«Widerspruch: Care, Krise und Geschlecht» : Pflege wie Reichtum umverteilen

Nr.  8 –

Wer versorgt uns noch, wenn der Sozialstaat weggespart wird? Die Wirtschaftskrise wird zunehmend zur Sorgekrise. Der neuste «Widerspruch» bietet einige spannende und gut lesbare Analysen.

Es gibt die Ökonomie, die von wichtigen Männern an grossen Universitäten gelehrt wird. Und dann gibt es die feministische Ökonomie. Es ist vergleichbar mit der Biologie, die sich mit allem Lebendigen beschäftigt – die Biologie hat ihre Fach- und Untergebiete wie Zoologie (Tierkunde) und Ornithologie (Vogelkunde) oder Malakologie (Schnecken- und Würmerkunde).

Die feministische Ökonomie ist im grossen Reich der Wirtschaft etwa auf der Ebene der Schneckenkunde angesiedelt – zumindest in der Wahrnehmung derer, die in der Öffentlichkeit definieren, was Ökonomie ist. Derweil der Begriff «Ökonomie» sich aus dem griechischen «oikonomos» («WirtIn» oder «HaushälterIn») herleitet, womit man genau dort landet, wo die feministische Ökonomie hinschaut: beim Ganzen und nicht nur beim ökonomischen Bereich, der in Geld bemessen wird.

Es existiert ein weites Feld unbezahlter Arbeit: putzen, kochen, Kinder grossziehen oder alte Menschen versorgen. In der Schweiz wird übrigens mehr unbezahlt gearbeitet als bezahlt, das hat die Basler Ökonomin Mascha Madörin schon vor Jahren ausgerechnet.

Verschleiernde Sprache

Die neuste Ausgabe des «Widerspruchs» trägt den Titel «Care, Krise und Geschlecht» und beschäftigt sich mit diesen Fragen. Die Care-Diskussion ist nicht neu und nicht einfach. Geht es um Gratisarbeit? Darum, dass sie bezahlt wird? Und was genau zählt zur Care-Ökonomie? Die Diskussion ist wenig zugänglich, und das hat mit der verwendeten Terminologie zu tun. Die deutsche Soziologin Frigga Haug kritisiert in ihrem «Widerspruch»-Beitrag, dass man in der Debatte nie versucht habe, eine eigene, eingängige Sprache zu finden: «Das Erste, das einem auffällt, ist, dass alle Begriffe im Angebot englisch bleiben – oder in einem artifiziellen Englisch gehalten sind wie «Gendermainstreaming» – und gar kein Versuch selbstdeutender Begriffsfindung im Deutschen mehr gemacht wird, was ja der Anfang eigenen Denkens wäre.»

Die wenigsten dürften verstehen, was mit der Genderdebatte genau gemeint ist, vielleicht wissen sie gerade noch, dass es irgendwie um die Geschlechterfrage gehen muss. Haug ärgert sich erfrischend direkt über diese Anglizismen: «Gender, das sind Frauen, unter einer sprachlichen Burka versteckt.»

Diese sprachliche Verschleierung lähmt aber die politische Auseinandersetzung. Oder wie Haug es ausdrückt: «In den vielfältig und heftig geführten Debatten um die Frage, ob Hausarbeit produktive Arbeit sei, Mehrwert schaffe, unter Gebrauchswert- wie auch Tauschwertgesichtspunkten zu analysieren (…) sei, wurden die politischen Fragen der Frauenunterdrückung immer abgehobener, bis sie schliesslich nur noch für Eingeweihte verständlich waren.»

Aber das kann es nicht sein, dafür ist die Diskussion zu zentral. Toll ist, dass der aktuelle «Widerspruch» nicht in diese Falle tappt. Die Texte sind verständlich und zum Teil auch sehr nahe am Alltag dran.

Michèle Amacker schildert in ihrem Beitrag «Man kommt sich sehr sehr wertlos vor» die Geschichten dreier Frauen, die in höchst prekären Verhältnissen leben: zum Beispiel Marta Gut. Sie ist 58 Jahre alt, hat ihre Kinder grossgezogen, ihre Schwiegereltern und auch ihren Mann bis zum Tod gepflegt. Doch am Ende wird Marta Gut für ihre jahrelange Sorgetätigkeit bestraft: Sie konnte selbst nie richtig Geld verdienen, müsste kurz vor der Pensionierung noch Lohnarbeit annehmen, findet aber keinen Job, weil sie keine Ausbildung hat, und bekommt am Ende die tiefste Rente.

