Audre Lorde: Wo sind die schwarzen Frauen?

Nr. 13 –

Die Unterschiede betonen, um gemeinsam das Herrenhaus einzureissen: Die lesbische, afroamerikanische Lyrikerin Audre Lorde (1934–1992) inspiriert junge Aktivistinnen in der Schweiz von heute.

«Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter.» Mit dieser Aufzählung beschrieb die 1992 verstorbene US-amerikanische Lyrikerin Audre Lorde zu Beginn von Lesungen jeweils ihre Identität, um möglichst allen im Publikum eine Anknüpfung an ihre Texte zu ermöglichen. Am Publikum im Zürcher Theater Stadelhofen hätte sie am letzten Samstag bestimmt Freude gehabt: Es gab viele Frauen und Schwarze, viele mit queer geschnittenen Frisuren. Als weisser, männlicher Berichterstatter zählte man augenscheinlich zur Minderheit, blieb eine Variante unter vielen. Das Kellertheater war bis auf den letzten Platz besetzt, Leute mussten an der Kasse abgewiesen werden. Zum Lorde-Anlass eingeladen hatten das Nationalfonds-Projekt «Postkoloniale Schweiz» und Sankofa, die Plattform für Menschen afrikanischen Erbes.

Die Kulturwissenschaftlerin Kelechi Mennel erinnerte zu Beginn an einen programmatischen Text von Lorde mit dem Titel: «Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreissen.» Ob Lordes Handwerkszeug heute noch zu gebrauchen ist, dieser Frage wollte der Anlass nachspüren. Als «lebendige Erinnerung», wie die Historikerin Jovita dos Santos Pinto ergänzte. Mit ihren Lesungen in Zürich hat die Lyrikerin auch zum Selbstbewusstsein der schwarzen Frauen in der Schweiz beigetragen.

Audre Lorde wurde 1934 als Tochter karibischer EinwanderInnen in Harlem geboren. Sie bildete sich zur Bibliothekarin aus, veröffentlichte in den sechziger Jahren erste Gedichte und engagierte sich in der schwarzen feministischen Bewegung in den USA. In der Diskussion mit weissen Feministinnen machte sie sich für einen genauen Blick auf die spezifischen Benachteiligungen der einzelnen Bevölkerungsgruppen stark. Erst aus dem Bewusstsein der Differenzen könne eine gemeinsame Politik entstehen. Im erwähnten Text heisst es dazu: «Wenn weisse feministische Theorie meint, sich nicht mit den Unterschieden zwischen uns beschäftigen zu müssen und mit den sich daraus ergebenden Unterschieden unserer Unterdrückung, wie geht ihr dann mit der Tatsache um, dass Frauen, die eure Wohnungen putzen und auf eure Kinder achtgeben, während ihr an Konferenzen über feministische Theorie teilnehmt, vorwiegend mittellose Frauen und ‹women of color› sind?»

«The Berlin Years»

Lorde verstand sich als «reisende Kulturschaffende», die ihr Wissen unterwegs sammelte und weitergab, wie der Film «The Berlin Years» zeigte. Häufig sieht man sie lachend, im legeren Pulli. In Berlin wurde Lorde Gastprofessorin an der Freien Universität und prägte den Begriff «Afro-Deutsche»: «Die Bindestrich-Menschen eröffnen Europa die letzte Chance, mit Verschiedenheit kreativ umzugehen, statt vorzugeben, sie existiere nicht, oder sie zu vernichten.» Als in der Nacht des Mauerfalls ein Schwarzer in einer U-Bahn zusammengeschlagen wurde, schrieb sie einen offenen Brief an den damaligen Kanzler Helmut Kohl, der in mehreren Zeitungen abgedruckt wurde. «Audre schaute sich immer die andere Seite des Ruhms an», meint eine Weggefährtin im Film.

1984 kam Lorde für eine erste Lesung nach Zürich. Brigit Keller, die sie als damalige Studienleiterin an die Paulus-Akademie eingeladen hatte, erinnerte sich in der Diskussion. «Immer wieder hat sie gefragt: ‹Wo sind die schwarzen Frauen?› Ich war etwas verlegen.» Zeedah Meierhofer-Mangeli war als einzige dabei. «Ihre Texte haben mich nicht inspiriert, dafür die persönliche Begegnung.» Lorde ermunterte sie, sich mit anderen schwarzen Frauen zu vernetzen. So entstand zuerst eine private Gesprächsrunde und dann 1993 der Treffpunkt Schwarzer Frauen in Zürich. Zum zwanzigjährigen Bestehen des Treffpunkts wird in diesem Herbst ein Buch erscheinen.

Dass auch eine jüngere Generation von «women of color» mit Lorde etwas anfangen kann, zeigte das Podium rasch. «Sie hat mich in jedem Jahrzehnt begleitet», meinte Fachhochschuldozentin Rahel El-Maawi. Früher beim Coming-out – «über das Lesbischsein lernte ich in der US-Literatur am meisten». Heute nützt ihr Lorde bei der Diskussion mit Studierenden über Differenzen. «Wörter wie ‹bildungsnah› oder ‹bildungsfern› aus der Migrationsdebatte scheinen mir manchmal verschleiernd. Vielleicht sollten wir die Kategorien wieder zuspitzen und wie Lorde von ‹race› oder ‹class› sprechen.»

Für die Genfer Politologin Noémi Michel ist Lorde aktuell, weil sie gezeigt habe, wie sich komplexe Identitäten beschreiben lassen. Und wie man kreativ mit Gefühlen umgeht. Michel forscht zum Widerstand gegen fremdenfeindliche Bilder im öffentlichen Raum. Plakate wie die von der SVP mit weissen und schwarzen Schafen würden von den Betroffenen als Verletzung empfunden. «Lorde zeigt, wie aus Wut, Angst, Liebe, Lust etwas Positives entsteht.» Sie motivierte, sich selbst zu erkennen und handlungsfähig zu werden.

All die Emotionen

Die Emotionen bei Lorde sind auch der Musikjournalistin Serena Dankwa wichtig: «Ich kann mit ihrer Sinnlichkeit mehr anfangen als mit ihrer Literatur. Der eigene Körper soll bejaht werden.» Lorde starb 1992 an Krebs, die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit war zu ihrem letzten grossen Thema geworden.

Mögliche Grenzen von Lordes Denken – etwa ihre Betonung der Heiligkeit des Körpers – wurden von den Moderatorinnen Jovita dos Santos Pintos und Patricia Purtschert nur noch gestreift. Sie hätte, so die einhellige Meinung, auf dem Podium, auf neue Fragen, etwa in der Transgenderdiskussion, gewiss «neugierig» reagiert. Gar nicht zur Sprache kam am Ende eines spannenden Nachmittags leider, warum sich die Wissenschaft und der Aktivismus, vergleichbar mit der Retromania in der Musik, mit Figuren von gestern beschäftigen. Dies in der Hoffnung, die Diskussion komme zumindest in der Gegenwart an. Von der Zukunft wagte noch niemand zu sprechen. «Wir gehen weiter», beschliesst Lorde die Handlungsanweisung zum Abriss des Haus des Herren.