Musikarchäologie: Das Knistern, wenn sich die Nadel in die Rille senkt
Junge Labels entdecken die rohen Sounds traditioneller Stile aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die iPod-Generation neu. Die Palette reicht von griechischem Rembetiko bis zu Hillbilly aus den Appalachen und Musik aus dem Kaukasus.
Was Bob Dylan zum Geburtstag schenken? Neil Young brachte vor einigen Jahren eine CD-Box früher Gospelmusik zur Party mit, die in opulenter Aufmachung vom US-amerikanischen Label Dust-to-Digital veröffentlicht worden war. Die Firma gehört zu einer Handvoll junger Unternehmen, die dem Niedergang der Musikindustrie mit hochwertigen Produktionen trotzen und rare Schellackaufnahmen wilder Gospel-, Blues- und Weltmusik wieder auf den Markt bringen. Labels wie Dust-to-Digital, Tompkins Square, Mississippi Records und Honest Jon’s Records entdecken die vergessenen Klänge der Grammofonära für die iPod-Generation neu.
Dust-to-Digital
«Ich war immer ein neugieriger Hörer und auf Musik aus, die ich noch nicht kannte», erzählt Lance Ledbetter. «Es gibt so viele fantastische Klänge, die irgendwo verschüttet liegen. Die Lust am musikalischen Abenteuer treibt mich an, diese alten Aufnahmen ausfindig und wieder zugänglich zu machen.» Nach seinem Studium machte Ledbetter aus seiner Leidenschaft einen Beruf und gründete 1999 das Label Dust-to-Digital. Was vielen angesichts einer Musikindustrie im freien Fall wie ökonomischer Selbstmord vorkam, entpuppte sich als überraschender Coup. Mit aufwendigen Produktionen hat sich Dust-to-Digital inzwischen zu einem führenden Reissue-Label entwickelt – dekoriert mit Grammys und anderen Auszeichnungen.
Was vor allem überrascht: Dust-to-Digital kommt bei einem jungen Publikum an, das sich sonst nicht für alternative Country Music, primitiven Blues, wilden Rock ’n’ Roll und Rockabilly sowie mysteriöse Weltmusikklänge interessiert. Vielleicht ist es das Knistern, wenn die Nadel in die Rille sinkt, das VertreterInnen der DJ-Kultur zu Schellacksüchtigen macht. «Energie und Leidenschaft, die in das Sammeln der Schellacks fliessen, sind für ein junges Publikum spürbar», glaubt Ledbetter.
Um musikalische Schätze zu heben, grub Dust-to-Digital tief in den Stollen der Vergangenheit, über dem ein windschiefes Schild mit der Aufschrift «Old Weird America» hängt – das alte, unheimliche Amerika. Ledbetter zapfte die Sammlung von Joe Bussard in Maryland an, der in sechzig Jahren mehr als 25 000 Schellackplatten zusammengetragen hat – ekstatische Gospelgesänge, ungehobelten Deltablues, Hillbilly aus den südlichen Appalachen. «Wir kümmern uns um Musikstile, die vergessen sind oder ignoriert und übersehen werden, obwohl sie ungeheure Juwelen bergen», sagt der Labelbesitzer.
Mit seiner Frau April betreibt er die Firma aus dem Untergeschoss ihres Hauses in Atlanta, Georgia, heraus. Im Keller befinden sich Lager, Büro und Packstation auf engstem Raum. In einem Regal liegen abgewetzte Schachteln voller Tonbänder, in einem anderen stapeln sich Schallplatten vom nächsten Projekt.
Gerade ist eine opulente Doppel-CD mit raren Instrumentalaufnahmen griechischer Rembetikomusik erschienen, zusammengestellt vom renommierten Sammler, Musiker und «Rembetologen» Tony Klein. Die beiden CDs kommen als Einlage eines 150 Seiten starken Buchs daher, das mit grosser Genauigkeit die Geschichte des Musikstils aus der griechischen Halb- und Unterwelt der Vorkriegszeit nachzeichnet und dessen Herkunftsmilieu und kulturelles Umfeld beleuchtet – eine verlegerische Meisterleistung und bewundernswerte Forschungsgrosstat.
Tompkins Square
Eine ähnliche Liebe zum Detail zeichnet die Produktionen des Labels Tompkins Square aus, das stärker in der Gegenwart verortet ist. Tompkins Square hat sowohl superbe Alben mit US-amerikanischer Hillbilly- und Cajunmusik aus der Schellackära veröffentlicht als auch zeitgenössische Gitarrenmusik im «finger picking style» à la John Fahey herausgebracht. Die Gegenwart mit der Vergangenheit kurzzuschliessen, ist die Absicht des Labels.
Gelegentlich arbeitet die Firma mit dem 27-jährigen Schellacksammler Frank Fairfield zusammen, einem hervorragenden Old-Time-Musiker, der selbst mit zwei Einspielungen im Labelkatalog vertreten ist. Wenn Fairfield Geige, Banjo oder Gitarre zur Hand nimmt, meint man, einem Zeitgenossen des legendären Dock Boggs (1898–1971) zu lauschen, so authentisch tönen die «old familiar tunes» aus den zwanziger und dreissiger Jahren.
