Mit der WOZ auf Kaffeefahrt: Unter gelernten Geiern

Nr. 39 –

Hinter dem harmlosen Begriff «Kaffeefahrt» verbirgt sich ein gewieft inszenierter Schwindel. Obwohl die «Werbefahrten mit Gewinnversprechen» in der Schweiz seit dem 1. April 2012 verboten sind, fuhr WOZ-Autorin Karin Hoffsten kürzlich mit.

Der Morgen scheint wie gemacht für «eine romantische Carfahrt zum Rheinfall». Die Sonne strahlt über dem Carparkplatz, dieser Riesenasphaltfläche an Zürichs bester Lage, nur durch eine Strasse vom Flüsschen Sihl getrennt. Es ist halb acht. Gut gelaunt kommt Anna auf mich zu, sie wird mich begleiten. Eingeladen hat mich die Vilsana AG in Mettau, nicht zu verwechseln mit der Krankenversicherung Visana. Im Brief wird mir versichert, weil ich einen «3. Preis» gewonnen hätte, bekäme ich am Rheinfall 3000 Franken in bar. Der gleiche Brief kam schon mal von einer «Zervartis AG», vermutlich hat die Firma noch andere Namen. Jetzt will ich wissen, wer so was verschickt.

Der Platz leert sich, ein Reisecar nach dem andern verschwindet ohne uns. Inzwischen ist es acht. Nur noch ein paar ältere Leute stehen da, wir kommen ins Gespräch. Ja, sie wollen auch zum Rheinfall. Alle haben den gleichen Brief bekommen, aber dass es jetzt 3000 Franken bar auf die Hand gibt, glaubt hier niemand.

Eine schwarz gekleidete Dame erzählt, nach dem Tod ihres Mannes könne sie nicht den ganzen Tag in der Wohnung hocken, sie müsse unter Leute. Herr X klärt uns auf: «Ich bin schon oft da mitgefahren, die fahren gar nicht an den Rheinfall über Neuhausen, die fahren oben rum übers Schloss – da sieht man den Rheinfall gar nicht!» Auch er ist froh, wenn er mal rauskommt. Inzwischen ist es zwanzig nach acht. Eine andere Dame, sie geht an Krücken, wedelt kampfbereit mit einem Zeitungsausschnitt der NZZ: «Wenn die jetzt nicht kommen, geh ich grad zur Polizei!» Im Artikel steht, die Schweizer Behörden wollten den betrügerischen Kaffeefahrten ein Ende setzen.

Herr Y hat sich was einfallen lassen: Auf die Rückseite seines Gewinnbriefs hat er folgende Worte gedruckt: «Hiermit bestätigen wir, dass Y am Zielort garantiert 3000 Franken ausbezahlt erhält.» Ort, Datum, Unterschrift. «Das geb ich denen, wenn sie kommen», erklärt er, «wenn die nicht unterschreiben, fahr ich nicht mit!» Herr Z wiederum ist nur Begleitperson, den Brief mit dem angekündigten Gewinn habe eine gehbehinderte Bekannte erhalten. Er will den Chauffeur fragen, in welches Lokal am Rheinfall die Fahrt denn gehe, damit er die Dame im Auto hinterherfahren könne.

Als der Bus um halb neun eintrifft, bekommt Herr Y keine Unterschrift, denn mit den Organisatoren habe er nichts zu tun, sagt der Chauffeur, und Herr Z kann nicht mit der Dame hinterherfahren. Das Reiseziel kenne er nicht, behauptet der Chauffeur, er werde unterwegs angerufen, in welchem Restaurant für die vielen Gäste genug Platz sei, das müsse er dann ansteuern. Die beiden Herren bleiben draussen, wir andern steigen ein.

Im Car sitzen schon mehr als zwanzig Leute, die vor uns eingesammelt wurden, darum die Verspätung. Der Chauffeur erklärt, wie wir die Sitze verstellen können und wo das WC ist. Doch kaum haben wir uns gemütlich eingerichtet, hält der Car wieder. Wir sind in Wettingen im Aargau. «Jetzt gibts Frühstück!», ruft der Chauffeur und reicht den weniger Beweglichen beim Aussteigen galant die Hand. Die Karawane bewegt sich ins Restaurant Winkelried.

