Rückkehr nach Somaliland: Eine Reise mit Risiko
Viele junge Leute wollen nur noch weg aus ihrer Heimat – andere zieht es zurück ans Horn von Afrika. Unterwegs in einem Staat, den es offiziell gar nicht gibt.
Xaaxi, ein Dorf im Osten der unabhängigen Republik Somaliland. Eine Sandstrasse führt dorthin, von der Provinzstadt Burao aus sind es drei Stunden im Geländewagen, vorbei an Kamel- und Ziegenherden und an Siedlungen von NomadInnen in der schier endlosen Steppe. In einem Kreis auf dem Boden sitzen junge Männer zusammen. Sie alle wollen weg. Ihr Ziel: Deutschland. Weder die Gefahr unterwegs noch die Sorgen der Eltern oder die ungewisse Zukunft können sie aufhalten. «Ich werde es schaffen», meint der achtzehnjährige Abdul. «Inschallah», so Gott will. Die Einwände, dass niemand in Europa auf sie gewartet habe und sie dort auch nicht arbeiten dürften, werden mit einem Lachen übergangen. Sie hätten «Freunde» auf Facebook, die es geschafft haben. Die aus ihrem neuen Leben geposteten Bilder zeigten: Ihnen gehe es gut.
«Tahreeb» heisst das, was sie vorhaben, auf Arabisch. Eine Reise mit Risiko. Und Tahreeb ist am Horn von Afrika in aller Munde. Im Nachbardorf Harasheik sitzen die Dorfältesten zusammen. Fünfzehn junge Männer aus der kleinen Gemeinde seien allein letztes Jahr gegangen, erzählen sie. «Jede Familie hier ist davon betroffen.» Unterwegs im Sudan und in Libyen werden viele von Banden festgehalten, die 10 000 US-Dollar und mehr als Lösegeld verlangen. Eltern verkaufen ihr Haus und ihr Vieh, leihen sich von Nachbarn, Freundinnen und Verwandten Geld, damit der Sohn freikommt und seine Reise nach Europa fortsetzen kann.
«Balkanisierung» am Horn von Afrika
Eine 65-jährige Frau aus Harasheik sitzt in ihrer kahlen Hütte auf dem Boden und erzählt vom harten Leben in dieser kargen Gegend. Sie verstehe die Entscheidung ihres Sohns und der anderen jungen Leute, sagt sie. «Es gibt hier keine Arbeit. Somaliland ist international nicht anerkannt, das behindert die Entwicklungsmöglichkeiten und das Wachstum.»
Die Republik Somaliland hat eine eigene Währung, eine eigene Verfassung, eine Nationalhymne, eigene Pässe, eine demokratisch gewählte Regierung. Doch an den Traum von der Unabhängigkeit glauben viele junge Leute schon lange nicht mehr. Sie wollen nur noch weg. Während Somalia im Bürgerkrieg versank, schaffte es Somaliland praktisch ohne Unterstützung von aussen, ohne Kredite und mit sehr wenig Entwicklungshilfe, eine einigermassen stabile Demokratie einzurichten. Heute ist das Land praktisch schuldenfrei. Die Mehrheit der EinwohnerInnen ist zwar arm, aber mit dem Elend der umliegenden Länder lassen sich die Lebensumstände in Somaliland nicht vergleichen.
Warum Somaliland international nicht anerkannt wird, versteht vor Ort kaum jemand. Doch sowohl in Europa und den USA wie auch in den benachbarten Staaten Äthiopien, Kenia und Dschibuti wird eine Abspaltung Somalilands vom Rest des Landes abgelehnt. Westliche DiplomatInnen erklären, man befürchte eine «Balkanisierung» des Horns von Afrika, falls man dem Anliegen Somalilands zustimme. Die Regierung in Mogadischu will ebenfalls von einer Abspaltung des Gebiets, das das ehemalige britische Protektorat umfasst, nichts wissen. Mit seinen 137 000 Quadratkilometern ist Somaliland etwa dreimal so gross wie die Schweiz, mit geschätzten dreieinhalb Millionen EinwohnerInnen allerdings deutlich dünner besiedelt.
