Die Biorender-Kontroverse: Es gärt in Wil, und etwas stinkt

Nr. 49 –

Euphorisch haben Ostschweizer Städte in eine Biogasanlage im Thurgau investiert, die Schlachtabfälle verwertet. Wie kam sie zu 1,7 Millionen Franken Steuergeld? Vorwürfe gegen einen beteiligten Stadtrat werden laut. Und wie ökologisch ist dieses Biogas?

So etwas hat Guido Wick noch nie erlebt. Dabei ist der 51-Jährige ein erfahrener Lokalpolitiker: Seit neunzehn Jahren sitzt er im Parlament der St. Galler Kleinstadt Wil. Als Grüner in der katholisch-konservativen Gemeinde, in der die CVP drei von fünf Stadträten stellt, ist Wick die Oppositionsrolle gewohnt. «Aber diesmal haben sogar die Konservativen gemerkt, dass an unseren Einwänden etwas dran ist.»

Die Vorwürfe sind happig: Wick und seine Fraktion Grüne Prowil beschuldigen den Wiler FDP-Stadtrat Andreas Widmer, im Jahr 2011 mehr als 1,7 Millionen Franken öffentliche Gelder veruntreut zu haben. Für eine Kleinstadt mit 18 000 EinwohnerInnen (nach der Fusion mit der Nachbargemeinde Bronschhofen am 1. Januar werden es knapp 23 000 sein) ist das nicht wenig. Widmer ist zuständig für die Technischen Betriebe. Das Geld sei benutzt worden, um Löcher bei der Firma Biorender zu stopfen – ohne Wissen des Stadtparlaments, sagt Guido Wick. Der Stadtrat habe nicht die Kompetenz, eigenmächtig so viel Geld auszugeben. Stadtrat Widmer bestreitet die Vorwürfe.

Bakterien vergiften sich selbst

Die Biorender AG hat ihren Sitz in Münchwilen, einem Wiler Vorort, der zum Thurgau gehört. Sie stellt Biogas her, also Gas aus vergorener Biomasse – mit «bio» hat das so wenig zu tun wie die sogenannten Biotreibstoffe. Die Firma gehört zu fast 85 Prozent der öffentlichen Hand: Die Städte Winterthur, Wil und St. Gallen besitzen je ein Viertel der Aktien, je im Wert von drei Millionen Franken. Schaffhausen, Uzwil und Flawil sind ebenfalls beteiligt. Stadtrat Andreas Widmer, dem Guido Wick Veruntreuung vorwirft, sitzt im Verwaltungsrat, bis im Sommer 2011 war er Verwaltungsratspräsident.

Anders als übliche Biogasanlagen verwertet Biorender nicht Pflanzen, sondern tote Tiere und Speisereste. «Unsere Anlage ist eine Weltneuheit», sagt Jacques Hunziker, Kogeschäftsleiter der Firma. «Sie kombiniert Elemente aus Kläranlage, Biogasanlage und biochemischer Industrie.»

Das Problem ist nur: Die Anlage funktioniert schlecht. Biogas entsteht durch Vergärung. Tierische Abfälle enthalten viel mehr Eiweiss als Pflanzen. Bei der Vergärung des Eiweisses entsteht Ammoniak – und zu viel Ammoniak vergiftet die Methanbakterien, die die Gärung in Schwung halten sollten. «Darum müssen wir das Eiweiss abscheiden», erklärt Jacques Hunziker. Doch die Filter leisten nicht genug. Seit der Inbetriebnahme vor knapp zwei Jahren läuft die Biorender-Anlage nur mit 25 bis 40 Prozent ihrer Kapazität. Das geht ins Geld: Biorender steckt in einem akuten Liquiditätsengpass. Die «Wiler Zeitung» schätzt, dass Rechnungen im Umfang von zwei Millionen Franken ausstehen. Um die technischen Probleme zu lösen, sind laut Hunziker noch einmal rund anderthalb Millionen nötig.

Wenn korrekt abgerechnet worden wäre, wäre die Firma längst pleite, sagt Guido Wick. «Biorender hat einfach so viel für das Gas verlangt, dass der defizitäre Betrieb kostendeckend wurde.» Weil die Transaktion über eine Preisausgleichsreserve vertuscht worden sei, habe im Wiler Parlament lange niemand etwas davon gemerkt. Biorender verkauft alles Gas an die Erdgas Ostschweiz AG (EGO) und verlangt einen Zuschlag für «ökologischen Mehrwert»: letztes Jahr 50 Rappen pro Kilowattstunde, dieses Jahr 25 Rappen. «Entspricht der Bericht der ‹Wiler Zeitung› den Tatsachen, werden 25 Rappen zur Deckung der Finanzlöcher bei weitem nicht reichen», sagt Guido Wick.

Die EGO verkauft Gas an die Technischen Betriebe Wil (TBW) weiter, von denen es die Haushalte beziehen können – für 12 Rappen pro Kilowattstunde. Die Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis deckt die Preisausgleichsreserve der TBW, die eigentlich nur kleine Schwankungen im Gaseinkaufspreis ausgleichen darf. Aus dieser Reserve flossen im letzten Jahr 1,7 Millionen Franken allein für Gas von Biorender.

