Syrien: Kämpfen und beten

Nr. 35 –

Aufseiten der bewaffneten Opposition in Syrien sind auch radikal-islamistische Gruppierungen aktiv. Wie gross ist ihr Einfluss, welche Ziele verfolgen sie? Die WOZ hat mit zweien ihrer Anführer gesprochen.

Die Männer, vor denen sich der Westen fürchtet, sitzen im Schatten einiger Bäume vor einer Moschee in der Gegend von Aleppo. Sichtlich gelangweilt unterhalten sie sich und warten auf die nächste Schlacht in der Stadt. Es sind Soldaten von Dschabhat al-Nusra, einer der radikalsten der vielen islamistischen Gruppen, die sich im Zuge des Aufstands und des Bürgerkriegs in Syrien gebildet haben.

«Wir kämpfen, und wir beten, aber wir sind keine Extremisten», sagt Abu Ibrahim der WOZ. Er ist der Anführer der Einheit, die in der Moschee ihr Quartier bezogen hat. Rund fünfzig Mann führt er in den Kampf. Abu Ibrahim ist ein unauffälliger, drahtiger Mann mit hoher Stirn, 32 Jahre alt. Vor dem Aufstand war er Steinmetz. Er spricht leise, fast emotionslos.

Neben dem Eingang der Moschee hängt eine schwarze Fahne mit weisser Aufschrift: «Es gibt keinen Gott ausser Gott, und Mohammed ist sein Prophet.» Es ist eine Flagge, wie man sie dieser Tage oft sieht. Sie weckt im Westen Befürchtungen, denn sie wird mit al-Kaida assoziiert. «Sie ist eine islamische Ikone», sagt Abu Ibrahim. Und tatsächlich gab es die schwarze Flagge lange vor der Terrororganisation. Sie ist das Banner des Dschihad und keine Loyalitätsbekundung zu einer spezifischen Organisation.

Hinrichtungen wie im Irak

Das Aufkommen radikalislamistischer Gruppierungen weckt Befürchtungen über die Entwicklung des Aufstands in Syrien. Eine allfällige westliche Intervention wird dadurch noch weiter erschwert. Schliesslich könnte der Westen so unfreiwillig al-Kaida in die Hände spielen.

Anfang des Jahres trat Dschabhat al-Nusra zum ersten Mal prominent in Erscheinung. Die Organisation übernahm auf einer Dschihadisten-Website die Verantwortung für eine Reihe von Bombenanschlägen in Damaskus und Aleppo. Bei dem Anschlag in Aleppo wurden 26 Menschen getötet. US-Geheimdienste vermuteten zunächst al-Kaida im Irak hinter den Anschlägen.

Ausserdem übernahm Dschabhat al-Nusra die Verantwortung für die Exekution von dreizehn vermeintlichen Unterstützern der syrischen Regierung in der Stadt Deir al-Zor. «Gott hat den Löwen des Ostens in Deir al-Zor geholfen, die Nacken einer Gruppe von Hunden der Sicherheitskräfte und der Gangster zu schnappen», heisst es in ihrem Statement. Sie hätten die Gefangenen ihrer «gerechten» Strafe zugeführt. «Jeder von ihnen hat an seinem Ende der schlimmsten Tötung und dem schlimmsten Schicksal entgegengesehen.» Diese Form von Brutalität kannte man zuvor vor allem aus dem Nachbarland Irak.

Von den Bombenanschlägen in Aleppo will der Rebellenkommandant Abu Ibrahim nichts wissen. Seine Einheit habe sie nicht ausgeführt. Aber im ungleichen Kampf gegen Assad sei eine solche Taktik legitim. «Wenn wir eine Autobombe zünden, denken wir, dass es gerechtfertigt ist», sagt er. Schliesslich töte das Regime ZivilistInnen mit Kampfflugzeugen.

Bedrängte Journalisten

In der US-Presse heisst es, Dschabhat al-Nusra sei ein Auffangbecken für unterbeschäftigte Al-Kaida-Kämpfer aus dem Irak. Nicht nur Ausländer würden sich ihr anschliessen, sondern auch Syrer, die im Nachbarland gekämpft hatten und jetzt zurückgekehrt sind. Laut Berichten westlicher Geheimdienste soll es bis zu 1500 Al-Kaida-Kämpfer in Syrien geben. Tatsächlich haben sich Rebellen in Aleppo gegenüber Journalisten des britischen «Guardian» als Mitglieder von al-Kaida zu erkennen gegeben. Doch die meisten Aufständischen bemühen sich um Distanz – selbst in radikalen Gruppierungen wie Dschabhat al-Nusra. «Ständig wird uns vorgeworfen, wir seien al-Kaida», beklagt sich Abu Ibrahim. Eine Verbindung zur Terrororganisation gebe es nicht.