Von Hargeysa nach London
An die Zukunft der faktisch autonomen Republik am Horn von Afrika glauben vor allem die vielen RückkehrerInnen aus der somalischen Diaspora. Sie unterstützen das Land aus der Ferne schon lange. In Hargeysa, der Hauptstadt Somalilands, ist eine Aufbruchstimmung zu spüren – vor allem wegen der Menschen, die nach langen Jahren im europäischen Exil ins Land ihrer Kindheit oder ihrer Eltern zurückgekommen sind. Sie investieren und wollen beim Aufbau helfen – auch die 44-jährige Sucaad Odowa, die in Hargeysa geboren ist. Nach der Bombardierung der Stadt durch die somalische Luftwaffe 1988 war ihre Familie über Äthiopien nach London geflohen. Von dort aus unterstützte Odowa FreundInnen und Verwandte daheim. 2012 kehrte sie nach Hargeysa zurück, um dort ein Restaurant zu eröffnen. «Mir hat in London immer etwas gefehlt», sagt sie. Nun sei sie hier, um etwas zurückzugeben. «Ich habe 23 Angestellte, die jetzt einen Job haben und ihre Familien unterstützen können.» Odowa hat bereits Pläne für weitere Restaurants in Hargeysa, Berbera und Burao. Sie will damit auch ein Zeichen gegen Tahreeb setzen.
Hodan Elmi, 38 Jahre alt, wurde in London geboren. «Meine Eltern haben immer von ihrer Kindheit in Hargeysa geschwärmt», erzählt sie. 2007 kam Elmi mit ihrem Mann und ihren Kindern in die Stadt ihrer VorfahrInnen, eigentlich nur für ein Jahr. Doch sie fand Arbeit in einer Frauenrechtsorganisation und entschied sich zu bleiben. «Ich mochte meinen Job, die Menschen hier, die Kultur – und vor allem, dass sich meine Kinder in der alten Heimat so gut eingelebt haben.» Sie spricht von der Grossfamilie mit Onkel und Tanten. Ihre Kinder lernen Somali und Arabisch. «Die Familie fühlt sich in Somaliland wohl», sagt sie zufrieden.
Seit ein paar Jahren organisiert Hodan Elmi für ein internationales Hilfswerk Fortbildungskurse für Mädchen und junge Frauen. Dabei komme die Diskussion oft auf Tahreeb. Oft sagen die jungen Frauen, sie habe es leicht mit ihrem britischen Pass und könne jederzeit gehen. Sie hingegen könnten das Land legal nicht verlassen, weil kein anderer Staat die Pässe Somalilands anerkenne. Elmi erzählt dann von sich, von ihrer Entscheidung, mit ihrer Familie nach Somaliland zu ziehen, von den Möglichkeiten, mitzuhelfen, einen noch jungen Staat aufzubauen. «Ich sage ihnen aber auch, wie es ist als schwarze Frau und Muslima in Britannien. Von Fremdenfeindlichkeit und der Angst der Menschen vor dem Islam.»
Hodan Elmi vermisst in Somaliland eine offene Diskussion über Emigration. Sie erkenne, dass junge Leute kaum eine berufliche Zukunft hätten und die Jugendarbeitslosigkeit hoch sei. Sie verstehe die Hoffnungslosigkeit der jungen Generation. Dennoch könne die Flucht nach Europa keine Lösung sein.
