Syrien: «Wir müssen Assad loswerden»
Innert weniger Tage haben Rebellen die Stadt Aleppo eingenommen. Das weckt bei vielen Syrer:innen zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Hoffnung. Könnte das Regime von Baschar al-Assad tatsächlich bald stürzen?
Es war ein Bild von grosser Symbolkraft, das letzten Freitag in den sozialen Medien kursierte. Es zeigt den Haupteingang der Zitadelle von Aleppo: Zwei lange Flaggen hängen von den Zinnen, links die palästinensische, rechts die grün-weiss-rote der syrischen Revolution.
Zwei Tage zuvor hatten mehrere Rebellengruppen parallel zwei militärische Offensiven gestartet, um das Regime zurückzudrängen, das während Jahren über die Frontlinie hinweg Zivilist:innen im Rebellengebiet mit Raketen beschossen hat. Dass sie nur zwei Tage später die Stadt Aleppo vollständig eroberten und in den Tagen darauf weiter Richtung Hama vorstiessen, hat sogar jene überrascht, die den Konflikt seit Jahren beobachten – und vermutlich auch die Rebellen selbst. Innert sechs Tagen haben die islamistisch kontrollierten oppositionellen Kräfte im Nordwesten des Landes das Gebiet unter ihrer Kontrolle mehr als verdoppelt.
Ein eingefrorener Konflikt
Acht Jahre ist es her, seit die syrische Armee, unterstützt von der russischen Luftwaffe und einer ganzen Reihe vom Iran kontrollierter Milizen, den Osten der Stadt Aleppo von den Rebellen zurückeroberte. Jene Kämpfer und Aktivist:innen, die nicht in den monatelangen Bombardierungen getötet worden waren, verliessen Aleppo Richtung Westen, wo Teile der Provinz Idlib bis heute unter der Kontrolle der Rebellen stehen.
Für viele, die 2011 gegen Assads Regime demonstriert hatten, war der Fall der zweitgrössten Stadt des Landes 2016 der entscheidende Moment, der ihre Hoffnung auf einen politischen Wandel in Syrien zerschlug. In den zwei Jahren darauf eroberte das Regime fast alle verbliebenen Rebellengebiete zurück. Nur Idlib und das nördliche Umland Aleppos blieben in der Hand der islamistischen Opposition. Der Nordosten des Landes blieb unter der Kontrolle der kurdischen YPG, dem syrischen Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die seit dem Ende der Terrororganisation «Islamischer Staat» fast ein Drittel des Landes kontrolliert.
Seither haben sich die Frontlinien kaum noch verschoben, keine der Kriegsparteien ist stark genug, die anderen zu besiegen: ein eingefrorener Konflikt. Eine politische Lösung gibt es nicht, keine Aussöhnung, keinen Weg nach vorne. Das Regime ist international isoliert, die Situation im Land katastrophal: Neunzig Prozent der Bevölkerung leben heute in Armut. Und noch immer befinden sich über fünf Millionen Syrer:innen als Geflüchtete im Ausland. Die Flagge der Opposition über der Zitadelle Aleppos weckte bei vielen zum ersten Mal seit Jahren wieder Hoffnung: darauf, dass ein politischer Wandel im Land vielleicht doch noch möglich ist. «Ich dachte nicht, dass es so schnell geht», sagt Said Chalaf. «Ich bin optimistisch. Ich hoffe, dass die Offensive so viel Druck auf das Regime ausübt, dass es zu einer politischen Lösung kommt.»
Said Chalaf ist nicht der richtige Name des Anwalts, der in einem Dorf im Umland der Stadt Dara lebt, ganz im Süden Syriens an der Grenze zu Jordanien. Seine Situation zeigt beispielhaft, was der festgefahrene Konflikt mit dem Leben eines Einzelnen macht: Chalaf hatte sich 2011 als Menschenrechts- und Medienaktivist am friedlichen Aufstand beteiligt. Als das Regime 2018 Dara zurückeroberte, machte es einen Deal mit den Aufständischen: Sie bekämpfen das Regime nicht mehr, im Gegenzug verhaftet dieses keine Oppositionellen.
Nur: Im Fall von Chalaf stimmte das nicht. Er wird wie auch andere zivile Aktivist:innen noch immer vom Geheimdienst gesucht. «Ich kann mich nicht weiter als zehn Kilometer aus meinem Dorf hinausbewegen. Wenn ich an einen Checkpoint käme, würde ich verhaftet», sagt er. Jene, die noch immer verfolgt würden, seien vor allem die zivilen Aktivist:innen. «Das Regime fürchtet den Stift mehr als das Gewehr.» Für Chalaf ist klar: Solange Assad an der Macht bleibt, gibt es keine Lösung für Syrien. «Wir müssen ihn loswerden.»