Abu Ibrahim gibt aber zu, dass unter ihm Dschihadisten zum Beispiel aus dem Libanon, Tunesien und Marokko kämpfen. Diesen geht es selten um die Befreiung Syriens von einem tyrannischen Herrscher, sondern vielmehr um die Idee eines muslimischen Glaubenskampfes. Mitte Juli wurden zwei Journalisten von ausländischen Kämpfern in der Provinz Idlib gefangen genommen. Erst nach einer ganzen Woche und einem gescheiterten Fluchtversuch konnten Mitglieder der aufständischen Freien Syrischen Armee die beiden Journalisten befreien. Die Entführer hatten die beiden Korrespondenten bedrängt, zum Islam zu konvertieren.

Know-how aus Afghanistan

Abu Anas kommandiert einen Rebellentrupp in der Stadt Azaz, die nördlich von Aleppo liegt. Anas gehört zur Gruppe Ahrar al-Scham – den Freien Syriens. Seine Einheit hat Quartier in einer verlassenen Schule bezogen. Anas macht sich sichtlich Mühe, dem Bild eines Glaubenskämpfers zu entsprechen. Hinter seinem Schreibtisch hat er das schwarze Banner aufgehängt, daneben steht eine billige Nachbildung der Tür zur Kaaba in Mekka. Vor ihm liegen der Koran und ein Säbel mit islamischen Gravierungen. Abu Anas versteht sich nicht als Mitglied der Freien Syrischen Armee, er bezeichnet sich als Mudschaheddin, als Kämpfer für den Islam.

Auf seinem Laptop zeigt er stolz ein Video. Darauf ist zu sehen, wie seine Einheit einen Panzer der syrischen Armee mit einer improvisierten Bombe in die Luft sprengt. Er sei Spezialist dafür, sagt Abu Anas. «Das haben mir ein paar Leute beigebracht – Syrer, die im Irak und in Afghanistan waren. Der Sprengstoff ist der gleiche, der benutzt wurde, um amerikanische Panzer in die Luft zu sprengen.» Auch in Abu Ibrahims Einheit soll ein Syrer dienen, der im Irak gegen die US-Truppen kämpfte. Aber er sei nicht zu sprechen. «Er ist gerade am Kämpfen.»

Die Bedeutung von Gruppen wie Dschabhat al-Nusra und Ahrar al-Scham innerhalb des syrischen Aufstands ist eher gering. Laut Abu Ibrahim verfügt Dschabhat al-Nusra in Aleppo über 300 Kämpfer, insgesamt dürften in der Stadt einige Tausend Rebellen kämpfen. Ein Rechercheur einer grossen Menschenrechtsorganisation, der in den vergangenen Monaten weite Teile Syriens bereist hat, schätzt, dass zugereiste Kämpfer weniger als zwei Prozent aller Aufständischen ausmachen.

Al-Kaida scheint keine so grosse Rolle in Syrien zu spielen, wie gelegentlich zu hören ist, auch wenn sich einige ihrer Kämpfer im Land aufhalten. Von Ayman al-Zawahiri, der aktuellen Nummer eins der Organisation, liegt bislang keine Erklärung über eine aktive Beteiligung am syrischen Aufstand vor. Al-Kaida hat im gesamten Arabischen Frühling keine bedeutende Rolle gespielt. Die meisten Aufständischen in Syrien distanzieren sich energisch von der Terrororganisation.

Für den nationalen Dschihad

Dschabhat al-Nusra hielt sich bisher sehr bedeckt. Ausser auf den Dschihadisten-Websites trat sie kaum ins Licht der Öffentlichkeit, von JournalistInnen hielt sie sich fern. Interviewtermine wurden zu- und wieder abgesagt, Loyalitätsbekundungen erst gegeben und dann wieder zurückgezogen. Abu Ibrahim ist einer der wenigen, der offen für Dschabhat al-Nusra spricht.

Ibrahim präsentiert ein Bild der Gruppe, das westliche Befürchtungen zerstreuen soll. «Wir haben jahrelang an der Seite von Minderheiten gelebt», sagt er. Auch in Zukunft sollen andere Religionen in Syrien ihren Platz haben. Ausserdem – und das ist vielleicht der grösste Unterschied zu al-Kaida – habe Dschabhat al-Nusra keine Ziele über Syrien hinaus. Abu Ibrahim kämpft keinen globalen, sondern einen nationalen Dschihad. Er vermittelt das Bild einer islamistischen Organisation, die darauf hofft, dass ihr der Westen beisteht. «Wir wollen Hilfe von jedem, der uns helfen kann. Nur diejenigen, die sich in unsere nationalen Angelegenheiten einmischen, wollen wir nicht», sagt Abu Ibrahim. Die Statements der Gruppe im Internet lesen sich allerdings radikaler. Die USA und Israel werden zu Feinden erklärt, andere Religionen attackiert.

