Zu Besuch in der alten Heimat Somalia: «Die Leute sind froh, dass Baulärm die Schiessereien abgelöst hat»

Nr. 38 –

Mehr als zwanzig Jahre lang machten Kriegsgewalt und Not den BewohnerInnen von Mogadischu das Leben zum Albtraum. Endlich herrscht wieder so etwas wie Frieden in der somalischen Hauptstadt – und viel Aufbruchstimmung.

Statt von der Schweiz über die Türkei direkt in die somalische Hauptstadt Mogadischu zu fliegen, wähle ich die Route via Dubai und Berbera in Somaliland. Denn auf dem Rückweg will ich auch dieses somalische Gebiet besuchen, das sich als unabhängiger Staat versteht, aber von keinem anderen Land anerkannt wird. In Berbera steigen einige Passagiere aus der Gegend zu, darunter drei etwa zwanzigjährige Männer, die zum ersten Mal in einem Flugzeug sitzen. Sie wollen mich über Mogadischu ausfragen, denn sie sind auf dem Weg dorthin, um Arbeit zu suchen. Ihr Ziel sei Bakara, ein grosser Markt, wo eine ihrer Verwandten arbeite. Ich muss ihnen gestehen, dass ich zwar in Mogadischu geboren und aufgewachsen, aber heute dort fremd bin. Dass sie für die Einreise in Mogadischu keinen Pass brauchen, zeigt, dass Somaliland und Somalia noch immer verbunden sind.

Dann die Landung auf dem Flughafen von Mogadischu, ein erhebendes Gefühl. Mit meinem Schweizer Pass muss ich ein Einreiseformular ausfüllen und fünfzig US-Dollar für das Visum bezahlen. Der Zollbeamte fragt mich, ob ich einen Stempel wolle. Aber sicher! Meine Reise an den Ort, wo ich geboren bin, dient nicht wie bei etlichen anderen Reisenden zwielichtigen Geschäften. Und schon erkenne ich Gesichter, einen ehemaligen Nachbarn, der jetzt am Flughafen arbeitet, einen prominenten Fussballspieler, die ehemalige Nummer 10 der somalischen Nationalmannschaft, und den angesehenen Journalisten Dahir Alsu. Er ist verletzt, seine Begleiter wollen ihn nach Nairobi zur Behandlung bringen. Alsu arbeitet für den populären Privatfernsehsender Universal, Mitglieder der al-Schabab haben ein Attentat auf ihn verübt und ihn angeschossen. Journalistinnen, Polizisten und Mitarbeiterinnen der Regierung sind dem grössten Risiko ausgesetzt.

Vor dem Flughafengebäude warten meine Verwandten, ich benötige keines der Taxis, deren Fahrer auf Kundschaft hoffen. Es ist schön, von Verwandten abgeholt zu werden, man darf nur nicht mit leeren Händen kommen. Fürs Erste werde ich im Haus meines Onkels wohnen, das in dem Quartier steht, in dem ich aufgewachsen bin. Das Viertel hiess früher War Dhiigley, was «Ort des Blutes» bedeutet. Die Behörden haben es in War Nabad umbenannt, «Ort des Friedens». Gerne hätte ich im Haus meiner Eltern gewohnt, in dem ich mit meinen sieben Geschwistern aufgewachsen bin. Doch da leben jetzt andere Leute. Das ist ein brennendes Thema in Mogadischu, viele RückkehrerInnen finden die Häuser, in denen sie früher lebten, besetzt vor – und können nichts dagegen tun.

