Santiago Carrillo (1915–2012): Solange er die Stimme erhob, war Spanien nicht verloren

Nr. 39 –

Er kämpfte für die spanische Republik und gegen die Franco-Diktatur, er reformierte die Kommunistische Partei und war Sieger und Besiegter zugleich: Ein Nachruf auf Santiago Carrillo.

Als listigen kleinen Teufel, der qualmend aus dem klandestinen Höllenloch schaut, so hat ihn der Karikaturist Peridis über Jahre gezeichnet: den spanischen Kommunisten und Kettenraucher Santiago Carrillo, der vergangene Woche im Alter von 97 Jahren in Madrid gestorben ist.

Ein Satan in schmächtiger Menschengestalt war er nicht nur den aussterbenden AnhängerInnen der faschistischen Falange-Bewegung, sondern auch jenem erstaunlich stabilen Segment des spanischen Bürgertums, das seine Dünkel und Vorurteile aus der Regierungszeit des Diktators Francisco Franco (1939 – 1975) bis in die Gegenwart gerettet hat und sich diese gern von publizistischen Wendehälsen wie Federico Jiménez Losantos und Gabriel Albiac bestätigen lässt. Diese hatten Carrillo in einer Radiosendung anlässlich seines Todes als Reptil bezeichnet, als «Paradigma dieser Generation von Monstern, die das Europa der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hat», und als Aasgeier, «der alle liquidiert und alle überlebt».

Überraschend, dieser über Jahrzehnte gespeicherte Hass auf den ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei, dem selbst politische GegnerInnen Respekt bekundet hatten. Immerhin war er in den Jahren 1977  bis 1979 neben dem damaligen Premier Adolfo Suárez hauptverantwortlich für den friedlichen Übergang Spaniens von der Diktatur zur parlamentarischen Demokratie und hatte schon lange davor eine Politik der nationalen Versöhnung verfolgt.

Santiago Carrillo war vermutlich der letzte europäische Politiker, der von klein auf vom Kampf gegen Armut und Ausbeutung durchdrungen gewesen ist. Seine frühste Erinnerung war die an den Vater Wenceslao – einen Genossen des Linkssozialisten Largo Caballero – und wie er ihn mit der Mutter im Gefängnis besucht. Als Santiago neun ist, übersiedelt die Familie von der asturischen Hafenstadt Gijón nach Madrid, die spanische Hauptstadt. Dort beginnt er mit vierzehn Jahren zu arbeiten, in der Redaktion der Parteizeitung «El Socialista», wird fünf Jahre später Obmann der Sozialistischen Jugend und nach der blutig niedergeschlagenen Revolution in Asturien, 1934, verhaftet und eingesperrt. Auf seine Initiative kommt es zur Vereinigung der Sozialistischen Jugend mit dem bis dahin bedeutungslosen Kommunistischen Jugendverband. Das neue Bündnis wird während des Bürgerkriegs und unter seiner Führung zur mitgliederstärksten Organisation der Republik. Im November 1936, im belagerten Madrid, tritt Carrillo der Kommunistischen Partei bei – auch in Anerkennung der sowjetischen Hilfe im Kampf gegen die aufständischen Militärs.

Ein letzter Versuch

Nach der Niederlage der Republik, während der 37 Jahre andauernden Verbannung in Moskau und Paris, steigt Carrillo im Parteiapparat auf. 1960 tritt er als Generalsekretär die Nachfolge der populären Dolores Ibárruri («La Pasionaria») an. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings kritisiert er die sowjetische Führung und wird gemeinsam mit Enrico Berlinguer von der italienischen KP zum Exponenten des sogenannten Eurokommunismus, der den Parlamentarismus nicht als Mittel zum Zweck der Machterringung, sondern als erhaltungswürdiges Ziel ansieht, die Diktatur des Proletariats als notwendige Etappe auf dem Weg zur sozialistischen Demokratie verwirft und den «Kräften der Arbeit» diejenigen «der Kultur» als Subjekte gesellschaftlicher Veränderungen zur Seite stellt.