Süssigkeiten fürs Image
Gleichzeitig haben auch alle anderen bewaffneten Gruppen bei vielen, die 2011 für einen Wandel demonstrierten, einen schlechten Ruf. Die Hajat Tahrir al-Scham (HTS), die einst der islamistischen al-Kaida die Treue schwor, geht in Idlib rigoros gegen jene vor, die es wagen, Kritik an ihrer Herrschaft zu üben. Die Syrische Nationale Armee, die von der Türkei unterstützt wird, ist berüchtigt dafür, Häuser in ihrem Herrschaftsgebiet zu plündern und die Bewohner:innen zu drangsalieren. Und auch der kurdischen YPG werfen Menschenrechtsorganisationen vor, Kinder zu rekrutieren, und sunnitische Araber:innen im Nordosten berichten von systematischer Diskriminierung.
«Die Situation in Syrien kann sich nicht verbessern, solange die Kräfte, die momentan das Land unter Kontrolle haben, weiter an der Macht sind», sagt der Journalist Amer Zakaria in Damaskus. Auch er will seinen richtigen Namen für sich behalten. «Sie werden alle von anderen Ländern kontrolliert und arbeiten gegen den Zusammenhalt der Syrer:innen, sie stehen den Zielen von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit und dem Erreichen eines demokratischen Systems im Weg.»
Dabei fällt auf, wie sehr die Rebellen dieses Mal auf ihr öffentliches Image bedacht sind. In den sozialen Medien verbreiten sie Videos davon, wie Kämpfer in Aleppo Süssigkeiten an Kinder verteilen. Bisher gibt es tatsächlich auch kaum Berichte von Übergriffen gegen Zivilist:innen. In einer Mitteilung, in der sie die kurdischen Kämpfer:innen zum Rückzug aus dem Stadtteil Scheich Maksud in Aleppo auffordern, betonen sie, dass die Kurd:innen ein integraler Teil der syrischen Gesellschaft seien. Ihr Kampf richte sich ausschliesslich gegen das syrische Regime und dessen vom Iran unterstützte Milizen. Der HTS-Anführer, Abu Muhammad al-Dschaulani, wolle seine Organisation als tolerantere Variante der Taliban präsentieren, schreiben die Experten Hassan Hassan und Michael Weiss in einem Artikel im «New Lines Magazine». So erhoffe sich Dschaulani internationale Anerkennung.
Fast alle früheren Aktivist:innen und auch politische Beobachter:innen sind sich einig, dass eine politische Lösung des Konflikts in Syrien mit Assad an der Macht undenkbar ist. Zwar gab es in den vergangenen Jahren zunehmend Bestrebungen, vor allem durch Länder in der Region, die Beziehungen zum Assad-Regime zu normalisieren. Doch hat gerade die jüngste Rebellenoffensive gezeigt, dass ein Konflikt nicht einfach verschwindet, nur weil sich nichts bewegt.
Was soll die Armee verteidigen?
«Die Kämpfer, die sich an der Offensive beteiligten, stammen fast alle aus jenen Städten und Dörfern, die Jahre zuvor vom Regime zurückerobert wurden», sagt Siad al-Sayed, der als Arzt im Universitätsspital in Idlib arbeitet. In der Provinz leben über eine Million Vertriebene, die nach der Rückeroberung durch das Regime aus ihren Dörfern und Städten fliehen mussten. «Ihr Ziel ist es, nach Hause zu gehen», so Sayed.
Der schnelle Vorstoss der Rebellen zeigt zudem, wie fragil die Macht des syrischen Regimes ist – und wie sehr sie von seinen Schirmherren Russland und Iran abhängt. Die ausländischen Unterstützer des Regimes sind heute so schwach wie noch nie seit Beginn des Konflikts. Russland bindet seine Kräfte seit fast drei Jahren im Krieg gegen die Ukraine. Der Iran steht inzwischen stark unter Druck: Im Libanon hat die libanesische Hisbollah-Miliz, die das Assad-Regime mit Zehntausenden Kämpfern unterstützte, im jüngsten Krieg mit Israel praktisch ihre ganze Führungsriege verloren und ist gravierend geschwächt worden.
Doch auch die syrische Armee selbst ist offenbar kaum noch in der Lage, das Regime zu verteidigen. Als die Rebellen Richtung Aleppo vorrückten, verliessen die Soldaten der Armee ihre Posten kampflos. Für Said Chalaf in Dara ist das nicht überraschend: «Der Strom kommt alle sechs Stunden eine halbe Stunde lang. Alle drei Monate erhalten wir eine Gasflasche zum Kochen, die für zwanzig Tage reicht. Assad hat keine Lösung dafür, und jedes Jahr wird es schlimmer. Was wollen seine Soldaten verteidigen?»