Im Säli sind lange Tische gedeckt, an jedem Platz Messer und Gabel, in Servietten eingerollt, in der Mitte stehen diverse Süssgetränke, ungekühlt, und ein paar Gipfeli. Es ist kurz nach neun. Die Wirtin fragt, wer Kaffee möchte.

«Hier bleiben wir jetzt», sagt Herr X, der ja bereits Kaffeefahrterfahrung hat. «Hä?», frage ich perplex, «hier? Es ist doch erst neun!» – «Schauen Sie das Besteck an, das ist fürs Mittagessen», erklärt er mir. Wenn er gewusst hätte, dass es nur bis Wettingen geht, wäre er zu Hause geblieben: «Ich dachte, es geht wenigstens bis zum Schloss!»

Noch glaube ich ihm nicht ganz. Das Säli verströmt den Charme eines Provinzbahnhofs an jahrzehntelang stillgelegter Strecke, die Fenster sind bis auf eines verrammelt, die Läden zu. In uralten Schränken wittern die Fahnen der Wettinger Gesangsvereine vor sich hin. Es müffelt. Draussen leuchtet der herrliche Morgen. Ich fasse es nicht.

Der Kaffee kommt. Auf dem Weg zur Toilette frage ich einen Herrn, der zum Team gehören muss, wie es weitergeht. Er blockt ab: «Sie kriegen gleich alles erklärt!» Er kommt nicht aus der Schweiz. Als ich zurückkomme, überlegt der enttäuschte Herr X, ob er mit dem Zug wieder heimfahren soll, doch er scheut die Fahrtkosten.

Auftritt: Der Bernd

Bernd ist um die vierzig, etwas übergewichtig und sieht aus, als sei er lange und freiwillig bei der Bundeswehr gewesen. Er trägt ein Headset mit Mikrofon wie ein Popstar. Schon jetzt schwitzt er stark. Er erklärt, er komme aus dem Städtchen Aurich in Ostfriesland und verbittet sich – haha! – Ostfriesenwitze. Seine Kollegen seien der Rico und der Sämi, ebenfalls aus Norddeutschland.

Dann redet Bernd. In verbindlichem Ton, doch ohne Pause, wie ein Automat im Schnelllauf. Er artikuliert ü-ber-deut-lich, mit norddeutschem Einschlag, weshalb er «Beand» sagt oder «featich» statt «fertig». Zwischenfragen an «seine Gäste» sind rhetorisch, für Antworten lässt er keine Lücke. Nichts ist echt, jeder Scherz, jede Emotion ist exakt gesetzt. Vermutlich kommt er weder aus Aurich, noch heisst er Bernd. Wie sich im Verlauf des Tages alles, was er und seine Begleiter von sich geben, als Camouflage erweisen wird; ein schamloses Spektakel der Irreführung, Täuschung und Tarnung wird für uns inszeniert.

Inzwischen habe ich meinen Fotoapparat ausgepackt. Schon nach dem zweiten Knips beugt sich Rico von hinten über mich: «Jetzt keine Fotos bitte!» Sehr höflich sagt er das, ich stecke den Apparat weg. Nach halbstündiger Aufzählung von «Sponsoren», neckischem Geplauder und grosszügiger Verteilung von Geschenken – ein Messerset hier, eine Kaffeemaschine dort, eine Gesichtscreme da drüben – fragt eine Dame: «Wann fahren wir zum Rheinfall?»

Nach einem kurzen Seitenblick sagt Bernd scharf: «Wenn ich hier fertig bin!» Die Dame schweigt. «Okay?», fährt er fort, «bleibt Ihnen auch nichts anderes übrig. So ist es.» In nicht mehr ganz so entspannter Atmosphäre verschenkt er noch einen Staubsauger. Dann gibt er den Tarif durch.

