Aby Warburg: Das Mnemosyne-Projekt

Nr. 44 –

Der Bilderatlas des 1929 verstorbenen Hamburger Kulturwissenschaftlers Aby Warburg gibt bis heute Rätsel auf. Ein Hamburger Künstlerkollektiv arbeitet an seiner Entschlüsselung und stellt in St. Gallen aus.

Geordnet nach dem Prinzip der «guten Nachbarschaft»: Die Bildtafeln des Kunsthistorikers Aby Warburg (der Mann mit dem Hut) im St. Galler Kulturraum am Klosterplatz. Foto: Jiri Makovec

Lange war er fast vergessen. Heute beziehen sich viele KünstlerInnen auf Aby Warburg (1866–1929), und haufenweise KunsttheoretikerInnen deuten am eigenwilligen Hamburger Kunsthistoriker aus der Zeit des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert herum. Am meisten Rätsel gibt Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas auf.

Warburg arbeitete in den zwanziger Jahren intensiv am Kulturgeschichtsprojekt eines Bildertafelnatlanten mit dem Zungenbrechernamen «Mnemosyne». Namensgeberin war die Göttin der Erinnerung im antiken Griechenland. Mit seinem unvollendet gebliebenen Projekt versuchte Warburg nichts weniger, als die Welt als Ganzes zu erfassen. Und zwar, indem er «Wanderstrassen der Kultur» von der Antike bis in die Gegenwart anlegte. «Automobile Bilderfahrzeuge» nannte er den Gegenstand seiner Forschungen auch. Auf der Tafel «Planetenkinder» etwa thematisiert er, wie die antiken Götter zu Planeten wurden, die im Weltall ihre Bahnen ziehen.

Warburgs Bilder sind nach dem von ihm entwickelten Prinzip der «guten Nachbarschaft» auf schwarze Tafeln gepinnt. Das Resultat dieses zugleich wissenschaftlichen und assoziativen Ordnungsprinzips erzeugt Spannungen und beeindruckt durch seine Vielschichtigkeit. Angesichts der wuchernden Bildarchive in den digitalen Medien ist die aktuelle Faszination am Mnemosyne-Bildertafeln-Atlas begreiflich: Warburgs Bilderkonstellationen besitzen eine innere Struktur, die Suchmaschinen nie erzeugen können.

Kollektiv entschlüsseln

Das Hamburger Künstlerkollektiv des «8. Salons» um Roberto Ohrt, Kunsthistoriker und Autor des Standardwerks über die Situationistische Internationale (vgl. «Die SituationistInnen» im Anschluss an diesen Text), hat sich dem umfangreichen Hauptwerk Aby Warburgs verschrieben. Zwar liegen die Originalbilder des Mnemosyne-Bilderatlanten noch immer im Warburg Institute in London. Doch fand ein rekonstruierter Datensatz des Atlanten auf verschlungenen Pfaden seinen Weg in den 8. Salon nach Hamburg. Er umfasst Hunderte von Bildern aus der Antike über die Renaissance bis in die zwanziger Jahre – in bester Reproqualität.

Seinetwegen treffen sich seit zwei Jahren wöchentlich Interessierte in der Nähe des Hamburger Vergnügungsviertels St. Pauli, zwischen Hafenstrasse und Reeperbahn, im Parterre eines Wohnblocks aus den achtziger Jahren. Dort befindet sich der 8. Salon, eine von Künstlern, Kuratorinnen, Kunsthistorikern und Autorinnen mitgetragene Kunstbibliothek, Galerie und Ateliergemeinschaft. In den wöchentlichen Sitzungen widmet man sich der Entschlüsselung der insgesamt über sechzig grossen Bildtafeln – versucht also, die Dynamik der «guten Nachbarschaften» zu ergründen. Nach sechs Tafeln lädt die Gruppe zu einer öffentlichen Präsentation ein. Im neusten Baustellenheft sind dann jeweils die Forschungsergebnisse festgehalten.

Der 8. Salon ist eine unabhängige Institution. Einzig aus der Kasse der Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg bekommt er einen kleinen Förderbeitrag – verbunden mit der Auflage, bei den Tafelpräsentationen zum Mnemosyne-Atlas einem Künstler oder einer Künstlerin Raum zu geben für eine Bezugnahme zu Aby Warburg.