Widmers Nachfolger als Biorender-Verwaltungsratspräsident ist der grüne Winterthurer Stadtrat Matthias Gfeller. Er zeigt sich weiterhin überzeugt vom Projekt: Vielleicht helfe Winterthur Biorender mit zusätzlichem Geld aus, sagt er auf Anfrage. Dabei würden nicht die Steuerzahlenden zur Kasse gebeten, «sondern die regionale Gaswirtschaft, die eben auch im Besitz verschiedener Städte und Gemeinden ist». Indirekt also doch die Steuerzahlenden. Auch St. Gallen will laut «St. Galler Tagblatt» die Beiträge an Biorender erhöhen.

In Wil ist man inzwischen kritischer. Als Guido Wick am 30. August im Parlament seine Recherchen präsentierte, war der ganze Saal sprachlos. Andreas Widmer schwieg. CVP-Stadtpräsident Bruno Gähwiler bestätigte die Zahlen: «Es ist richtig, dass 418 000 Franken für Erdgas und 1,73 Millionen für Biogas verwendet wurden und dass das natürlich ein unheimliches Verhältnis ist» – die WilerInnen bezogen nämlich zehnmal mehr Erdgas als Biogas. Wick glaubt, dass Widmer seine StadtratskollegInnen nicht informiert hatte. Das Parlament folgte dem Antrag der Grünen: Die Geschäftsprüfungskommission solle den Fall «sehr gründlich» untersuchen und dem Parlament Bericht erstatten.

Eine Woche nach der Sitzung gab Andreas Widmer dem «St. Galler Tagblatt» ein Interview. Auf den Veruntreuungsvorwurf angesprochen, sagte er: «Diese Anschuldigungen von Guido Wick weise ich in aller Form zurück.»

Schon im Sommer 2008, als der Wiler Gemeinderat die Investition in Biorender bewilligte, waren die Grünen kritisch gewesen. «Wir finden die Informationen bezüglich der Risiken und der Wirtschaftlichkeit in dieser Vorlage sehr mangelhaft», sagte Guido Wick damals im Rat. Doch FDP-Stadtrat Widmer gab sich euphorisch und prognostizierte eine Rendite von sechs Prozent: «Nach Businessplan ist 2015 alles abbezahlt.»

Ausserdem stellten die Grünen einen Antrag: Der Stadtrat solle «vertraglich sicherstellen, dass von der Biorender AG kein Material vergärt wird, welches die Nahrungsmittelkette für Menschen konkurrenziert.» Das Parlament lehnte ab und bewilligte die drei Millionen Franken – «im Blindflug», sagt Guido Wick heute. Er hält Biogas aus Schlachtabfällen nur für eine Übergangslösung: «Aus ökologischen Gründen ist es nötig, weniger Fleisch zu produzieren.» Seine Bedenken waren begründet: Biorender entsorgt heute nicht nur verseuchte Tierabfälle, sondern auch abgelaufene Fleischwaren von Grossverteilern und einwandfreie alte Legehennen, sogenannte Suppenhühner. Sie vernichtet also Eiweiss, das teils als Tierfutter, teils sogar als menschliche Nahrung geeignet wäre.

Trotzdem preist Biorender sein Gas als «CO2-neutral» an, und auch der grüne Winterthurer Stadtrat Gfeller nennt es so. Die Stiftung Klimarappen unterstützt Biorender laut eigenen Angaben «voraussichtlich mit einer Million Franken», und die Alternative Bank ABS hat Biorender einen Kredit von fünf Millionen gegeben. Wie ökologisch ist Biogas aus toten Tieren wirklich?

Alles nur Abfall?

Rainer Zah ist Wissenschaftler an der Eidgenössischen Forschungsanstalt Empa in Dübendorf, Spezialist für Ökobilanzen von Energie aus nachwachsenden Rohstoffen. Er holt aus: «Seit es wegen des Rinderwahnsinns nicht mehr erlaubt ist, tierische Abfälle an Nutztiere zu verfüttern, verarbeitet man einen grossen Teil zu Tiermehl. Es dient als Brennstoff für die Zementindustrie. Die Tiermehlherstellung braucht allerdings mehr Energie, als beim Verbrennen frei wird: Die Energiebilanz ist negativ.» Im Vergleich dazu sei Biogas aus tierischen Abfällen sinnvoll.

Entscheidend sind aber diese drei Wörter: «im Vergleich dazu». Denn Ökobilanzen bilden keine objektive wissenschaftliche Wahrheit ab. Zah erklärt: «Um die Ökobilanz einer Biogasanlage zu errechnen, muss man fragen: Was wäre die alternative Nutzung der Rohstoffe? Wenn wir alles, was reinkommt, als Abfall definieren, den man sonst teuer entsorgen muss, ist die Ökobilanz sicher positiv. Aber wenn wir annehmen, jemand könnte diese Hühner essen, sieht es sofort anders aus.» Denn dann müsste in der Ökobilanz berücksichtigt werden, dass wegen der Biogasherstellung auf dem Lebensmittelmarkt Hühner fehlen.

