John Jeremiah Sullivan: «Pulphead» : Eine ganz besondere Sorte von Wahrheit
Aus den Untiefen der Paralleluniversen: Der US-amerikanische Reporter John Jeremiah Sullivan bringt gegenwärtige Widersprüche und Bizarrerien in seinem Heimatland in wundersamen Farben zum Leuchten.
Seit über zwanzig Jahren schon wird auf MTV die US-Fernsehsendung «The Real World» ausgestrahlt: eine Reality-TV-Show, die nicht nur ihre eigenen Gesetze hat; immer wieder bringt sie auch Stars von durchaus eigenem Format hervor – besonders beliebte HausbewohnerInnen wie etwa den Miz, einen muskulösen weissen Provinzler mit dröhnend-jovialen Alleinunterhalterqualitäten.
Der Reporter John Jeremiah Sullivan hat sich mit dem Miz in einem Club getroffen. Sein daraus hervorgegangener, ebenso gescheiter wie lebenspraller Essay mit dem Titel «Der wahre Kern der Wirklichkeit» ist eine von sechzehn Reportagen von Sullivan, die nun im Sammelband «Pulphead. Vom Ende Amerikas» auch auf Deutsch zu lesen sind. Sie handelt von dem ganzen geregelten Wahnsinn dieser Reality-TV-Show, von den halbinszenierten Konflikten, dem Sex, den ständigen Eifersüchteleien und Intrigen. Darüber hinaus erzählt Sullivan aber auch vom Leben nach «The Real World». Da geht es dann um die daueralkoholisierten Schattenwelten, die Spring-Break-Partys, die ungezählten Clubs und Bars, durch die die BewohnerInnen tingeln, wenn ihre Staffel vorbei ist. Manchmal tun sie das viele Jahre lang, denn, so der Miz: «Von irgendwas muss man ja leben.»
Minutiöse Beobachtung
John Jeremiah Sullivan, 1974 in Louisville/Kentucky geboren und wohnhaft in North Carolina, ist einer der StarautorInnen der jüngeren amerikanischen Essay- und Reportagenkultur – ein Vertreter einer Kultur des Schreibens also, die es im deutschsprachigen Raum in dieser Form wohl auch deshalb kaum gibt, weil wir hier entsprechende Zeitschriften mit ausreichend Platz für ebenso eigensinnig kluge wie hochunterhaltsame Reportagen, Essays oder (Pop-)Kulturanalysen so nicht kennen. Zeitschriften, die vergleichbar wären mit Titeln wie «GQ», «Harper’s Magazine», «The Paris Review» oder «n+1» sucht man vergeblich. Darüber hinaus mangelt es vielleicht auch an AutorInnen, die talentiert und mutig genug sind, die Gepflogenheiten des sogenannten seriösen Journalismus ein bisschen umzukrempeln. Diese allerdings akribische Recherche und minutiöse, teilnehmende Beobachtung mit der eigenen, individuellen (Vor-)Erfahrung zu amalgamieren, würde auch bedeuten, «ich» zu schreiben, wann immer man es für angebracht hält.
«Hallo, Primärfarben!»
Sullivan tut all das sehr häufig in einem Text – etwa, wenn er beschreibt, aus welchem Stoff die von ihm aufgesuchten Paralleluniversen so gestrickt sind: das Reggae-Rasta-Universum Jamaikas ebenso wie der erzreaktionäre Kosmos der Tea Party. Wenn Sullivan das von der Naturkatastrophe Katrina heimgesuchte New Orleans besucht und dabei Menschen zu Wort kommen lässt, denen alles abhandengekommen ist bis auf ihr nacktes Leben, findet er sich selbst am Ende der Reportage in einem Benzinknappheits-Szenario à la «Mad Max» wieder. Die Situation droht zu eskalieren, als jemand behauptet, Sullivan selbst habe sich in der meilenlangen Schlange vor der einzigen Tankstelle dreist vorgedrängelt. Und wenn sich der Reporter auf die Suche nach den proletarischen Wurzeln von Axl Rose, dem Sänger der legendären Band Guns ’n’ Roses, macht, geht er weit zurück in seine eigene Kindheit, um bestechend einfühlsam vom Zufall zu erzählen, der darüber entscheidet, wer es rausschafft aus der Provinz – und wer nicht. Oder Sullivan beschreibt, wie die Deformationen ausschauen, die man mitnimmt: die von Axl Rose zum Beispiel.