Die erste Friedenskonferenz im Land

Auf meinen ersten Spaziergängen durchs Quartier stelle ich fest, wie stark es sich in den acht Jahren, in denen ich nicht mehr hier war, verändert hat. Ich finde mich ohne Begleitung nicht zurecht. Viele neue Häuser sind gebaut worden, an gewissen Stellen hat die Erosion tiefe Gräben aufgerissen. Doch War Nabad ist wie viele andere Gegenden dieser Stadt mit drei Millionen EinwohnerInnen ein ganz normales Quartier, anders als das zerstörte Zentrum. Ich komme am Schulhaus vorbei, wo ich die Mittelschule absolviert habe. In der Nähe setze ich mich in ein Café und treffe viele alte Bekannte. Von einigen weiss ich nicht sogleich den Namen, während sie sich an meinen erinnern. Es ist mir peinlich, und sie denken vielleicht, ich sei arrogant. Mit einem der Männer hatte ich vor dem Bürgerkrieg Briefkontakt, wir schickten einander Fotos. Im Gespräch erinnert er mich daran, dass wir damals ziemlich eng befreundet waren; trotzdem habe ich seinen Namen vergessen. Ein anderer erzählt mir, dass er acht Mal mit seiner Familie aus Mogadischu geflüchtet und immer wieder zurückgekehrt sei. Viele haben geheiratet und sind weggezogen. Einige sind jetzt zwar wieder zurückgekommen, haben aber ihren Wohnsitz in England, Schweden oder in den USA nicht aufgegeben. Sie haben jetzt etwas Geld, um das Haus ihrer Familie in Mogadischu zu renovieren. Im Café treffe ich nur Männer, aber in den kleinen Geschäften und beim Coiffeur an der Quartierstrasse begegne ich auch Frauen.

Schon am ersten Tag gehe ich ins Informationszentrum der Verfassungskonferenz, die eigentlich der Hauptgrund war, um nach Mogadischu zu reisen. Es ist die erste Friedenskonferenz, die auf somalischem Boden stattfindet. In den 21 Jahren seit dem Sturz des Siad-Barre-Regimes hat es fünfzehn Somalia-Konferenzen gegeben, aber alle fanden im Ausland statt. Jetzt sind 825 Delegierte aus allen Bevölkerungsgruppen in der Hauptstadt anwesend, um neun Tage lang über eine neue Verfassung zu diskutieren und abzustimmen. Schon in Zürich habe ich die Debatten über die Verfassung auf dem somalischen Fernsehsender Universal mitverfolgt und mit somalischen Kollegen darüber diskutiert. Jetzt will ich miterleben, wie die neuen PolitikerInnen in Mogadischu debattieren, und lasse mich deshalb als Journalist akkreditieren. Wichtig ist für mich auch, meinen Landsleuten in Zürich darüber berichten zu können.

Beim Hinausgehen weist mich ein Sicherheitsbeamter an, den Akkreditierungsausweis nicht offen um den Hals gehängt zu tragen, sondern ihn unter dem Hemd zu verbergen. Jede Woche hört man von einem Journalisten, der ermordet oder verletzt wurde oder fliehen musste. Die JournalistInnen sind oft jung, gut ausgebildet und machen gute Arbeit. Es läuft viel im Mediengeschäft. Das staatliche Radio und Fernsehen hat ein 24-Stunden-Programm, die acht privaten Fernsehkanäle senden von achtzehn Uhr bis drei Uhr morgens. Daneben gibt es vierzig private Radiostationen und sieben regelmässig erscheinende Zeitungen.

Für mich ist die journalistische Arbeit vom War-Nabad-Quartier aus schwierig, da es weit vom Konferenzort entfernt ist und mein Onkel über keinen Internetanschluss verfügt. Aus Sicherheitsgründen will ich abends den weiten Weg dahin nicht alleine zurücklegen. Nach drei Tagen wechsle ich ins Hotel. Es ist alles andere als einfach, eine Unterkunft zu finden. Viele Somalier aus der Diaspora kommen nach Mogadischu, sie wollen mit eigenen Augen sehen, was hier vor sich geht.

