Geflügelproduktion: Ade, Suppenhuhn?
Ab Ostern schlachten die beiden Fleischverarbeiter Micarna und Bell keine Legehennen mehr. Aus den alten Tieren wird Biogas. Viele EierproduzentInnen finden das inakzeptabel – und versuchen es zu ändern.
«Weltweit existieren um das alte, ausgemergelte Huhn verschiedene Traditionen», schrieb der Theologe und Afrikaspezialist Al Imfeld vor Jahren in der WOZ. «Sozusagen ehrenvolle Begräbniszeremonien» seien es: «Die Hühnersuppe gilt noch immer weltweit als Stärkung bei schwerer Krankheit. Anstelle eines schwer erkrankten alten Menschen sollte das Huhn sterben. Da es ohnehin vor dem Tode stand, gaben die Menschen ihm so einen heldenhaften Abgang.»
Heute ist vom heldenhaften Abgang wenig geblieben. In der Schweiz leben gut zwei Millionen Legehennen. Im Alter von zwanzig Wochen beginnen sie zu legen. Von Natur aus würde sich der Vogel früher oder später mausern: sein Gefieder erneuern und eine Zeit lang keine Eier produzieren. In den modernen beleuchteten Ställen ist die Mauser bei vielen Hühnern nicht mehr so ausgeprägt. Aber auch sie legen mit dem Alter Pausen ein. Ausserdem werden die Eier immer grösser – zu gross für die Standardkartons der Grossverteiler. Darum werden die meisten Hennen etwa eineinhalbjährig getötet – und entsorgt. Denn nur noch jede zehnte Legehenne lässt sich als Suppenhuhn verkaufen. Die Entsorgung kostet: Die EierproduzentInnen bezahlen je nach Herdengrösse rund einen Franken pro Huhn. Jetzt suchen sie nach neuen Lösungen.
Eier legen ist Privatsache
Der Himmel ist weit in Oberlangenhard. Die Bise weht über den fast flachen Hügel oberhalb von Rikon im Zürcher Tösstal. Eine Handvoll Häuser steht hier oben, ein Kranz aus Wald umgibt weite Felder und Wiesen. Etwas ausserhalb das Haus von Familie Jung, ein neu renovierter Holzbau, umgeben von Hecken, Obstbäumen und drei grossen Hühnerställen. Hier leben 12 000 Legehennen, die im Jahr 3,4 Millionen Freilandeier legen. Den grössten Teil davon verkauft Coop unter dem Naturafarm-Label.
Früher war es einfach: Die Hennen legten Eier – wenn auch längst nicht jeden Tag – und endeten irgendwann im Suppentopf, die überzähligen jungen Hähne lieferten Fleisch. Mitte des 20. Jahrhunderts begann die Trennung: Die einen Hühner wurden auf gute Mast-, die anderen auf hohe Legeleistung gezüchtet. Heute ist das Huhn das industrialisierteste Tier der Welt. Zwei Zuchtfirmen beherrschen den Weltmarkt der Legehennengenetik. Die Eierproduktion ist extrem arbeitsteilig organisiert: In der Brüterei schlüpfen die Küken, dann kommen sie in den Aufzuchtbetrieb, der sie schliesslich dem Legebetrieb liefert.
Geflügelmeister Thomas Jung zeigt einen der Ställe. Es riecht scharf nach Huhn. Mehr als 4000 Hennen leben darin, doch es hat genug Platz für alle. Der Boden ist weich eingestreut. Hier können die Hühner scharren und im Staub baden. Darüber liegt links ein zweistöckiger Fressbereich. Gegenüber, auf gleicher Höhe, hinter roten Vorhängen versteckt, die Legenester: «Das Huhn sucht Dunkelheit und Privatsphäre zum Legen», erklärt Thomas Jung. «Das nennt sich Nesttrieb. Er ist nicht bei allen Hühnern gleich ausgeprägt. Leider achten die Züchter nicht auf diese Eigenschaft. Denn in der Batteriehaltung – immer noch in den meisten Ländern der Normalfall – spielt sie keine Rolle.»
Vieles läuft automatisch: die Fütterung, die Entmistung, der Abtransport der Eier. Trotzdem ist dreimal am Tag eine Runde durch die Ställe nötig: zum Aufsammeln der «verlorenen» Eier, zur Überprüfung der Futterstellen und der Tiergesundheit. Thomas Jung setzt auf die alternativen Methoden Bioresonanz und Homöopathie, um die Hennen gesund zu erhalten.