Eine Viertelstunde lang empört er sich über «Sachen, die ich so nicht kenne und ganz ehrlich so auch nicht mehr akzeptieren möchte». Jeden Tag habe er «mit diesem Problem zu kämpfen, dass ich Gäste in meinem Saal sitzen habe, wissen Sie, die steigen morgens in meinen Bus ein, kommen hierher, setzen sich hierhin, aber obwohl die mich nicht kennen, obwohl die gar nicht wissen, wie ich meine Arbeit mache, haben diese Menschen mir gegenüber und gegenüber vielem, was ich hier mache, eine derart negative Einstellung, das passt manchmal auf keine Kuhhaut». Das Publikum sitzt erstarrt, zum Rheinfall wollen ja alle. «Wer hierherkommt und mit seiner Einstellung andere Menschen noch ansteckt, damit ich es hier vorne umso schwerer habe», hadert Bernd, «auf solche Leute kann ich gut und gerne verzichten.» Doch wenn wir mit ihm an einem Strang ziehen, wird er uns «heute hier eine Show liefern, die haben Sie so noch nie erlebt». Was sich als wahr erweist, am Mittag wird er fast vier Stunden auf uns eingeredet haben.

Wir haben gewonnen!

Doch noch ist lange nicht Mittag. Dass wir besser nicht nach dem Rheinfall fragen sollten, wissen wir jetzt – aber was ist mit den Preisen, den 3000 Franken? Ein Mutiger fragt danach. «Junge – Junge – Junge», sagt Bernd gedehnt, «wenn Blicke töten könnten. Aber ich kann es nicht leiden, wenn alle fünf Minuten jemand zu mir nach vorn kommt, mich am Hemdärmel zupft und sagt: ‹Ey, du da, wann kriegen wir dies, wann kriegen wir jenes, wann zahlst du jetzt endlich die 3000 Franken aus?›» Auf den Einladungsbriefen zeigt er uns dann «vernünftig ordentlich», dass uns eine solche Summe sicher nie versprochen worden sei: Klitzeklein steht irgendwo «Rubbellosempfänger» und die Betreffzeile, die die «Übergabe Ihres 3. Preises» verspricht, endet mit einem Fragezeichen. «Aber», sage ich, «im Brief steht doch wörtlich mit einem Punkt am Ende der Satz: ‹Der Bargeldgewinner, Frau Hoffsten Walser, erhält garantiert 3000 Sfr. in BAR ausgezahlt.›» Einen Brief lese man schliesslich von oben, blafft Sämi. Bernd will «für den Rest des Tages nichts mehr davon hören».

Dafür kriegen wir was zu hören. Konzertreif. Forzando: «Ich will und ich kann es nicht glauben, dass es tatsächlich Menschen gibt, die wirklich meinen, ich hab hier 29 Gäste sitzen, und alle 29 Gäste bekommen von mir 3000 Franken.» Zustimmendes Gelächter. Wechsel zu con spirito: «Schauen Sie mal – Hand aufs Herz –, wenn es so wäre, dass jeder 3000 Franken bekommen würde, ganz ehrlich, ich würds Ihnen gönnen!» Erneuter Wechsel, allegretto: «Aber wissen Sie, was ich dann machen würde? Dann würd ich meinem Chef sagen: ‹Ab morgen fahr ich nur noch mit deinen Bussen mit, setz mich da rein, hör mir das an, hol mir 3000 Franken ab, das mach ich dreimal im Monat, dann hab ich 9000 Franken, mehr und schneller kann man kein Geld verdienen!›» Finis, mezza voce: «Meine Damen und Herren, wollen wir mal ein bisschen die Kirche im Dorf lassen.»

Unser dritter Preis besteht also aus je einem Rubbellos. Das ist kein Grund zur Traurigkeit, denn Bernd findet «es immer doof, wenn einer dick absahnt und die andern gucken in die Röhre, deshalb hab ich mich dafür eingesetzt, dass unter diesen Losen, die ich hier nachher verteile, auch mehrere Lose dabei sind mit kleineren Bargeldgewinnen, die man von mir heute ausbezahlt bekommen wird!» Dann zählt er rhythmisch von tausend in Dezimalschritten runter bis zu zwei Franken und brüllt bei jeder Zahl: «Na, ist das was?» – «Jaa!», schreien wir zurück. «Meine Oma», wird Bernd privat, «die hat immer zu mir gesagt, Jungs, denkt daran, wer den Pfennig nicht ehrt ...», Bernd stoppt, «... ist des Talers nicht wert!», rufen wir im Chor. Es ist Manipulation der Extraklasse. Der Bernd muss noch anderes absolviert haben als nur ein schlichtes Verkaufstraining. Beim Gedanken, wie und wo derlei Fertigkeiten auch noch genutzt werden können, wird mir mulmig.