Der Kampf der Frauen

Die Verfassung, die am 1. August mit 621 Ja- und 13 Nein-Stimmen bei 11 Enthaltungen angenommen worden ist, entspricht nicht genau meinen Vorstellungen. Sie ist aber auch noch nicht definitiv. Das neue Parlament wird weiter daran arbeiten und sie dann der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen. An der Konferenz haben mir die Frauen besonders gefallen. Immer wieder haben sie das Wort ergriffen und gefordert, dass im neuen Parlament mindestens dreissig Prozent Frauen vertreten sein müssen. Ihre Forderung wurde allerdings nicht in die Verfassung aufgenommen, die Delegierten erkannten sie aber dennoch als berechtigt an. In den letzten zwanzig Jahren haben die Frauen von Mogadischu einiges erreicht und sind heute in den Nichtregierungsorganisationen, Schulen und Universitäten tätig. Viele sind in der Öffentlichkeit bekannt geworden und wollen jetzt auch in der Politik akzeptiert werden. In der somalischen Stammeskultur haben jedoch seit jeher die Männer das Sagen; Frauen haben keinen Zugang zu den Stammesführern. So kommt es nur selten vor, dass ein Stammesführer eine Frau zur Parlamentarierin ernennt. Im heutigen Parlament mit 275 Mitgliedern gibt es weniger als dreissig Frauen.

Unter den Delegierten der Verfassungskonferenz sind viele altbekannte Persönlichkeiten, ehemalige Politiker und hohe Militärs. Einige davon kenne ich und kann mit ihnen diskutieren. Ein junger Mann beeindruckt mich: der 32-jährige Mohamed Ali. Er ist Bürgermeister des Bezirks Hamar Jadid in Mogadischu und vertritt seine Verwaltungseinheit an der Verfassungskonferenz. Er hat Mogadischu in all den Jahren des Kriegs nie verlassen und hat hier studiert. Wohl deswegen habe er die Stelle bekommen, vermutet er. Mehrere seiner Vorgänger sind ermordet worden. Er habe sich in den letzten zwanzig Jahren an das Risiko gewöhnt, getötet zu werden, meint er lakonisch.

In den Strassen von Mogadischu hört man überall das Hämmern und Klopfen der ArbeiterInnen, die die Häuser reparieren oder aufbauen. Die Leute sind froh, dass Baulärm die ständigen Schiessereien abgelöst hat. Sie sagen, das sei das neue Mogadischu. Selber habe ich keine Schiessereien gehört, die Stadt strotzt aber vor Waffen, und viele Leute trauen sich nur mit Bodyguards auf die Strasse. Zum neuen Mogadischu gehört auch eine Frauenbrigade, die die Strassen wischt – bezahlt vom Welternährungsprogramm. Die breite Maku-al-Mukarama-Strasse ist nachts beleuchtet; dafür sorgen solarbetriebene Strassenlaternen. Die Truppen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom) sind mit ihren zum Teil gepanzerten Fahrzeugen vor allem am Flughafen und im Regierungsviertel präsent, an anderen Orten patrouillieren sie eher selten. Früher hielt ich sie für eine Besatzungsmacht. Im direkten Kontakt mit Soldaten der Amisom erlebe ich aber, dass sie uns SomalierInnen korrekt und mit Respekt behandeln. Somalische Polizisten dagegen benehmen sich den Leuten gegenüber von oben herab und haben deshalb auch keinen guten Ruf. Es heisst, sie verlangten Bakschisch.

Ärztinnen und Strassenkinder

Die meisten Leute, die auf der Strasse herumlungern, sind Männer. Die Frauen bemühen sich darum, kleine Geschäfte zu machen, indem sie Waren auf dem Markt verkaufen. Viele Männer kommen mit ihrer schwierigen Lage nicht zurecht und sind nicht bereit, eine einfache Arbeit zu verrichten. Sie haben keine Hemmungen, zu betteln. Der Bruder eines somalischen Bekannten in Zürich, den ich zufällig traf, hat sich einen Esel beschafft und verkauft damit Trinkwasser im Quartier. So könnten er und seine Familie leben, sagt er. Die Menschen versuchen, ihr Leben weiterzuführen, trotz der Schicksalsschläge, trotz ihrer Traurigkeit. Einige hoffnungsvolle Jugendliche schliessen ihre Schulausbildung oder ihr Studium ab. Vielen helfen Verwandte im Ausland mit Geld, denn die Schulen und die fünfzehn Universitäten, in denen Ärztinnen, Juristen, Informatikerinnen und Journalisten ausgebildet werden, sind privatisiert und deshalb kostenpflichtig. Daneben gibt es Strassenkinder, viele jünger als zehn Jahre alt, die Leim schnüffeln. Niemand kümmert sich um sie.