Ganz zuoberst liegt der Ruhebereich mit Sitzstangen, auf denen die Hühner schlafen können. Doch jetzt sind sie lebhaft, flattern vom Boden hinauf zum Fressbereich und zwischen den Etagen hin und her. Das Stallsystem habe er zum ersten Mal auf einem Biobetrieb gesehen, erinnert sich Jung. «Es hat mir sofort gefallen. Die Tiere haben viel Bewegungsfreiheit, dadurch sind sie interessierter und nutzen den Aussenbereich intensiver.»
An die frische Luft können die Hühner das ganze Jahr: in den überdachten «Wintergarten». Bei warmem und trockenem Wetter dürfen die Tiere auch auf die Weide. «Wegen der Hygiene ist es wichtig, dass das Gras kurz und dicht ist», erklärt der Geflügelmeister. «Hohes und feuchtes Gras würde Spul- und Bandwürmer fördern, nackter Boden mit Pfützen Kolibakterien.»
Bratwurst statt Biogas
Den Schweizer Legehennen geht es im internationalen Vergleich sehr gut: Zwei Drittel leben in Freilandhaltung, die übrigen in Hallen mit eingestreutem Boden. Die Käfighaltung ist seit 1991 verboten. Und kein Betrieb darf mehr als 18 000 Hennen halten – ein Bruchteil der Zahl in den EU-Hühnerfabriken. Viel problematischer ist die Vernichtung des Fleisches. Bis vor einem Jahr wurden neunzig Prozent der alten Hennen zu Tiermehl verarbeitet und in Zementfabriken verbrannt. Heute kommen sie in eine Biogasanlage.
«Das wollen wir ändern», sagt der Thurgauer Geflügelmeister Willi Neuhauser. «Es ist nicht sinnvoll, wertvolles Eiweiss, das für die menschliche oder tierische Ernährung verwendbar wäre, zu entsorgen.» Neuhauser ist Präsident des GalloCircle, eines Vereins, der vom Eierproduzentenverband Gallo Suisse gegründet wurde und nach neuen Verwertungsmöglichkeiten sucht. Die Zeit drängt. Denn nach Ostern schlachten die beiden grossen Geflügelverarbeiter, Micarna und Bell, gar keine Legehennen mehr. «Dass die Leute ganze Suppenhühner kaufen, können wir nicht mehr erwarten», sagt Neuhauser. «Darum haben wir einen Geflügelfleischfachmann beauftragt, der Produkte wie Bratwurst, Merguez und Fleischkäse aus Geflügelfleisch entwickelt.» Der Geflügelschlachthof Fournier in Perly bei Genf verwertet bereits Hühner für den GalloCircle. Die Zusammenarbeit mit einem Schlachtbetrieb in der Deutschschweiz stehe bevor, erzählt Neuhauser.
Auch Coop arbeitet mit dem GalloCircle zusammen. «Das Fleisch von Naturafarm-Legehennen soll gegessen, nicht vernichtet werden», sagt Naturafarm-Projektkoordinator Basil Mörikofer. «Wir wollen das auch in den Richtlinien festhalten.»
Die Vernichtung des Hühnerfleisches sei eine ökologische Katastrophe, sagt Alfred Reinhard. Er ist Geschäftsführer der Hosberg AG in Rüti ZH, der einzigen Schweizer Eierhandelsfirma, die ganz auf Bio spezialisiert ist. Biolegehennenbetriebe haben andere Dimensionen als konventionelle: Sie dürfen nicht mehr als 2000 Hennen halten, aufgeteilt in 500er-Herden. «Suppenhuhnfleisch ist von ausgezeichneter Qualität, es ist viel aromatischer als Fleisch von Masthühnern», betont Alfred Reinhard. «Für Charcuterie oder Geflügelfleischsalat ist es am besten geeignet. In Deutschland wird alles Suppenhuhnfleisch verarbeitet und gegessen. Wenn die Grossverteiler wirklich wollten, wäre das auch in der Schweiz möglich.»
Alfred Reinhard ist daran, die Verwertung der Biolegehennen zu organisieren, da der GalloCircle keine Biolinie hat. Da er in der Schweiz keinen geeigneten Schlachthof gefunden habe, arbeite er mit einem biozertifizierten Schlachtbetrieb im süddeutschen Bodenseeraum zusammen. «Für uns liegt das näher als Genf.»
Das Huhn will Fleisch
In Oberlangenhard werden die Hennen älter als bei den meisten anderen grossen Eierproduzenten: Sie leben rund zwei Jahre. Thomas Jung nutzt die Mauser, um in den Zeiten, wenn die Eiernachfrage tief ist, keine Überschüsse zu haben. «Unsere Direktkunden nehmen die grossen Eier, die die Hennen nach der Mauser legen, sehr gern.»