Forschungsreisen durch Europa

In den Atelierräumen im hinteren Teil des 8. Salons arbeitet auch der junge Künstler Philipp Schwalb, P. S., wie er sich nennt. Über ihn lernte der St. Galler Bildhauer Peter Kamm 2009 das Hamburger Künstlerkollektiv kennen, und er erzählte dem Kreuzlinger Kurator Richard Tisserand von P. S. und seinen Kollegen. Tisserand richtete dem Kollektiv im September 2011 in seinem Kunstraum eine Ausstellung aus. Roberto Ohrt hielt einen Vortrag über die Kunsthistoriker Aby Warburg und Edgar Wind. Da entstand die Idee, das unvollendete Hauptwerk Aby Warburgs, den Mnemosyne-Bilderatlas, in Kreuzlingen zu zeigen.

Die Kleinstadt am Bodensee ist eine wichtige biografische Station in Warburgs wechselvollem Leben: Vier Jahre verbrachte er im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen. Der sensible Spross einer jüdischen Bankiersfamilie geriet 1914 wegen des Kriegs zwischen Deutschland und seiner kulturgeschichtlichen Heimat Italien in eine schwere psychische Krise. Als Deutschland den Krieg verloren hatte, wurde eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt unausweichlich. Seine Familie brachte Warburg schliesslich 1920 ins berühmte Nobelsanatorium des Psychiaters Ludwig Binswanger.

Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Aby Warburg zusammen mit seinem Forschungsassistenten Fritz Saxl in halb Europa herumgereist. Sie besuchten Archive und kunstgeschichtliche Sammlungen auf den Spuren von Bildern und Ideen, die die westliche Kultur geprägt, verbreitet und verändert hatten. Während Warburg in Kreuzlingen im Sanatorium weilte, leitete Saxl zusammen mit Gertrud Bing die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg. Nach seiner Entlassung aus der Klinik baute Aby Warburg seine Bibliothek mit dem kulturgeschichtlichen Bildarchiv, mit dem er sich über die Grenzen von Sachgebieten hinwegsetzte, weiter aus. Am liebsten forschte er in Arbeitsgemeinschaften und öffnete dafür auch seine Privatbibliothek, die seine Nachfolger 1933 vor den Nazis nach England retteten.

Wanderstrasse wird fortgeschrieben

Fritz Saxl hatte Warburg während seines Klinikaufenthalts am Bodensee regelmässig besucht. Die Gruppe 8. Salon glaubt, dass Saxl seine Besuche auch dazu nutzte, von Kreuzlingen aus nach St. Gallen zu fahren, um dort in der Stiftsbibliothek des Klosters die mittelalterlichen Handschriften und die Buchsammlungen aus der Reformationszeit zu sichten.

Dass die aktuelle Ausstellung zu Aby Warburgs Mnemosyne-Bildertafeln-Atlas nun in St. Gallen stattfindet, ist also nicht allein dem Umstand geschuldet, dass dem Kreuzlinger Kunstraum die Kapazität für eine Ausstellung der Tafeln fehlt. Der Kulturraum am Klosterplatz in St. Gallen befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stiftsbibliothek, die auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes steht. Leihgaben aus den Bücherschätzen der Stiftsbibliothek und der St. Galler Kantonsbibliothek Vadiana zeigen die Grundlagen von Warburgs Forschungen auf.

Zwischen dem niedrigschwelligen Kunstgeschichteprojekt aus St. Pauli und dem ehrwürdigen St. Galler Stiftsbezirk entsteht so ein Bezug wie die von Aby Warburg beschriebenen «Wanderstrassen der Kultur».

St. Gallen, Kulturraum am Klosterplatz: Ausstellung «Aby Warburg – Mnemosyne Bildertafeln Atlas», bis 17. November 2013.

Kreuzlingen, Kunstraum: Performance «Tätigkeitsungeheuer, Ton und Erkennen als Gegengift», Sonntag, 3. November 2013, 17 Uhr.

Weiteres Rahmenprogramm: www.kultur.sg.ch

Die SituationistInnen

In den fünfziger Jahren entstand um die Person des französischen Künstlers und Philosophen Guy Debord eine Bewegung, die radikale Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft zu üben begann – mit dem Ziel, die Trennung zwischen Kunst und Leben zu überwinden. KünstlerInnen aus über zehn Ländern schlossen sich der Situationistischen Internationalen (S. I.) an.

Mit ihren theoretischen Positionen nahmen sie viele Anliegen der 68er vorweg. Kunst, so ihre Überzeugung, lasse sich nur durch den Umsturz der Gesamtheit der Verhältnisse verwirklichen. Spätere künstlerische Bewegungen wie Fluxus bezogen sich auf die S. I., ihre theoretischen Schriften sind bis heute gefragt: www.si-revue.de