Dann ist Pause. In der Warteschlange auf der Damentoilette sagt eine pensionierte Lehrerin begeistert: «Ich fahre da immer mit – das fasziniert mich! Wenn unsere Lehrer so schaffen müssten wie die, gäbs sicher weniger Probleme in der Schule! Ich hab unterrichtet, ich weiss, wie das ist! Das ist trainiert, die Konzentration!» – «Aber in der Schule darf man aufstrecken», meint eine Mitwartende.

Ein Wohltäter der Menschheit

Bevor Bernd zum eigentlichen Herzstück seines Vortrags kommt, mahnt er erneut: «Ich brauche keine Querulanten, keine Besserwisser, ich brauche absolute Ruhe – ich habe meinen Beruf von der Pieke auf gelernt: Ich weiss, was ich darf, ich weiss, was ich nicht darf, ich weiss, was sich gehört.» Bei einigen im Publikum vermisst er das. Die schauen vor sich hin, eine sehr alte Dame ist eingenickt. Im Säli herrschen inzwischen gefühlte vierzig Grad. «Man könnte auch so nett zum Bernd sein und dem Bernd mal in die Augen schauen», findet Bernd, dann mit Blick zu uns: «Die beiden Damen dort hinten zum Beispiel haben von Haus aus so viel Anstand.» Weil wir ihm seit Stunden fasziniert zuschauen.

Endlich kommt er zur Sache, einer Magnetmatte, die er nur «seine Therapie» und nie «Matte» nennt. Mit wirren Zeichnungen auf dem Flipchart, absurden medizinischen Erläuterungen über das Eisen im menschlichen Blut, einem nichtssagenden physikalischen Experiment, bei dem mit kleinen Magneten Bahnen durch Streuzucker gezogen werden, beweist Bernd mit Sämi als Assistenten die Wirkung «seiner Therapie». Da im Publikum nur wenige unter fünfzig sind, kann er davon ausgehen, dass den meisten ständig irgendwas wehtut. Da setzt er an: «Egal wie stark die Schmerzen sind, egal woher sie kommen, diese Schmerzen werden Ihnen gänzlich genommen, nicht gelindert, man nimmt Ihnen diese Schmerzen, ohne Medikamenteneinnahme und Nebenwirkungserscheinungen!» Seine Therapie sei «ein anerkanntes Medizinprodukt der Klasse eins».

Mit Kernsätzen wie «Bei uns heutzutage werden Menschen systematisch krank gemacht, denn nur mit kranken Menschen kann man Geld verdienen!» oder «Es wird nirgendwo so viel Umsatz gemacht wie in der Pharmaindustrie» schlachtet Bernd das weit verbreitete Misstrauen gegenüber der Pharmaindustrie aus. Noch wittert er bei einigen Skepsis: «Ob die für ihre Gesundheit etwas tun oder nicht, kann mir doch völlig egal sein. Das sind ihre Schmerzen, nicht meine, das sind ihre Nebenwirkungen. Sollen sie doch die Medikamente einnehmen, bis sie ihnen aus den Ohren wieder rauskommen!» Im Brustton tiefer Aufrichtigkeit bekennt er: «Ich bin kein Arzt, das weiss ich selber. Ich habe keinen Doktortitel, keinen weissen Kittel. Ich verdiene nicht so viel Geld wie ein Arzt – ist alles richtig. Aber diese Zeit, die ich mir heute für Sie genommen habe, um Ihnen mal zu erklären, wie der Körper funktioniert und was Sie machen können, diese Energie, die ich in diesen Vortrag stecke, diese Zeit hat Ihr Arzt für Sie heute nicht mehr übrig. Und das ist etwas, was mir von Ihnen keiner mehr nehmen kann, wenn ich die Tür hinter mir zumache.» Applaus brandet auf.