Fairfield hat die alten Melodien jedoch nicht von seinen Grosseltern gelernt, sondern von Schellackplatten abgelauscht, die er besessen zusammenträgt. Manchmal setzt er sich tagelang ins Auto, um auf Jagd zu gehen und Ramschläden und Trödelmärkte abzuklappern. Die Fundstücke lieferten das Material für bisher zwei CD-Produktionen, die Fairfield für Tompkins Square zusammengestellt hat. Die aktuelle mit dem Titel «Turn Me Loose. Outsiders of ‹Old Time› Music» ist den Desperados der Hillbillymusik gewidmet und enthält Aufnahmen von MusikerInnen, die sich nicht in die Zwangsjacke der Tradition zwängen liessen. InstrumentalistInnen mit eigenwilligen Spielweisen befinden sich da neben Bands mit ungewöhnlicher Besetzung wie den South Georgia Highballers, die zusätzlich zu Geige und Banjo eine singende Säge einsetzten. «Dieses Label meint es ernst», outet sich Hardcorerocker Henry Rollins als Fan. «Jede Veröffentlichung ist wunderbar zusammengestellt und wohlüberlegt.»
Honest Jon’s Records
Solches Lob hätte auch das Label Honest Jon’s Records verdient. Die kleine Londoner Firma hat sich in den letzten Jahren mit Veröffentlichungen hervorgetan, die frühe Aufnahmen aus der Türkei, dem Irak, Algerien, West- und Ostafrika präsentieren. Die historischen Alben stehen im Katalog des Labels neben modernen Technosounds, Acid Folk und elektronischer Avantgardemusik.
Labelbetreiber Mark Ainley befindet sich in einer privilegierten Position. Er hat Zugang zum Archiv der Schallplattenfirma His Master’s Voice (HMV), die schon vor mehr als hundert Jahren Toningenieure in alle Ecken der Welt schickte, um Aufnahmen mit MusikerInnen vor Ort zu machen. Das macht das HMV-Archiv in Hayes (Westlondon) heute zu einer Schatzkammer, in der sich Abertausende Schellackplatten stapeln. Aus Hunderten dieser «early recordings» stellt Ainley gerade ein Album mit früher Musik aus dem Iran und der angrenzenden Kaukasusregion zusammen, das im Herbst erscheinen soll.
Bei Honest Jon’s wird ebenso viel Wert auf die Information wie auf die Musik gelegt. Jedes Album enthält ein dickes Booklet mit den wesentlichen Fakten zu den Aufnahmen. Es nennt die MusikerInnen und Instrumente, erklärt den Stil und seine Eigenheiten, was jedes einzelne Stück zu einem Guckloch in die Vergangenheit macht. Noch wichtiger ist es Ainley allerdings, die Aufnahmen in einen Kontext zu stellen, der sie für die Gegenwart bedeutsam macht und sie vom Mief verstaubter Archive und verschrobener Sammlertypen befreit.
Mississippi Records
Auch Eric Isaacson ist ein Mann mit einer Mission. Gerade war der Betreiber des Mississippi-Labels aus Portland, Oregon, vier Wochen in Europa unterwegs, um in Punkclubs, Kinos, Universitäten und Kunstgalerien über die Arbeit seines Labels zu berichten. Seinen Vortrag reicherte er mit Filmausschnitten an, die der legendäre Folkmusikforscher Alan Lomax (1915–2002) in den achtziger Jahren im US-amerikanischen Süden gedreht hatte. «Das sind einfach die Aufnahmen, die mich am meisten berühren», begründet Isaacson seine Auswahl und nennt damit auch das Leitmotiv seines Labels: «Ich veröffentliche Schallplatten mit frühen Schellackaufnahmen, die keinem Ordnungsprinzip folgen, nur meinem persönlichen Geschmack. Das einzig Gemeinsame der Songs ist die Gefühlsebene, das, was ich die ekstatische Wahrheit nenne. Auf einer Platte versuche ich dann, eine Atmosphäre oder eine Stimmung durch eine Collage von Songs zu erzeugen.»
Mississippi Records gibt es ausschliesslich auf Vinyl und in einem Coverdesign, das an die Ästhetik selbst gemachter Punkplatten erinnert. Zudem presst Isaacson seine Scheiben nur in kleinen Auflagen. «Wir überleben, indem wir klein bleiben», stellt der Labelbetreiber fest. «Ich will nicht wachsen. Ich bin gegen Wachstum. Wachstum bedeutet Tod. Wenn man grösser werden will, wird man geldgierig und gerät in Schwierigkeiten. Ich verdiene wenig, doch das ist okay. Darin besteht unser Geheimnis. Ich lebe unter der Armutsgrenze und mache noch andere Jobs, um über die Runden zu kommen. Vom Label allein könnte ich nicht leben. Doch dieses Opfer ist mir ein selbstbestimmtes Leben wert.»
Obwohl Mississippi Records auf jede Werbung verzichtet, keine Publicity macht und nicht einmal eine Website hat, ist der Umsatz bemerkenswert. Von einigen Alben mit früher, gitarrengetriebener Gospelmusik wurden mehr als 6000 Stück verkauft – für eine Vinylplatte eine beachtliche Zahl. «Unsere Käufer sind jung», erklärt Isaacson. «Sie schauen sich nach Alternativen zur kommerziellen Mainstreammusik um und landen bei uns. Sie tauchen mit den Scheiben in eine mysteriöse Vergangenheit ein und entdecken eine versteckte Welt von Klängen, deren Intensität und Rauheit nicht weit von Punk und alternativem Rock entfernt ist. Die emotionale Intensität stellt die Verbindung her.»