Syrien hat eine sehr komplexe Gesellschaft, eine der vielfältigsten im Nahen Osten. Es gibt unzählige Minderheiten: Christinnen, Drusen, Kurdinnen, Tscherkessen, Ismailitinnen, Schiiten. Die Regierung wird von Alawiten beherrscht. Die Opposition spiegelt diese Vielfalt nur ansatzweise wider. Zwar gibt es in deren Reihen auch Christinnen, Kurden und Alawitinnen, aber dominiert wird die Opposition von der konservativen sunnitischen Landbevölkerung. In Aleppo gibt es kaum Kämpfer, die aus der Stadt selbst kommen. Die Revolte wurde von der Provinz in die Stadt getragen. Auf dem Land ist der Koran die einzige Konstante, die unbeirrbare Hoffnung auf Gerechtigkeit. Die vergleichsweise säkulare Regierung Assads wird gleichgesetzt mit Korruption, Ausbeutung und mit den offenbar willkürlichen Luftangriffen auf ZivilistInnen.

Daher ist es auch wenig verwunderlich, dass die Opposition unter dem Banner des Islam kämpft, und «Allahu akbar» (Gott ist gross) der überall hallende Schlachtruf ist. In Gesprächen mit Dutzenden Oppositionellen, Kämpfern und Zivilistinnen wird allerdings der Glaube so gut wie nie als Motivation für den Aufstand genannt. Fast immer wird der Kampf um die Würde an erster Stelle erwähnt.

Offener Ausgang

Mit jedem Tag, den die syrische Bevölkerung in aufständischen Gebieten unter Beschuss durch die Kampfjets, Panzer und Helikopter der Regierung erleiden muss, schwindet die Hoffnung auf Hilfe aus dem Westen. Die Opposition wendet sich dementsprechend anderen Kräften zu. Beim Gespräch mit Abu Ibrahim übersetzt ein Syrer, der den Überzeugungen von Dschabhat al-Nusra sehr kritisch gegenübersteht. Auf die Frage, ob Abu Ibrahim denn Hilfe von al-Kaida akzeptieren würde, antwortet der Übersetzer zuerst: «Ja – wenn sie denn helfen würden.»

Noch ist das Ende Assads nicht gekommen, und noch muss die syrische Opposition sich nicht mit den Grundzügen eines neuen Staats auseinandersetzen. «Lasst uns das Land regieren, und urteilt dann über uns», sagt Abu Ibrahim.

Die Freie Syrische Armee: Mit Guerillataktik

Seit Juli 2011 hat die bewaffnete syrische Opposition einen Namen: die Freie Syrische Armee (FSA). Eine zentrale Figur innerhalb der FSA ist Riad al-Asaad, ein desertierter Oberst der syrischen Luftwaffe. Unter der Obhut der Türkei hat er zusammen mit anderen Deserteuren die FSA aufgebaut. Bis heute operiert die militärische Führung aus einem Flüchtlingslager in der türkischen Provinz Hatay, das ehemaligen syrischen Regierungssoldaten und -offizieren vorbehalten ist. 

Inzwischen sollen bis zu 40 000 Mann in der FSA kämpfen. Die FSA verfolgt eine Guerillataktik. Kurze, schnelle Angriffe, denen oft ein genauso schneller Rückzug folgt. Immer öfter werden improvisierte Bomben eingesetzt.

Seit Anfang des Jahres wird in vielen Medien darüber spekuliert, dass die FSA Waffen aus den Golfstaaten erhält. Bisher sei die Unterstützung laut FSA-Führung und lokalen Kommandanten in Syrien aber nicht über finanzielle Hilfe hinausgegangen. Moderne Waffen, die gegen Panzer oder Flugzeuge eingesetzt werden können, gibt es zumindest in Aleppo augenscheinlich nicht.

Wie viel Einfluss die FSA-Führung in Syrien tatsächlich hat, ist unklar. Viele kämpfende Gruppen distanzieren sich von der FSA. Die FSA-Führung sagt, sie habe keine politischen Ziele, die über den Sturz Baschar al-Assads hinausgingen. 

Daniel Etter