Ähnlich sähe es aus, wenn Futter aus tierischem Eiweiss für Hühner und Schweine wieder zugelassen würde, wie das die EU plant (vgl. «Was aus toten Tieren wird» im Anschluss an diesen Text). Das wäre sinnvoll, weil dieses Futter importiertes Soja ersetzen könnte. Auch in diesem Fall fiele die Bilanz einer Anlage wie Biorender negativer aus, weil der Rohstoff anderswo fehlen würde.

Man könnte auch noch eine Stufe früher anfangen, meint Rainer Zah: «Wir nehmen als gegeben, dass so viele tierische Abfälle anfallen. Aber eigentlich heisst das Motto: ‹reduce – reuse – recycle›, also zuerst Abfall reduzieren, dann möglichst viel weiterverwenden und erst am Schluss das Recycling. Die energetische Nutzung käme zuletzt.» Aber heute wird ausgerechnet dieser letzte Schritt subventioniert und nicht etwa neue Lösungen für die Verwertung von Suppenhühnern und anderen Fleischstücken, die niemand mehr essen will, obwohl sie geniessbar wären. «Suppenhühner sind eben nicht so sexy wie eine neue Hightechbiogasanlage», meint Rainer Zah.

Zurück nach Wil: Andreas Widmer wurde bei den Stadtratswahlen im September nicht wiedergewählt. Er ist noch bis Ende Jahr im Amt. Für eine Stellungnahme war er am Mittwoch bis Redaktionsschluss nicht erreichbar. Am Erscheinungstag dieser WOZ wird der Bericht der Geschäftsprüfungskommission öffentlich.

Was aus toten Tieren wird

In der Schweiz fallen jährlich 325 000  Tonnen tierische Abfälle an – eine gewaltige Zahl. Im Fachjargon heissen sie tierische Nebenprodukte (TNP). Dazu gehören Tiere, die an Krankheiten starben oder notgeschlachtet wurden, oder Häute, Fell und Federn. Doch auch Fleisch, das für Menschen geniessbar wäre, wird zu TNP, weil es zu wenig nachgefragt wird: etwa Innereien, alte Legehennen oder Schweinsköpfe. TNP werden in drei Kategorien eingeteilt: Kategorie 1 ist verseucht und wird zu Brennstoff verarbeitet oder direkt entsorgt, aus Kategorie 3 darf man Hunde- und Katzenfutter machen, Kategorie 2 liegt dazwischen und darf in die Biogasanlage.

Futter aus tierischen Abfällen wäre auch für Hühner und Schweine geeignet. Die EU plant, solches Futter unter strengen Auflagen wieder zuzulassen. Auch die Schweiz würde mitmachen. Laut dem Bundesamt für Veterinärwesen liessen sich aus jährlich 15 000  bis 20 000  Tonnen TNP Geflügel- und Schweinefutter herstellen.

Nachtrag vom 30. Oktober 2014 : Ausgegoren?

«Eine Weltneuheit» – so pries die Biorender AG ihre Anlage an. Die Firma im Thurgauer Dorf Münchwilen stellte sogenanntes Biogas her, also Gas aus vergorener Biomasse. Das Neue daran: Bei der Biorender gärten nicht Gülle oder Mais, sondern tote Tiere. Sechs Ostschweizer Gemeinden kauften begeistert Aktien. Doch die Weltneuheit funktionierte schlecht, die Gemeinden zahlten teuer für das Gas; die Stadt Wil bezahlte gar 1,7 Millionen, ohne dass das Parlament davon wusste. Ein Verfahren gegen einen ehemaligen Stadtrat läuft.

Anfang Oktober musste Biorender Konkurs anmelden. Jetzt betreibt der Herisauer Lebensmittelrecycler Jakob Bösch die Anlage weiter. Die Stadt St. Gallen will weiterhin Gas aus Münchwilen beziehen – das sei nötig, um die Energiewende zu schaffen, sagte Stadtrat Fredy Brunner letzte Woche.

Doch ist Gas aus toten Tieren überhaupt ökologisch? In der Schweiz leben zu viele Nutztiere. Sie überdüngen die Gewässer und fressen viel importiertes Futter. Ökologisch wäre, die Zahl der Tiere zu reduzieren, nicht aus ihren Abfällen Gas zu machen.

Und viele Schlachtabfälle, die in Biogasanlagen oder als Brennstoff enden, sind hygienisch einwandfrei – hier wird menschliche Nahrung verschwendet. Genau solche Bedenken hatten die Wiler Grünen 2008, als das Stadtparlament die Biorender-Aktien kaufte. Hätte Wil damals auf die Grünen gehört, wäre der Ostschweiz dieses Debakel erspart geblieben.

Bettina Dyttrich