Enrico Berlinguer: Der gute Kommunist
Diese Woche wäre der italienische Mitbegründer des Eurokommunismus hundert Jahre alt geworden. Sein Ringen um Haltungen und Positionen in den siebziger und achtziger Jahren ist von erstaunlicher Aktualität.
Wer die eigene Vergangenheit verleugnet, beweist damit weder Fantasie noch die Fähigkeit zum Neuanfang, davon war er überzeugt: Enrico Berlinguer (1922–1984), der ab 1972 Generalsekretär des Partito Comunista Italiano (PCI) war und in dieser Funktion den Eurokommunismus mitbegründete, der sich vom Kommunismus sowjetischer Prägung distanzierte.
In Italien wird Berlinguer schon länger auch von politischen Gegner:innen gewürdigt, zuweilen gar idealisiert. Die Journalistin und Schriftstellerin Chiara Valentini, deren Biografie des Politikers anlässlich seines 100. Geburtstags am 25. Mai aktuell auch auf Deutsch erscheint, nennt ihn einen «eigenartigen Genossen»; einstige Weggefährt:innen präsentieren eine ganze Liste positiver Eigenschaften: charismatisch, offen, ehrlich, ernst, streng, selbstkritisch und dialogbereit sei er gewesen, aber auch scheu und verschlossen, nie populistisch und alles andere als ein Showman.
Vor allem die siebziger Jahre stehen einerseits für die Blütezeit der mit grossen Erwartungen angetretenen eurokommunistischen Strömung und einen kurzen politischen Höhenflug des PCI, sie waren aber auch von schwierigen und gescheiterten strategischen Entscheidungen geprägt.
Zuwendung zu sozialen Bewegungen
Im Juni 1976 erzielte die Kommunistische Partei bei den Parlamentswahlen mit 34,4 Prozent der Stimmen ihr historisch bestes Ergebnis, der erhoffte «sorpasso», das Überholen der Democrazia Cristiana (DC), aber misslang. Eine reine Linksregierung hatte Berlinguer schon vorher ausgeschlossen. Führe eine linke Koalition das Land, könne das zum Bürgerkrieg führen, warnte er in einer Artikelserie, geschrieben nach dem Militärputsch in Chile gegen den Sozialisten Salvador Allende im September 1973. Als Gegenmittel empfahl Berlinguer einen «historischen Kompromiss» mit der DC sowie den Verbleib Italiens in der Nato.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war der PCI folglich Teil einer informellen Koalition der «nationalen Solidarität». Gedacht war diese Phase als Schritt zur eigenen Regierungsbeteiligung. Dazu kam es aber nicht, obwohl der PCI einen wirtschaftspolitischen Kurs der «Austerität» vertrat und sich – besonders in der Zeit der Entführung und der späteren Ermordung des DC-Präsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden im Frühjahr 1978 – als Garant des starken Staates profilierte. 1979 erklärte Berlinguer den «historischen Kompromiss» für beendet. Auch persönlich suchte er wieder den engen Kontakt zur Arbeiter:innenbewegung, so im September 1980 vor dem Werkstor von Fiat in Turin, wo Zehntausende Beschäftigte gegen den Abbau ihrer Arbeitsplätze kämpften – letztlich erfolglos.
Zugleich traf er sich mit den linken «Abweichler:innen», die gegen eine Annäherung an die Democrazia Cristiana waren und deren Ausschluss aus dem PCI Berlinguer zehn Jahre zuvor mitbetrieben hatte. Auf seine Einladung hin kehrten viele von ihnen in die kommunistische Mutterpartei zurück, darunter auch die heute 92-jährige Luciana Castellina, die 1969 die linke Zeitung «il manifesto» mitgegründet hatte. Sie steht stellvertretend für etliche linke Kritiker:innen Berlinguers, die mittlerweile die Politik seiner letzten Lebensjahre positiv beurteilen. So habe er sich den sozialen Bewegungen zugewandt, insbesondere dem Feminismus und mehr noch der Friedensbewegung, die in den achtziger Jahren die Stationierung US-amerikanischer Marschflugkörper bei Comiso auf Sizilien bekämpfte. Veteran:innen dieser Bewegung versuchen heute, die von der aktuellen Regierung um Ministerpräsident Mario Draghi betriebene Aufrüstung zu verhindern (siehe WOZ Nr. 18/2022 ). Einige von ihnen sind überzeugt, dass Berlinguers Vermächtnis auch in diesem Kampf ein Bezugspunkt sein kann.
Das ist mindestens fraglich. 1976 antwortete der damalige PCI-Generalsekretär dem «Corriere della Sera» auf die Frage, ob die Nato «ein nützlicher Schutzschirm sein» könne, «um den Sozialismus in Freiheit aufzubauen», mit dem Satz: «Ich fühle mich hier [in der Nato] sicherer, aber ich sehe, dass es auch hier ernsthafte Versuche gibt, unsere Autonomie einzuschränken.» Zurückgenommen hat Berlinguer das Bekenntnis zur Nato nie, nur relativiert, indem er die Kommunistische Partei später für «blockfrei» erklärte, also für neutral im Kalten Krieg.
Tiefe Anteilnahme nach frühem Tod
Weniger problematisch erscheint ein anderer Teil seines Erbes, dokumentiert in einem langen Interview von 1981 in der linksliberalen Tageszeitung «La Repubblica». Am Anfang stand Berlinguers wütende Anklage gegen Korruption und Günstlingswirtschaft zum Vorteil der etablierten Parteien, die von den staatlichen Institutionen Besitz ergriffen hätten. Die Verantwortlichen müssten abgeurteilt und eingesperrt werden, forderte er – mehr als ein Jahrzehnt bevor der Korruptionsskandal «Tangentopoli» das Parteiensystem Italiens umstürzte. Vom PCI verlangte er eine moralisch fundierte Politik: Die Partei müsse die eigene Diversität verteidigen, statt zu werden wie alle anderen.
Mit diesem Appell erreichte er grosse Popularität auch jenseits der kommunistischen Grossfamilie. Das zeigte sich nach seinem überraschenden Tod nach einem Schlaganfall am 11. Juni 1984, mitten im Europawahlkampf. An den Begräbnisfeierlichkeiten in Rom nahmen zwei Tage später 1,5 Millionen Menschen teil.