Debatte: Den alten Mythen neue hinzufügen?

Nr. 38 –

Der Schriftsteller Alex Capus forderte in der WOZ, die Schweiz solle sich statt am Rütlimythos endlich an der Bundesstaatsgründung von 1848 orientieren. Der Historiker Hans Ulrich Jost antwortet.

Lieber Alex Capus, es mag ja sein, dass jedes Land, wie auch jeder Sport- oder Hasenzüchterverein, Mythen braucht, um sich seiner «Identität» (was mit diesem schwammigen Ausdruck auch immer gemeint sein mag) zu versichern. Die Schweiz hat also ihren Gründungsmythos, mit Tell (eigentlich erst von Schiller popularisiert), dem Bundesbrief und dem ganzen Brimborium, das am Ende des 19. Jahrhunderts im Geiste eines übersteigerten Nationalismus zusammengebastelt wurde. Aber ist es notwendig, diesen alten Mythen gleich neue hinzuzufügen?

Kriegsgewinne und Klassenkämpfe

So soll, Ihrer Meinung nach, die 1848 gegründete moderne Schweiz «von allen nationalstaatlichen Gründungen des 19. Jahrhunderts die erfolgreichste» sein. Welche Überheblichkeit! Die nachfolgende Beweisführung dieser Behauptung ist dann allerdings happig, eine regelrechte Neuerfindung von «modernen» Mythen.

Die Schweiz sei 1848 «ein mausarmes Agrarland ohne nennenswerte Rohstoffe» gewesen. In Wirklichkeit war die Schweiz damals das am weitesten fortgeschrittene Industrieland des Kontinents. «Mausarm» war zwar ein Teil der Bevölkerung, aber nicht die herrschende Wirtschaftselite und ihr politischer Anhang. Schon im 18. Jahrhundert hatte beispielsweise der Kanton Bern so grosse Kapitalanlagen im Ausland, dass mit den Zinsen dieser Anlagen die Hälfte der Staatsausgaben gedeckt werden konnten.

Die Schweiz habe sich «mit ihrer klugen und zuweilen opportunistischen Politik des Ausgleichs aus allen Kriegen und Klassenkämpfen» herausgehalten. Da haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass die Schweiz während der beiden Weltkriege massenweise Kriegsmaterial an die kämpfenden Mächte geliefert und mit happigen Krediten auch deren Kriege unterstützt hatte.

Die Schweiz ohne «Klassenkämpfe»? Da übersehen Sie, dass im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg die Schweiz, bezogen auf die Bevölkerungszahl, so viele und heftige Streiks erlebte, wie dies im Ausland der Fall war. 1918 kam es zu einem Landesgeneralstreik, weil ein Sechstel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebte und jene, die mit ihren Kriegsmaterialexporten Gewinne einstrichen, sich jeder vernünftigen Sozialpolitik widersetzten. Wo waren da, wie Sie schrieben, «Wohlstand und soziale Sicherheit»?

Geradezu lieblich ist die Bemerkung von der Schweiz als «sicherem Hafen für fremden Reichtum». Dabei handelte es sich zum grossen Teil um Geld, das dem Fiskus unserer Nachbarländer hinterzogen wurde und damit den Regierungen dieser Länder die für Schulen oder soziale Einrichtungen notwendigen Mittel entzog. Von den Vermögen von Potentaten und Kriminellen mag ich schon gar nicht sprechen.

Mit 1848 hätten «Neutralität, Friede, Wohlstand und soziale Sicherheit» Einzug gehalten. Zu jeder dieser Tugenden liesse sich ein sehr kritischer Kommentar schreiben. Doch nur so viel: Um 1900 hatte die Schweiz, bezogen auf die Bevölkerungszahl, nach England den höchsten Kapitalexport. Die Schweiz zählte also zu den Spitzenreitern unter jenen Ländern, die dank imperialistischer Politik Reichtum anhäuften. Der Historiker Werner Kaegi (kein Linker) hat einmal bemerkt, die Schweiz sei im Kielwasser der Kriegsschiffe der Grossmächte mitgefahren.

Auf die Utopie besinnen

Zum Schluss eine versöhnliche Bemerkung. Ich bin mit Ihnen einig, dass man sich heute vermehrt auf «die Ideale von 1848» berufen soll. Es war eine grosse Leistung der Männer dieser Zeit (die Frauen hatten bekanntlich in der Politik noch lange nichts zu suchen), in nur acht Wochen die neue Bundesverfassung zu schaffen. Mit Zielsetzungen, die in jener Zeit nicht nur revolutionär, sondern zum Teil utopisch anmuteten. Auf diesen Geist mag man sich besinnen – aber, bitte, keine neuen Mythen produzieren.

Hans Ulrich Jost ist emeritierter Geschichtsprofessor in Lausanne. Alex Capus’ Text erschien in WOZ Nr. 36/12 (tinyurl.com/wozcapus). Eine weitere Reaktion findet sich auf dem Blog des Ökonomen Gian Trepp (www.gian-trepp.ch).