2004 besuchte die damalige deutsche Landwirtschaftsministerin Renate Künast Jungs Betrieb und erklärte der «Coop Zeitung», sie wolle sich zu Hause für ähnliche Hühnerhaltungsbedingungen einsetzen. 2012 soll die Käfighaltung in der EU verboten werden. Damit verlieren die Schweizer Legehennenhalter zwar ein wichtiges Verkaufsargument. Doch dafür würden sie konkurrenzfähiger, sagt Jung: «Die EU-Eierpreise werden steigen. Es gibt dort Legehennenbetriebe mit Hunderttausenden von Tieren. Sie werden ihre Tierzahl reduzieren müssen. Für Boden- oder Freilandhaltung brauchen sie viel mehr Platz und Mitarbeiter als für Batteriehaltung.»
Bis vor wenigen Jahrzehnten waren Hühner eine Frauendomäne, eingebunden in die Kleintierhaltung auf den Höfen wie Kaninchen oder Gänse. Sie frassen, was sie im Staub und auf dem Misthaufen fanden, und bekamen ein paar Körner dazu. Dann wurde Hühnerhaltung zum Business und damit Männersache – und die Fütterung zum Problem. Kein auf Pouletmast oder Legehennen spezialisierter Betrieb produziert das Hühnerfutter heute noch selber. Bis zur Jahrtausendwende stammte ein Teil davon aus Schlachtabfällen. Doch seit 2001 ist die Verfütterung von Tiermehl verboten – wegen der Rinderseuche BSE. Für Wiederkäuer ist dieses Verbot das einzig Vernünftige, doch bei Hühnern und Schweinen sieht es anders aus: Anders als Rinder sind sie Allesfresser. «Es ist schwierig, Hühner ohne tierische Bestandteile richtig zu ernähren», sagt Hans-Georg Kessler, Produktmanager Fleisch der Bio Suisse. «Es kann sogar zu Mängeln führen. Ideal wäre eine Mischung aus pflanzlichem und tierischem Eiweiss.»
Heute fressen Hühner Getreide und Soja – ein grosser Teil davon kommt aus Südamerika. Auch das Biofutter. «Biosoja muss den strengen Knospe-Richtlinien genügen und darf nicht von gerodeten Urwaldflächen stammen», erklärt Kessler. «Aber sympathisch ist es trotzdem nicht, dass wir ein Lebensmittel an Tiere verfüttern. Futter aus Schweizer Schlachtnebenprodukten wäre besser, auch wenn es Getreide und Soja nicht völlig ersetzen könnte.»
Natürlich wären dafür strenge Kontrollen nötig, sagt der Fleischfachmann: «Hühner dürften nur Schlachtnebenprodukte von Rindern oder Schweinen fressen, auf keinen Fall von Geflügel.» Grosse Hoffnungen, dass das bald möglich sein wird, hat Kessler allerdings nicht: «Die Schweiz kann sich hier keinen Alleingang leisten. Die Abkommen mit der EU lassen das nicht zu.»
Die WOZ hat 2006 ausgerechnet, dass die Schweiz etwa die gleiche Menge Eiweiss in Form von Soja importiert, wie sie tierisches Eiweiss vernichtet. Eine absurde Sache. Doch solange am Tiermehl das Image von Rinderwahnsinn klebt, traut sich niemand, eine grosse Kampagne dafür zu starten.
Mutter Imfelds Hühnersuppe
«Als ich einmal tropenkrank war und ohne jeglichen Appetit darniederlag, fragte mich die Mutter am Telefon, ob mir denn niemand eine Hühnersuppe machen könne? Ihr Rezept war einfach: ‹Setze ausser etwas Bouillon nichts hinzu. Nimm bloss das Huhn. Vielleicht eine Zwiebel und eine Knoblauchzehe. Das Huhn soll wissen, dass es respektiert und nicht nur scheinbar benutzt wird.›» Eine koreanische Freundin empfahl Al Imfeld, auch noch einen Wirz beizufügen: «Für kranke Menschen ist es wichtig, dass die zwei Kontrast-Kräfte zu einem Sud werden: Kohl aus dem vegetarischen Bereich und Huhn, das bescheidenste aller Tiere.»
Al Imfeld: «Al dente. Geschichten aus den Küchen der Welt». WOZ im Rotpunktverlag. Zürich 2004. 200 Seiten. 28 Franken.