Kommentar: Demokratie, Relevanz und Polarisierung
Die venezolanische Opposition will das knappe Resultat der Präsidentschaftswahl vom 14. April nicht akzeptieren. Sie unternimmt alles, um die Reformen der letzten Jahre rückgängig zu machen.
Nach den anhaltenden Protesten der bürgerlichen Opposition zweifelt die Weltöffentlichkeit – allen voran Washington – mal wieder am Zustand der venezolanischen Demokratie. Zwar sind die Falschmeldungen der letzten Tage mittlerweile widerlegt: Die acht Toten stammen nicht etwa aus Oppositionsreihen, sondern sind Chavistas, AnhängerInnen des Anfang März verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez – sie wurden bei Angriffen von Oppositionellen auf staatliche Einrichtungen getötet. Und auch die These der Wahlfälschung scheint vom Tisch. Nachdem 54 Prozent der Urnen sofort nach Zufallsprinzip gegengezählt worden waren, werden auch noch die fehlenden 46 Prozent manuell überprüft. Doch nun kehren die internationalen MeinungsmacherInnen zu ihrer alten Kritik zurück: Die politische Polarisierung bedrohe die Demokratie in ihren Grundfesten. Das System sei am Ende, weil sich zwei fast gleich grosse Lager unversöhnlich gegenüberstehen.
Diese Kritik ist nicht nur deshalb verlogen, weil die Polarisierung der letzten Tage massgeblich von der – international unterstützten – Opposition ausging. Auch der Zusammenhang selbst lässt sich anders darstellen: Die Heftigkeit des Konflikts in Venezuela hat nicht zuletzt damit zu tun, dass dort, anders als in vielen Staaten Europas, nicht nur über das Regierungspersonal, sondern auch über die Inhalte der Politik abgestimmt wird.
In Europa und den USA machen immer mehr WählerInnen überrascht die Erfahrung, dass Sozial- und Wirtschaftspolitik vom Wahlausgang offensichtlich völlig unberührt bleiben. Egal wer gewinnt – die Politik bleibt praktisch gleich. In Venezuela hingegen haben Wahlen Relevanz. Dort geht es nicht nur um die Zusammensetzung von Regierungskoalitionen, sondern um die Organisation der Wirtschaft, das Demokratiemodell, die aussenpolitische Ausrichtung des Landes und die Verteilung des Reichtums. Genau das ist der Grund, warum sich die politischen Lager in Venezuela so unerbittlich gegenüberstehen. Es geht um nichts weniger als die Frage: neoliberaler Kapitalismus oder lateinamerikanisch-sozialistischer Wohlfahrtsstaat? Wo sonst auf der Welt lässt sich behaupten, dass so grundlegende Fragen alle sechs Jahre einem Plebiszit unterzogen werden?
Doch wenn diese Behauptung stimmt, warum sind die Wahlen so knapp für den Chavismus ausgegangen? Immerhin müsste doch die überwältigende Mehrheit der VenezolanerInnen ein Interesse an der Fortsetzung der Sozialpolitik haben. Die knappe Mehrheit hat zum einen mit der Entwicklung des Chavismus selbst zu tun. Da Venezuelas Ölreichtum – nicht erst seit Chávez – vom Staatsapparat kontrolliert wird, wuchern Bürokratie und Korruption. Mit der «Boli-Bourgeoisie» – benannt nach der Bolivarischen Revolution, dem von Chávez initiierten politisch-sozialen Prozess – ist eine neue aufstrebende Oberschicht entstanden, die von der einfachen Bevölkerung ähnlich weit entfernt ist wie die von der Opposition repräsentierten traditionellen Eliten. Chávez galt vielen VenezolanerInnen als Garant dafür, dass diese aufstrebende Schicht nicht völlig die Oberhand gewinnt. Doch viele WählerInnen hegen Zweifel, ob der Elitenbildung von der neuen Führung etwas entgegengesetzt werden kann.
Der zweite Faktor sind die Pressefreiheit und der äussere Druck. Die öffentliche Meinung Venezuelas wird nach wie vor von privaten Medienkonzernen beherrscht. Zwar ist im Ausland viel von der angeblichen Gleichschaltung der Presse die Rede, doch – mit zwei Ausnahmen – sind nach wie vor alle Tageszeitungen Venezuelas in den Händen der Opposition. Auch beim Fernsehpublikum haben die bürgerlichen Kanäle gegenüber dem Staatsfernsehen die Nase vorn. Dazu kommt, dass die Opposition aussenpolitisch offensichtlich über die mächtigeren Verbündeten verfügt. Der Druck der USA, die Regierung des neuen Präsidenten Nicolás Maduro nicht anzuerkennen und Venezuela damit – ähnlich wie einst Chile – ins Chaos zu stürzen, war in den vergangenen Tagen gewaltig.
Offensichtlich gibt es in Venezuela zwischen Regierung und Opposition keinen eigenständigen politischen Platz. Man mag das bedauerlich finden, doch letztlich ist das in einem Prozess, bei dem es um nichts weniger als die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft geht, nicht besonders verwunderlich. Sicher gibt es gute Gründe, dem Staatsapparat und Teilen der Regierungspartei PSUV zu misstrauen. Doch die Alternative dazu ist klar: die Rückkehr der alten Eliten und damit der neoliberalen, an Washington orientierten Politik. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles hat sich im Wahlkampf zwar um ein gemässigtes Auftreten bemüht, doch man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass von dieser Zurückhaltung im Ernstfall nicht viel übrig bleiben würde. Die Opposition will an die Macht, um die eingeleiteten Reformen rückgängig zu machen. Dafür ist sie bereit, auf alle erdenklichen Mittel zurückzugreifen. Venezuelas Polarisierung hat nicht in erster Linie mit der chavistischen Rhetorik zu tun. Sie ist den zugrunde liegenden sozialen und ökonomischen Interessen geschuldet.