll hier mitten im Rebland entstehen.

Latz muss wieder kurz telefonieren. Er hat ein weiteres Rendezvous: Demnächst komme die erste Studentin – im Biodorf Correns soll ein Forschungszentrum für Nachhaltigkeit entstehen.

Besuch aus Hollywood

Zu den privaten Bioweingütern gehört neben der Domaine Aspras von Latz und der Domaine de La Grande Pallière von Jean-Pierre Guiberga, der im umgebauten Schafstall keltert, auch der Château Miraval. Brad Pitt und Angelina Jolie haben das Schloss gekauft, weil sie hier ungestört sein können. Das erfährt man allenfalls beiläufig in Correns.

Als einer der Ersten hat es Bürgermeister Michael Latz erfahren, bloss die Namen sagten ihm nichts. Erst als seine Kinder rückwärts auf das Sofa geflogen seien und gerufen hätten: «Wer?!», habe er verstanden, dass es sich um besondere Leute handeln müsse. Vor dem ersten Treffen mit der Hollywoodprominenz habe ihm seine Frau eine DVD vorgespielt, damit er das berühmte Paar wenigstens auf Anhieb erkennen könne. Seit Wochen kursiert übrigens in der einschlägigen Presse das Gerücht, Jolie und Pitt wollten demnächst in Correns heiraten.

Die drei Weingüter und die Kooperative haben voriges Jahr Wein zugunsten von Schulen im Kongo versteigert. Dort, wo Michael Latz geboren wurde, will man mit dem Erlös etwas gegen das Elend von Kindersoldaten unternehmen. Brad Pitt hat die Fässer signiert, 25 Millionen Euro sind zusammengekommen.