Prekäre Pendelmigration

Vor allem Frauen leisten Sorgearbeit – bezahlt wie unbezahlt. Das Problem ist, dass sich diese Arbeit nicht effizienter gestalten lässt: Güter lassen sich dank neuer Verfahren und Maschinen immer schneller und besser produzieren – bei der Sorgearbeit geht das nicht, die Pflege von Menschen lässt sich nicht effizienter gestalten, Kinder lassen sich nicht schneller erziehen. Mascha Madörin schrieb schon vor über zehn Jahren in der WOZ: «Der Neoliberalismus kann als Versuch gesehen werden, die Produktivitätsgrenzen der Care-Ökonomie zu sprengen, das Soziale im wahrsten kapitalistischen Sinn des Wortes zu ökonomisieren.»

Zehn Jahre später zeichnet Sarah Schilliger nun in ihrem «Widerspruch»-Beitrag «Care-Migration» nach, was das heute konkret bedeutet. Immer mehr osteuropäische Frauen pendeln zwischen ihrer Familie zu Hause und der Schweiz – hier pflegen sie zwei Wochen lang einen alten Menschen, zu Hause kümmern sie sich dann zwei Wochen lang um ihre Familie. Das ist für unser Land angenehm praktisch und billig: «Hier in der Schweiz ist die pure Arbeitskraft gefragt, die soziale und kulturelle Reproduktion der Arbeitskraft erfolgt im Herkunftsland (…). Den Migrantinnen müssen keine Ausbildungen oder Erwerbsausfälle bezahlt werden, und im Alter müssen sie nicht in der Schweiz betreut werden», schreibt Sarah Schilliger.

Mit der Finanzkrise hat sich die Situation noch massiv verschärft. Wenn man die Pflege – für die der Staat bislang aufgekommen ist – nicht billiger machen kann, wird eben gespart: «Mit ihrer Haus- und Pflegearbeit füllen die Migrantinnen zunehmend die Lücken des durch Sparprogramme redimensionierten Sozialstaates, werden aber vom Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen weitgehend ausgeschlossen.»

Ohne Sorgearbeit kein Wohlstand

Die Frauen erhalten zwar einen Lohn, doch schafft der nicht Gleichheit: Es expandiere ein Arbeitsmarkt, «auf dem prekäre Bedingungen herrschen, so etwa tiefe Löhne, entgrenzte Arbeitszeiten, unentlöhnte Bereitschaftsdienste, wenig Ruhezeit, kein Kündigungsschutz, keine Erwerbsausfallversicherung».

Die Kürzungen in den Sozialleistungen treffen Frauen gleich mehrfach. Sie sind es, die durch zusätzliche Gratisarbeit die wegfallenden Leistungen des Staats (sei es im Bereich der Kinderbetreuung oder der Pflege) auffangen müssen. Sie sind aber auch stärker von den Sozialleistungen abhängig als Männer, wie Shahra Razavi in ihrem Beitrag über die Krisenpolitik und die Care-Krise darlegt: «Kürzungen bei Sozialleistungen werden auch überproportional die Finanzen von Frauen betreffen, weil die Sozialleistungen durchschnittlich zwanzig Prozent des Einkommens einer Frau ausmachen, verglichen mit nur zehn Prozent des Einkommens eines Mannes.»

Es ist ein Irrsinn, in der Ökonomie die Sorgearbeit nicht mitzudenken, denn der Wohlstand einer Gesellschaft beruht darauf, dass sich Menschen um andere Menschen kümmern können. Und um das sicherzustellen, braucht es umfassende staatliche Care-Leistungen. Es braucht aber auch eine Umverteilung: So wie Reichtum nicht in den Händen weniger sein soll, soll die unbezahlte Arbeit nicht primär auf den Schultern der Frauen lasten.

Diverse Beiträge entstanden im Kontext der Tagung «Gender Macht Arbeit?» von Wide Switzerland, 
einer nationalen Plattform von Women in Development Europe, 
www.wide-network.ch. Zur Tagung siehe «Und wer kocht in der Kinderkrippe?», WOZ Nr. 19/12 .

Widerspruch: Care, Krise und Geschlecht. Ausgabe Nr. 62. Zürich 2013. 224 Seiten. 25 Franken