Mit einem Minibus fahre ich zum somalischen Nationaltheater. Als Jugendlicher war ich oft dort, es war Teil meines Lebens. Die 3000 Somalia-Schilling fürs Fahrgeld, knapp zwanzig Rappen, klaube ich aus einem dicken Bündel Noten und muss aufpassen, dass diese nicht zerbröseln. Sie stammen noch aus der Zeit des Siad-Barre-Regimes. Man kann aber auch per Handy bezahlen. Das Theater und die somalischen Dichter waren den EinwohnerInnen von Mogadischu sehr wichtig. Sie erzählten die Geschichte des Landes und von seinen Bräuchen, berichteten vom Nomadenleben und von Heiratszeremonien.

Ich bin in der Stadt aufgewachsen und kein guter Geschichtenerzähler. Die Nomaden aber wissen, wie das geht. In den siebziger Jahren war das Theater der Nomaden aus dem Norden und dem Zentrum Somalias beliebt. Aber es war kritisch, und Siad Barre ging gegen die Autoren vor. In den Achtzigern kamen die Benadir, EinwohnerInnen von Mogadischu, und führten Stücke über Familie und Liebe auf, im Stil von heutigen indischen Filmen. Die StadtbewohnerInnen mochten das sehr. Es kam vor, dass ein Stück einen ganzen Monat lang jeden Abend ausverkauft war. Durch die Umwälzungen 1991 wurde das Theater geschlossen und erst dieses Jahr im März wiedereröffnet. Die Darbietungen finden jetzt unter freiem Himmel statt, weil das Dach zerstört ist.

Das Lied von der Morgendämmerung

Kurz vor meiner Rückreise werde ich vom somalischen Nationalradio zu einem Interview eingeladen. Dieses Radio gibt es noch immer, obwohl US-Kampfhelikopter das Studio im Kampf gegen die Milizen von Hussein Aidid in den neunziger Jahren teilweise zerstört haben. Die Archive sind aber nicht getroffen worden, und so haben die alten Tonbänder überlebt. Ich finde dort ein Lied des Dichters Mohamed Hassan, den ich persönlich gekannt habe und dessen Gedichte ich liebe. Die Radioleute spielen es mir vor: Es handelt von der Morgendämmerung und dem Sonnenaufgang, was Hassan mit einer Frau vergleicht.

Im Interview werde ich über Föderalismus befragt, da dieser in der neuen Verfassung verankert ist und auch die Übergangsregierung den Begriff in ihrem Namen trug. Die SomalierInnen sind sich dieses politische Konzept nicht gewöhnt. Ich spreche über den schweizerischen Föderalismus, doch Somalia mit seinen sieben Millionen EinwohnerInnen ist nicht die Schweiz, und auch die somalischen PolitikerInnen sind anders als die schweizerischen. Die Leute sind kriegsmüde. Die Frage, ob da der Föderalismus ein Weg zum Frieden oder vielmehr einer zu weiteren Konflikten wäre, lasse ich offen.

Mitarbeit: Ruedi Küng

Bashir Gobdon

Der seit 24 Jahren in der Schweiz wohnende Bashir Gobdon (42) lebte bis zum Abschluss des Gymnasiums in Mogadischu. Als Präsident Barre die StudentInnen für seinen Krieg gegen Somaliland rekrutierte, floh der Achtzehnjährige – und blieb wegen des somalischen Bürgerkriegs in der Schweiz.

Bashir Gobdon ist unter anderem bei Sendungen des Zürcher Radios Lora als Vermittler zur somalischen Gemeinde tätig und engagiert sich beim Förderverein Neue Wege, der in Merka südlich von Mogadischu eine Krankenstation und eine Primar- und Sekundarschule unterhält und Jugendliche beim Studium oder beim Erlernen eines Handwerks unterstützt.