Jetzt gilt es ernst

Assistent Sämi bringt einen Koffer nach vorn. «Der ist voller Geld», sagt Bernd, «das schenke ich Ihnen!» Nach allerlei Neckereien – «Ja, das glauben Sie wieder nicht» et cetera – entnimmt er dem Koffer Plastikmappen und fragt, wer eine möchte. Aber: «Die Mappe bleibt zu, bis ich Ihnen erlaube, sie aufzumachen!» Wer eine will, soll aufstrecken. Auch ich melde mich. Bernd geht einzeln zu allen hin, reicht ihnen die Hand, schaut ihnen in die Augen und fragt «Wissen Sie, worum das jetzt hier geht?» Als er zu mir kommt, antworte ich: «Ja, um meine Gesundheit ...» – «Nein!», unterbricht mich Bernd, «es geht um die Therapie!», er zeigt auf die Matte, «Ja oder Nein?» – «Ja, aber …», stottere ich, und schon zieht er mir mit einem strengen «Finger runter!» Hand und Mappe weg. «Wer hat dieses Fünkchen Vertrauen, dass ich hier was für Sie mache?», fragt er die anderen.

Nach endlosem Ritual darf jemand die Mappe öffnen: Sie enthält Bernds «Fördergelder», vierzehn Hunderter, die er «verschenken» wird, allerdings bloss in Form einer Anzahlung an die Magnetmatte, die kostet nämlich 2998 Franken. «2998 weniger 1400», rechnet Bernd vor, «bleiben noch 1598.» Darauf gibts noch mal Ermässigung, aber nur unter vier Augen bei ihm oder einem seiner Kollegen. Im Vergleich mit Trickbetrügereien, wo einer Person Senf aufs Jackett geschmiert wird, um sie davon abzulenken, dass ihr gerade das Portemonnaie aus der Tasche gezogen wird, ist das hier ein Meisterwerk der Täuschung.

Es ist heiss und der Job anstrengend. Bernd wird zunehmend pampig. Als ihm eine Frage nicht passt, pöbelt er: «Gute Frau, wie kommt Kuhscheiss aufs Dach?» Bereits Überzeugte erschüttert das nicht. Wir schätzen, dass rund vierzehn Personen im Saal eine «Therapie» erwerben; ein Ehepaar erzählt froh, es habe zwei Matten zu je 1250 Franken bekommen. Denn Paare, hat Bernd zuvor erklärt, brauchen natürlich zwei «Therapien». Was will man schon allein und gesund auf der Welt, wenn der oder die andere krank oder gar tot ist? Bernd versteht sein Handwerk. Jeden möglichen Einwand vorwegnehmend, spielt er souverän auf unserer Gefühlsklaviatur. «Mir ist ganz schlecht», sagt Anna in der Mittagspause, «der ist so autoritär, das schlägt mir auf den Magen.»

Die Stunde der Kumpanen

Nach dem Essen – Riz Casimir – ist Bernd spurlos verschwunden. «Der hat sich noch nicht mal verabschiedet», klagt eine Dame. «Dafür bin ich jetzt da», sagt Rico, Sämi macht wieder den Assistenten. Mit der Geschwindigkeit eines Schnellfeuergewehrs preist Rico die «Garpfanne ‹Mistral Deluxe› mit Energiesparboden aus einem Aluminiumkupfergemisch» an. Wenn jemand mal nicht aufpasst, ruft er dazwischen «Hallo!» oder «Hört ihr zu!», aber er verbreitet wenigstens keine Angst. Die Pfanne – Originalpreis 360 Franken – wird uns für 69 nachgeschmissen. Manche kaufen gleich drei aufs Mal.

Als Rico fertig ist, hängen die meisten wie tote Fliegen auf ihren Stühlen. Fassungslos realisieren wir, dass da tatsächlich noch einer auf seinen Auftritt wartet: Herr Winter aus Bremen bittet höflich, uns noch ein paar Reisen der Firma City-Travel AG in Zürich vorstellen zu dürfen. Seine Zurückhaltung wirkt nahezu erholsam; fast wäre Anna geneigt, ihm eine Reise abzukaufen. Zum Glück nur fast.

Als wir am Schluss noch das Znüni selber zahlen müssen, sind einige hell empört. Sämi beginnt lauthals mit ihnen zu streiten. Es ist halb fünf. Wir wollen nur noch weg. Mit den Geschenken «für die Dame» im Arm sinken wir erschöpft auf unsere Carsitze. «Jetzt fahren wir sicher nicht mehr zum Rheinfall», sagt der Chauffeur, «ich hab um 6 Uhr Feierabend!» Auf der Rückfahrt kommt Zürich zuletzt; am Bahnhof Jona ergreifen Anna und ich die Flucht.

