Industrielle Landwirtschaft: Nur wenn geschossen wird, schauen alle auf die PflückerInnen

Nr. 18 –

Die Schüsse auf ErdbeerpflückerInnen in Griechenland vor zwei Wochen waren kein Einzelfall. Vielmehr haben die katastrophalen Arbeitsbedingungen immer wieder ähnliche Folgen, sei es in Andalusien, Süditalien, Marokko oder Griechenland.

Sechs Monate hatten die rund 200 vornehmlich papierlosen MigrantInnen aus Bangladesch, Pakistan und Afghanistan keinen Lohn für ihre Arbeit auf den griechischen Erdbeerfeldern von Manolada im Nordwesten des Peloponnes erhalten. Als sie vor zwei Wochen ihren Lohn einfordern wollten, schossen drei griechische Vorarbeiter der Plantage Vagelatos S.A. mit Gewehren in die Menge und verletzten bis zu dreissig der ArbeiterInnen schwer. Der Betrieb baut Erdbeeren für den russischen sowie für den west- und nordeuropäischen Markt an.

Miese Bedingungen überall

Von einem «Angriff der Erdbeermafia» war danach die Rede, von einem «wachsenden Rassismus in Griechenland» und von der Schande der «menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen» in der Agrarwirtschaft. Sämtliche griechische Parteien verurteilten den «kriminellen und rassistischen Akt» – sogar die faschistische Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), deren Mitglieder für viele der gewalttätigen Übergriffe der letzten Monate gegen MigrantInnen verantwortlich gemacht werden. AktivistInnen riefen via Twitter zu einem weltweiten Boykott der «blutigen Erdbeeren» aus Manolada auf. Und die Polizei nahm zwar vier der illegalen MigrantInnen direkt im Spital in Gewahrsam, um sie abzuschieben, aber sie verhaftete auch den Plantagenbesitzer Nikos Vagelatos und die drei Täter.

Seither ist es still geworden um Manolada. Einzig von einem «gefährlichen» Rückgang des Absatzes von Manolada-Erdbeeren war noch die Rede – Menschenrechtsgruppen melden sich, die eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung für ArbeiterInnen in der Landwirtschaft forderten.

Dass es sich bei den Schüssen in Griechenland nicht um einen Einzelfall handelt, zeigt ein Blick auf die Website des Europäischen BürgerInnenforums (EBF). Sei es im südspanischen Andalusien in der Region von Almería, in der auf über 320 Quadratkilometern unter Plastikfolien und in Gewächshäusern das ganze Jahr über Gemüse und Obst angebaut wird, sei es in der marokkanischen Ebene von Souss, im italienischen Apulien, im französischen Departement Bouches-du-Rhône, in den Poldern der Niederlande, im Süden Finnlands, im Osten von Österreich und Deutschland, in Polen oder in der Schweiz: Überall in der industriellen Landwirtschaft, in der in kurzer Zeit eine grosse Menge Produkte geerntet werden muss, arbeiten ArbeitsmigrantInnen zu miserablen Bedingungen, die zuweilen einer «modernen Sklaverei» entsprechen. Sie werden von der regulären Arbeitsgesetzgebung meist nicht erfasst oder bewusst in einem rechtlosen Status gehalten.

Nur die extremsten Fälle der Gewalt gegen diese ArbeitsmigrantInnen schaffen es in die Schlagzeilen. So im Januar 2010, als in der süditalienischen Stadt Rosarno auf zwei afrikanische Landarbeiter geschossen wurde. Daraufhin protestierten Hunderte afrikanischer SaisonarbeiterInnen der Orangenplantagen – was wiederum ein einheimischer Mob zum Anlass für eine Hetzjagd gegen die AfrikanerInnen nahm. Die Ereignisse in Rosarno erinnerten stark an das Pogrom vom Februar 2000 im andalusischen El Ejido: Während dreier Tage war es damals zu Ausschreitungen gegen MarokkanerInnen gekommen. Ihre Unterkünfte wurden angezündet, ihre Geschäfte zerstört, während die Polizei tatenlos zusah.

Nach den Ausschreitungen streikten die MarokkanerInnen, was den landwirtschaftlichen UnternehmerInnen Verluste in Millionenhöhe bescherte. Um die laufende Ernte nicht weiter zu gefährden, machten die Unternehmen und Behörden daraufhin Zusagen: Die TäterInnen sollten zur Verantwortung gezogen werden, die Verletzten eine Entschädigung erhalten und für die ArbeiterInnen anständige Unterkünfte gebaut werden. «Bis heute ist jedoch keines dieser Versprechen erfüllt worden», sagt Raymond Gétaz vom EBF, der seit Jahren immer wieder nach Andalusien reist.

Eine Form der Prostitution

Während solche Ausschreitungen auf den ersten Blick fremdenfeindliche oder rassistische Züge tragen, geht es meist um etwas anderes: «Beim Pogrom in El Ejido wurden gezielt die gewerkschaftlichen Strukturen der Marokkaner kaputt gemacht», sagt Gétaz. Mit Rassismus hätten solche Ausschreitungen nur insofern etwas zu tun, als «Rassismus zum vorherrschenden System der Ausbeutung gehört, in dem die Migranten arbeitsrechtlich nicht gleichgestellt sind».

