Enzyklopädie der zeitgenössischen Irrtümer (24): Empathie (immer friedensstiftend)

Nr. 9 –

In den achtziger Jahren war es die Spontaneität, die zur Leittugend erklärt wurde. Nun setzt sich die Empathie als vorteilhafte Fähigkeit durch.

Wohlklingend schwebt es über Küchentischen, in Kantinen und Lehrerzimmern – vermutlich säuselt es auch schon über Chefsesseln: «Empathie» lautet das Wort, das so hübsch über Lippen huscht und in Fernsehstudios darauf lauert, vielsagend ausgesprochen zu werden.

Gemeinhin wird darunter die Fähigkeit verstanden, Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen oder Tiers zu erkennen, zu verstehen und darauf reagieren zu können. Eben diese Fähigkeit geniesst nun also verbreitet Sympathie. Beiläufig wird allüberall eingestreut, wie wichtig Einfühlung im zwischenmenschlichen Bereich sei – und also Empathiemangel eines der grössten Probleme in der westlichen Welt. Und weil Empathie zunehmend als Qualitätseigenschaft anerkannt wird, taucht das Wort immer häufiger auch in Bewerbungsschreiben auf.

Gefragt sind längst nicht bloss einfühlsame Krankenpflegerinnen, Schauspieler und Sozialarbeiterinnen. Gefragt sind ebenso empathische Polizisten, mitleidsaktivierte Managerinnen und empathiestrotzende Zuhälter. Gewiss wird sich auch der neue Papst als hoch konzentriertes Empathiewesen erweisen, nachdem der urchristliche Begriff des Mitleids verstaubt ist. Und wie immer, wenn sich eine Fertigkeit als gesellschaftsrelevant und somit auch karrierefördernd erwiesen hat, kann sie alsbald gemessen werden: Schon haben WissenschaftlerInnen einen «Empathie-Fragebogen» entwickelt – auf dass Empathie zertifiziert und dereinst als olympische Disziplin anerkannt wird.

In den achtziger Jahren war es die Spontaneität, die zur Pflicht erklärt wurde. Alles musste plötzlich spontan sein. Und so grassierte Spontaneität durch die Strassen und fegte alles weg, was sich nicht dem Spontaneitätsdiktat beugte. Was wurde nicht alles spontan verrichtet: unterlassen, entlassen, vergessen. Was sich hinter dem charmanten Begriff versteckte, erwies sich später als Tarnung für kollektive Unverbindlichkeit. (Ähnliches liesse sich über «Toleranz» sagen: wie schnell doch mit einem falsch verstandenen Leitbegriff allgemeine Ignoranz gerechtfertigt werden kann.)

Was für ein Zeitgeist sich wohl hinter der aktuellen Empathiewelle versteckt? Es ist ja nicht so, dass Empathie ausschliesslich friedensfördernd wäre. Schon im 18. Jahrhundert warnte der Philosoph Immanuel Kant vor den Gefahren gewisser Einfühlungskünste – vor Politikern etwa, die das Volk beeinflussen, indem sie sich in dessen Wünsche hineinfühlen. Empathie ist aber längst auch als Waffe entdeckt worden, die sich vorzüglich für den persönlichen Erfolg gebrauchen lässt. Ob in der Mitarbeiterführung, im Verkauf oder in der psychologischen Kriegsführung: Empathie tanzt auf vielen Hochzeiten – überall, wo es darauf ankommt, sich vorteilhaft in Gedanken und Gefühle eines Gegenübers (einer Kundin oder eines Feindes) hineinzuversetzen.

Diese Rolle der Empathie sollte man bei all der Begeisterung nicht vergessen – schon gar nicht im fortgeschrittenen Neoliberalismus, zumal obsessive Einfühlung zur veritablen Belästigung werden kann. Insbesondere wenn im Sog der Empathiewelle keine Gelegenheit ausgelassen wird, Empathie zu leisten, als ob es darum ginge, möglichst viele Empathiepunkte zu sammeln.

Die demonstrative Empathie, mit der Politiker vielsagend vor Gräbern schweigen, ist im Mainstream angekommen. So fühlt sie sich mittlerweile bis in die hintersten Winkel hinein. Doch auch ungeheuchelte Empathie ist mit Vorsicht zu geniessen: Oft verhindert sie die Auseinandersetzungen, die es in einem konstruktiven Diskurs braucht. Indem sie vorschnell Unterschiede zukleistert, entbindet sie uns allzu bequem davon, Stellung zu beziehen – und kann so zur «voreiligen Versöhnung» führen, wie sie Ludwig Hohl in den dreissiger Jahren in seinen «Notizen» beschrieben hat.

Deshalb: Seid emphatisch, wo es konstruktiv ist, still und unspektakulär. Und zeigt euer Unverständnis, wo es notwendig ist, klar und unnachgiebig. Spielt nicht Spontaneität, nicht Empathie und schon gar keine Philharmonie. So weit kommt es grad noch bei all der künstlichen Menschenliebe in feindseligen Zeiten.