Eine neblige Welt

Durch ein kleines Inserat, das ich im «Tagblatt der Stadt Zürich» aufgebe, lerne ich Leute kennen, die andere Fahrten mit demselben Team mitgemacht haben. Keine der Reisen erreichte je das versprochene Ziel. Frau B. sagt, das sei dann «ein Rheinfall ohne h» gewesen, und diese Männer seien «frech wie Bohnenblust». Aber weil sie gern mal nach Dresden wolle, habe sie – gegen 400 Franken Vorauszahlung – eine Reise gebucht. Erst später hat sie gesehen, dass der Einzelzimmerzuschlag laut Kleingedrucktem nicht 15, wie der nette Herr Winter versprochen hat, sondern 45 Franken pro Nacht beträgt. Aber sie sei «ja selbst schuld», wofür sie sich «am liebsten in den Hintern beissen» würde. Ein Spaziergang zur Adresse, die Herr Winter genannt hat, zeigt: Dort gibts keine City-Travel AG. Von Frau W. höre ich, dass auf «ihrer» Fahrt ein Grossteil der 22 Mitreisenden erwerbstätig gewesen sei und sich für die Entgegennahme des «Preises» extra einen Tag frei genommen habe. Entsprechend gross sei die Enttäuschung gewesen.

Die Welt der «Kaffeefahrten» ist neblig. Keine Person ist die, die sie behauptet zu sein, niemand steht zu einem Versprechen, niemand übernimmt Verantwortung, niemand kann zur Rechenschaft gezogen werden. Nur eins ist klar: In dieser Branche lernt man das Handwerk «von der Pieke auf».

Was das Gesetz sagt : Bis zu drei Jahre Gefängnis

Sogenannte «Werbefahrten mit Gewinnversprechen» sind seit dem 1. April 2012 im Rahmen der Gesetzgebung gegen den unlauteren Wettbewerb in der Schweiz verboten. Dennoch werden diese Fahrten nach wie vor veranstaltet. Wer auf solchen Fahrten etwas gekauft hat, kann innerhalb von sieben Tagen vom Vertrag zurücktreten. Vorausgezahltes Geld muss bei Rücktritt meist auf zivilrechtlichem Weg eingeklagt werden, die Chancen auf Rückzahlung sind gering.

Die Einladungen zu den Fahrten versenden Firmen mit undurchsichtigen Eigentumsverhältnissen, die nicht oder nur rudimentär im Handelsregister eingetragen und an der genannten Adresse nicht auffindbar sind. Im Brief wird der angesprochenen Person ein hoher Bargeldgewinn versprochen, den abzuholen sie bisher versäumt habe, weshalb ihr das Geld auf der Fahrt überreicht werde. Statt eines Gewinns gibt es auf der Fahrt aggressive Verkaufsaktionen mit völlig überteuerten Waren.

Die Schwindelfirmen operieren länderübergreifend. Ende September findet mit Konsumentenschutzorganisationen und Behörden der Länder Deutschland, Liechtenstein, Niederlande, Österreich und Südtirol in der Schweiz eine Tagung statt, um das weitere Vorgehen zu beraten.

Die Durchführung solcher «Werbefahrten mit Gewinnversprechen» gilt als Antragsdelikt; kommt es zum Strafantrag, drohen den Organisatoren Strafen bis zu drei Jahren Freiheitsentzug, mögliche Geldstrafen können im Millionenbereich liegen. Einschlägig bekannte Firmen erhalten zuerst vom Seco eine Abmahnung, in der sie aufgefordert werden, eine Unterlassungserklärung abzugeben. Falls sie dennoch weitere Fahrten veranstalten, kann der Bund Klage einreichen.

Bisher hat das Seco neun Firmen abgemahnt, fünf davon haben die Unterlassungserklärung abgegeben. Doch wie Guido Sutter, Leiter des Rechtsdiensts beim Seco, befürchtet, ist anzunehmen, dass die Aktivitäten unter neuen Firmennamen vom Ausland aus fortgesetzt werden.

Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz Schweiz, teilt diese Einschätzung und vermutet, dass sich die wünschenswerten Effekte der Gesetzesänderung wohl erst in einigen Jahren einstellen werden. Wichtig ist, dass Betroffene Beschwerde erheben.

Auf der Website www.konsumentenschutz.ch findet sich ein Formular, mit dem Geschädigte sich melden können.