Die LandarbeiterInnen sind täglich nicht nur physischer, sondern auch struktureller Gewalt ausgesetzt, etwa wenn die Arbeitsschutzbedingungen nicht durchgesetzt werden – oft müssen die ArbeiterInnen ohne ausreichenden Schutz mit giftigen Substanzen wie Pestiziden hantieren. Sie werden isoliert und meist unter miserablen Bedingungen untergebracht – in Almería hausen die ArbeiterInnen in selbst gebauten Unterständen aus Plastikresten und anderen Abfällen, ohne Strom und fliessendes Wasser, weit vom nächsten Dorf entfernt und in eingezäunten Quartieren. Von ihrem kargen Lohn ziehen die UnternehmerInnen häufig Auslagen für Lebensmittel und Unterkunft sowie für Sozialabgaben ab, auf deren Leistungen die Arbeitenden jedoch keinen Anspruch haben. Zudem stehen die MigrantInnen dauernd unter Druck, ihre Anstellung zu verlieren: Wenn sie nicht schnell und lange genug arbeiten, können sie jederzeit durch andere MigrantInnen ersetzt werden.

All dies geschieht, ohne dass die Unternehmen für ihre illegalen Praktiken mit ernst zu nehmenden Strafen rechnen müssten. Auch deshalb gibt es nicht nur in Griechenland, sondern in vielen europäischen Ländern «massenhaft Fälle von nicht ausgezahlten Löhnen», sagt Gétaz. Zwar interveniere beispielsweise die LandarbeiterInnengewerkschaft SOC, die für die Rechte der TaglöhnerInnen in Andalusien kämpft, in vielen Fällen. «Doch bis die Leute zu ihren Löhnen kommen, kann es ein bis zwei Jahre dauern.» Die Menschen würden in eine solche Misere gedrängt, dass sie alles akzeptieren: «Ich habe in El Ejido einen Arbeiter auf der Strasse gesehen mit einem Schild, auf dem stand: ‹Zwei für 30 Euro am Tag›. Die rechtlosen Arbeiter werden bei der Arbeitssuche zu einer Art der Prostitution gezwungen.»

Ein neues Agrarmodell

Doch egal, wie schlecht die Bedingungen auch sind: Nie scheint Mangel an willigen ArbeiterInnen zu herrschen. Laut Gétaz bestehe ein ständiger Bedarf an ArbeitsmigrantInnen. Das wird in deren Heimatländern so kommuniziert, und wenn sie die schlechten Bedingungen akzeptieren, finden die meisten auch eine Beschäftigung. «Der Gemüsemarkt ist relativ stabil. Allerdings ist der Preisdruck weiter gestiegen, denn es gibt immer mehr Regionen, die so wie in Almería produzieren.»

Ändern kann sich laut Gétaz nur etwas, wenn man ausreichend Druck auf die mächtigen Grossverteiler ausübt, die die Preise in der Branche diktieren. So konnte die SOC in Almería dank des öffentlichen und medialen Drucks von KonsumentInnen auf die Schweizer Handelskette Coop die unbegründete und fristlose Entlassung mehrerer langjähriger Angestellter eines Zulieferbetriebs rückgängig machen, die bessere Arbeitsbedingungen gefordert hatten.

Ebenfalls gehandelt werden muss angesichts des dominierenden Landwirtschaftsmodells: «Grundsätzlich geht heute die Agrarpolitik in der Schweiz und in ganz Europa in Richtung einer Eliminierung der Bauern. Dabei wird auf Kosten der Ökologie und der Sozialbedingungen immer weiter rationalisiert», sagt Gétaz. Dagegen brauche es grundlegende Reformen, in denen den Produkten ihr wahrer Wert zurückgegeben und die Menschen wieder «näher an ihre Ernährung» gebracht werden. «So viele Leute haben heute keine Ahnung mehr, was landwirtschaftliche Produktion überhaupt heisst», sagt Gétaz, der selbst in einer Kooperative von Longo Maï lebt und arbeitet, in der andere Perspektiven in der landwirtschaftlichen Produktion gezeigt werden.

Und nicht zuletzt gilt es, die Migrationspolitik zu beeinflussen. Nicht ohne Grund mahnt die EBF in ihrem 2004 erschienenen Buch «Bittere Ernte. Die moderne Sklaverei in der industriellen Landwirtschaft Europas»: «Die Situation von EinwanderInnen ist für die gesamte Gesellschaft eines Landes relevant. Eine Einschränkung der Rechte von MigrantInnen bedeutet immer auch einen allgemeinen Rückschritt, ein Einschnitt in die Rechte aller wird in der Regel damit vorbereitet oder angekündigt.»

www.forumcivique.org/www.labournet.de

Lohndruck in der Schweiz

Bis heute unterliegen Arbeitsverträge in der Schweizer Landwirtschaft weder dem Arbeitsgesetz, noch existiert ein Gesamtarbeitsvertrag. Etwa 30 000  Personen, hauptsächlich aus EU-Ländern, sind offiziell als SaisonarbeiterInnen angestellt. Hinzu kommen 5000 bis 8000 illegal Beschäftigte. Doch selbst für jene mit einem gültigen Vertrag sind die Arbeitsbedingungen prekär. 55 Wochenarbeitsstunden und mehr sind die Regel, die Löhne betragen rund 3200 Franken im Monat.

Daran wird sich in naher Zukunft wenig ändern. Anfang April verabschiedete das Parlament die Vorlage für die Agrarpolitik 2014 bis 2017, mit der der Bund «die Innovation in der Land- und Ernährungswirtschaft stärker unterstützen und die Wettbewerbsfähigkeit weiter verbessern» will. So werden der Rationalisierungsdruck in landwirtschaftlichen Betrieben und der Lohndruck weiter erhöht.