Die SP und die Migration: Radikal realistisch

Nr. 37 –

Die Bürgerlichen verunglimpfen die Linke in Ausländerfragen systematisch als blauäugig und realitätsblind. Es ist inzwischen bis an die Stammtische hinunter Allgemeingut. Aber stimmt es auch?

Es sind in erster Linie linke Organisationen, Aktivistinnen, Lehrer und Behördenmitglieder, die sich seit Jahrzehnten an der Basis für AusländerInnen einsetzen und diese Realität nicht bloss aus dem Fernsehen, aus Polizei- und Missbrauchsmeldungen oder aus Statistikjahrbüchern kennen. Und ein entsprechend differenziertes Bild haben. Dass Linke in einem seit Jahren hasserfüllten Diskurs von rechts Abwehrreflexe gegen Fremdenfeindlichkeit, Stigmatisierung, Unterdrückung und Kriminalisierung der ausländischen Bevölkerung entwickelten – geschenkt. Dass daraus mitunter Fehleinschätzungen oder Pauschalisierungen im Guten resultierten – geschenkt.

Wenn eine Kritik angebracht ist, dann die: Der Linken gelang es bislang nicht, ihren Realitätssinn in dieser Frage der breiten Bevölkerung angemessen zu vermitteln. Stimmt nicht ganz: Was wäre die Personenfreizügigkeit ohne die zunächst von allen Bürgerlichen bekämpften flankierenden Massnahmen? Die Bevölkerung verdankt ihren Schutz vor Dumpinglöhnen den Gewerkschaften und den Linken.

Differenzierung ist bekanntlich Gift im Zuspitzungsgeschäft. Dennoch könnte jetzt die SP mit ihrem Migrationspapier an Kontur gewinnen und politisches Kapital daraus schlagen. Die Parteileitung präsentierte zunächst einen Entwurf, der von der technokratischen Politlogik Berns geleitet war, von der Machbarkeit. Das ist durchaus gut: Bodenspekulation, explodierende Mieten, Landschaftsschutz – auch da sind flankierende Massnahmen gefragt. Am Samstag am Parteitag in Lugano hat die Basis entscheidende Punkte geändert, die sich an bürgerliche Postulate anlehnten: keine Zwangssausschaffung, Abschaffung des Nothilferegimes, auch für abgewiesene AsylbewerberInnen. Das wird nicht allen passen – aber das Signal ist klar: Mit der SP gibt es keine antisolidarische Migrationspolitik. Die Basis zeigte sich im besten Sinn radikal, orientierte sich an den Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität.

Die Medien bemühen sich ständig, einen Unterschied zu machen zwischen einem pragmatischen und einem radikalen Flügel in der SP. Statt die eine Richtung gegen die andere auszuspielen, könnte man stattdessen festhalten: Offenbar ist die Sozialdemokratie wiederbelebt und verfügt über eine streitlustige Debattenkultur. Es gab jedenfalls kaum eine Parteiversammlung in den letzten Jahren, über die inhaltlich so viel berichtet wurde wie über den Parteitag der SP. Und offenbar gelingt es der Partei, am Ende einen vertretbaren Weg zu finden, auf dem sie ihre Grundsätze nicht verrät. Sie hat, von der Juso bis in den Bundesrat, auch das Personal dafür.

Die Offensive der SP ist umso bemerkenswerter, als sich ihre grösste Gegenspielerin, die SVP, in der Defensive befindet. Namentlich die kantonalzürcherische Sektion, von der das konservative Rollback der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren ausging: Sie schlägt sich mit Sesselklebern im Pensionsalter und dem unrühmlichen Abgang des Exbundesratskandidaten Zuppiger herum. Ihr Vordenker Christoph Mörgeli ist als Universitätsdozent in der Kritik, der gealterte Übervater Christoph Blocher ist bloss noch ein Schatten seiner selbst und schlägt sich mit den juristischen Folgen der Hildebrand-Affäre herum. Und wo steckt eigentlich Toni Brunner?

Wie viel der linke Aufbruch wert ist, werden die kommenden Jahre zeigen: Einige sozialpolitische interessante Auseinandersetzungen – von der 1:12-Initiative bis zur Mindestlohninitiative – stehen an, die noch mehr Schwung bringen könnten.

Doch es wird sich auch die Frage stellen, ob ein Referendum gegen die Asylgesetzrevision, die der Ständerat diese Woche nur geringfügig entschärft hat, ergriffen werden soll. Es wäre erfreulich, ein solches würde nicht nur von migrationspolitischen Organisationen diskutiert, sondern auch von den grossen linken Parteien. Angesichts der sinnlosen Gängelung von Asylsuchenden, die neuerlich beschlossen wird, wäre ein Referendum vor allem eines: zutiefst realistisch.