Sullivans Schilderungen eigener Erfahrungen schaden den erfreulich vorurteilsfreien und von immenser Neugier getragenen Texten keineswegs. Vielmehr befördern sie zusätzliche Erkenntnisse zutage. Gerade über die emphatisch ausformulierte Subjektivität entsteht ja auch eine besondere Sorte Wahrheit: die individuelle nämlich, die gar nicht erst so tun muss, als wäre sie objektiv. Und die eine doppelte Nähe herstellt, zwischen LeserIn und Erzähler ebenso wie zwischen dem Autor und den Porträtierten. Wieso das «ich» hierzulande so verpönt ist? Gute Frage.
Konsequenterweise reist Sullivan nicht allein, sondern mit seiner sowie einer befreundeten Familie nach Disney World in Florida, um in der Reportage «Hey, Mickey!» die Entstehungsgeschichte und die Mechanismen dieses wahrscheinlich wohl mächtigsten und blitzsaubersten aller US-amerikanischen Unterhaltungsparadiese zu untersuchen. «Und dann waren wir wirklich in Disney World angekommen. Dort landete man nicht jeden Tag», schreibt er. «Also, was geht? Hallo, Primärfarben. Hallo, sekundenlang aufscheinende Mikrodramen vorbeiziehender Gesichter, die sich hundertfach für oder gegen Blickkontakt entscheiden müssen (…).»
Nein, leicht ist das nicht zu ertragen – aber Sullivan gibt sich für seine Lieben alle Mühe, kein Spielverderber zu sein. Und so kumuliert in «Hey, Mickey!» sein hochamüsanter, nachgerade paranoider Witz in der Schilderung seiner verzweifelten Suche nach einem provisorischen Versteck für kurzzeitige Ruhe: Wo ist es bloss, verdammt, das Plätzchen, an dem man einen Joint rauchen kann, ohne erwischt und wie ein Schwerverbrecher abgeführt zu werden?
Kurzweilige Abschweifungen
Sechzehn tolle, reichhaltige Texte enthält der Sammelband «Pulphead». Weshalb aber hat ihm der Suhrkamp-Verlag bloss den irreführenden Untertitel «Vom Ende Amerikas» verpasst? Da ist nämlich nirgends ein Ende in Sicht und auch weit und breit kein apokalyptisch gestimmter Kulturpessimist zu hören, der meint, mal wieder das Ende ausrufen zu müssen. Sullivan ist vielmehr ernsthaft interessiert an der Gegenwart und Geschichte seines Landes – und an den Figuren, die es bevölkern.
Wobei: «Figuren» trifft es nicht. Menschen sind es – dreidimensional, frappierend lebendig. Sullivan schreibt bildgewaltig, pointiert und fintenreich. Er bringt die gegenwärtigen Widersprüche und Bizarrerien der USA in Farben zum Leuchten, die selbst nicht ganz von dieser Welt zu sein scheinen. Bisweilen schreibt er seine Reportagen so, wie hervorragende SchriftstellerInnen ihre Short Stories zu schreiben pflegen.
Darüber hinaus versteht sich John Jeremiah Sullivan auch auf die hohe Kunst der kurzweiligen Abschweifung. Das ist eine ganze Menge, fürwahr – erst recht, wenn so viel Herz im Spiel ist.
Bunte Lichter im Club und auf dem Gesicht vom Miz, der gerade mit einem Mädchen tanzt, dessen Brust er signiert hat. John Jeremiah Sullivan verabschiedet sich: «Ich muss los!» – «Alles klar, Alter!» Der Miz tanzt weiter. «In diesem Augenblick fiel es mir unheimlich schwer, etwas Schlechtes über den Miz zu denken. Erinnern Sie sich an Ihr letztes Jahr im College? Wie das war? Feiern war alles, worum man sich kümmern musste, und wenn man loszog, spürte man, dass die Leute einen cool fanden. Es war ein grosser Spass, jung und Amerikaner zu sein. Erinnern Sie sich an dieses Gefühl? Ich mich auch nicht. Aber der Miz erinnert sich. Er hat einen Weg gefunden, für immer in diesem Gefühl zu leben. Drückt ihm die Daumen, Leute.»
John Jeremiah Sullivan: Pulphead. Aus dem Amerikanischen von Kirsten Riesselmann und Thomas Pletzinger. Edition Suhrkamp. Berlin 2012. 416 Seiten. Fr. 28.90