So unausgegoren und pragmatisch das Konzept dieses «Sozialismus in Freiheit» auch war, es stellte den letzten ernst zu nehmenden Versuch dar, die kommunistische Weltbewegung zu reformieren und den Sozialismus nicht nur als Idee, sondern auch als politische Praxis vor dem Verschwinden zu bewahren. Darin liegt Carrillos grosses Verdienst, aber auch seine Schwäche: dass er die Demokratisierung der Partei mit autoritären Massnahmen durchgesetzt hat, wie üblich und vielleicht auch unerlässlich unter den Bedingungen der Illegalität. Es war eine Zeit, wie er rückblickend sagte, wo Abweichungen von der Parteilinie nicht geduldet und oft auch mit dem Tod bestraft wurden.

Ihn ereilte ein gnädigeres Schicksal: Nachdem er den eurokommunistischen Kurs sowohl gegen seine prosowjetischen WidersacherInnen als auch gegen die sozialdemokratisch inspirierten «Erneuerer» durchgesetzt hatte, wurde er nach der schweren Wahlniederlage von 1982 zum Rücktritt gezwungen, dann aus der Partei ausgeschlossen. Nun erst begann seine Karriere als Journalist und Buchautor. Bar jeder Eitelkeit, frei von Ressentiments, ohne Anflug von Zynismus kommentierte Carrillo die politische Aktualität. Es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören oder seine Artikel zu lesen: weil er immer bei der Sache blieb, Scharfsinn mit Klarsicht paarte und polemische Untertöne für unnötig erachtete. Und weil er einem die Gewissheit gab, dass Spanien und die Welt nicht verloren seien, solange er seine Stimme erhebt.

Vater und Waise

Umstritten ist Carrillo dennoch auch innerhalb der Linken geblieben, und zwar wegen seiner Rolle im demokratischen Übergang: als er die von Diktator Franco installierte Monarchie als Staatsform akzeptierte und auf die Bedingung einging, die Repressoren des Regimes straffrei zu stellen. Immerhin war die Kommunistische Partei die stärkste Oppositionskraft, verfügte über selbstlose und loyale Mitglieder und mit den Arbeiterkommissionen über eine kampferprobte Gewerkschaft. Aber die Kritik, der zufolge er die Chancen der Partei verspielt habe, ist Carrillo zufolge eine Rückprojektion: «Wir waren zweifellos die hegemoniale Kraft der Opposition. Aber einer minoritären Opposition, die nie stark genug war, mit dem Franquismus fertigzuwerden. Und nicht deshalb, weil die Spanier mehrheitlich Franquisten gewesen wären, sondern weil der Widerstand ein Risiko bedeutete, das nur eine Minderheit einging.»

Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind. Carrillo war beides zugleich, Vater und Waise: Vater der gewaltarmen Demokratisierung des Landes; Waise, weil sein Kalkül nicht aufging, die Kommunistische Partei als stärkste Kraft der Linken zu etablieren. Eine der grössten Ungerechtigkeiten der Geschichte besteht darin, dass WählerInnen nicht denen ihre Stimme geben, die das meiste dafür getan haben, dass sie überhaupt wählen dürfen. Bei den ersten Wahlen 1977 erhielt die KP Spaniens kaum zehn Prozent der Stimmen. Die sozialistische Arbeiterpartei PSOE, die in Spanien bis dahin praktisch nicht präsent gewesen war, wurde mit dem «voto útil», der nützlichen Stimme, belohnt. Ihre Führer hatten das getan, was SozialdemokratInnen meistens taten: «zuwarten, dass sich die Verhältnisse durch den Kampf anderer ändern» (Santiago Carrillo).

Verbittert war Santiago Carrillo deshalb nicht. Er glaubte nicht an das Ende der Geschichte. Vor fünf Jahren drehte der Regisseur Manuel Martín Cuenca den Dokumentarfilm «Carrillo, comunista». Auf die letzte Frage durfte sein Protagonist nur mit einem Wort antworten. Carrillo war skeptisch: «Es gibt kaum Fragen, die sich mit einem einzigen Wort beantworten lassen.» Aber dann tat er es doch. Die Frage lautete: «Eine Farbe.» Und die Antwort war: «Rot.»