«Die Jugend rennt weg»
Das benachbarte Puntland, direkt am Horn von Afrika gelegen, hat ähnliche Probleme. Und doch ist die Situation anders. Puntland ist eine semiautonome Region Somalias. Zwar mit eigener Regierung, aber man sieht sich langfristig – anders als Somaliland – als Teil eines geeinten Somalia. Über Tahreeb wird auch hier viel gesprochen. Jamal Hassan Darod ist der Vorsitzende der Somali Youth Network Association, hat fünf Jahre in Uganda studiert, findet aber keinen bezahlten Job in seinem Heimatland. Der 27-Jährige lebt wieder bei seinen Eltern, arbeitet ehrenamtlich, um Berufserfahrung zu sammeln. Die Familie hat grosse Hoffnungen in ihn gesetzt, ein Onkel finanzierte sein Studium im Ausland. Darod kennt die Probleme der Jugendlichen: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Ausbildungsmöglichkeiten begrenzt, Hoffnung auf ein besseres Leben hat diese Kriegsgeneration kaum. «Viele gehen ins Ausland, nach Europa – auch um einen zweiten Pass zu erhalten. Nur damit kommt man hier an einen Job», sagt er. «Als ich mich das letzte Mal auf eine Stelle bewarb, fragte man mich, ob ich einen zweiten Pass habe. Ohne hätte ich keine Chance.»
An der Puntland State University sitzt eine Runde Studierender zusammen. Die jungen Männer und Frauen betonen alle, dass sie nicht wegwollen, dass sie in Puntland ihre Zukunft sehen. Eine von ihnen ist die neunzehnjährige Sozialwissenschaftsstudentin Samira Gamadiid*. Ihren Bachelorabschluss will sie hier in Garoowe machen, für den Master nach Indien gehen oder in die Türkei. Aber auch sie sieht ihre Zukunft hier in Puntland. «Ich komme zurück.» Als der Krieg ausbrach, floh die Familie nach Kenia. Vor ein paar Jahren kamen Samira Gamadiid, ihre Mutter und ihre Geschwister zurück nach Garoowe. Für die Ausbildung der Tochter war kein Geld da. Die junge Frau eröffnete mit ihrer Mutter einen kleinen Laden und Imbiss. Davon finanziert sie nun ihr Studium. Sie arbeitet hart, jeden Tag bis spät in die Nacht.
Der Schlüssel für die Zukunft Puntlands und Somalilands liege in der Bildung, unterstreicht Abdullah Aledou, Professor für Verwaltungswissenschaften an der Puntland State University. Aber man studiere hier an der Realität vorbei. Fast achtzig Prozent hätten sich für Sozialwissenschaften, Wirtschafts- und Verwaltungsfächer eingeschrieben. «Es gibt kaum Unternehmen hier, die den Studenten anschliessend Jobs anbieten könnten», weiss Aledou. Man brauche AbsolventInnen in Landwirtschaft, Fischerei und Tiermedizin. Das seien die Kernbereiche der somalischen Wirtschaft. «Und wir brauchen Ingenieure, die das Land nach dem Krieg wieder aufbauen.» Aledou sieht viele seiner StudentInnen das Land verlassen. Sie hoffen auf einen Job, eine bessere Zukunft im fernen Europa. «Die Situation ist ernst, die Jugend rennt weg», sagt er.
* Name von der Redaktion geändert.
Staat ohne Anerkennung
Die Bundesrepublik Somalia entstand 1960 nach dem Zusammenschluss der unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien Britisch- und Italienisch-Somaliland. Seit einem dreijährigen Bürgerkrieg und dem Sturz von Präsident Siad Barre 1991 gibt es in Mogadischu keine funktionierende Zentralregierung mehr – mehrere Regionen spalteten sich ab und sehen sich heute als autonome und selbstverwaltete Teilstaaten, darunter Puntland im Nordosten des Landes.
Somaliland im Nordwesten dagegen rief 1991 die Unabhängigkeit aus. Doch bis heute hat kein anderer Staat die Republik Somaliland völkerrechtlich anerkannt. «Ein Infragestellen der Grenzen Somalias oder irgendeines anderen Staates in der Region – aus welchen Gründen auch immer – wäre der Stabilität des Horns von Afrika abträglich und hätte Konsequenzen weit über die Frage dieser einen Grenze hinaus», heisst es beim deutschen Aussenministerium. BürgerInnen des Landes haben deshalb keine international anerkannten Papiere und können ohne zweite Staatsangehörigkeit nur illegal ins Ausland reisen.