Kunst: Die Stunde null der Bildwissenschaft
Aby Warburg (1866–1929) galt manchen als Totengräber der Kunstwissenschaft. Zwei Ausstellungen in Berlin zeigen, wie der Privatgelehrte mit seinem «Bilderatlas» den Weg für die visuelle Kultur bereitete, die uns heute so alltäglich erscheint.
Was bedeutet es, dass ein persischer Künstler aus dem 14. Jahrhundert die geschwungene Linie der chinesischen Bildsprache in seine Landschaftsminiatur übernahm? Und wie kommt es, dass der chinesische Künstler Ai Weiwei diese Linie in seine kostbare Porzellanskulptur «Prototype for the Wave» aus dem Jahr 2004 integriert? Warum erinnert die Zeichnung einer indischen «Kurtisane, die sich ihr Haar kämmt» aus dem 19. Jahrhundert so frappierend an eine Figur von Henri Matisse? Und der Musterentwurf des japanischen Landschaftszeichners Katsushika Hokusai von 1835 an den Barcode der digitalen Warenkultur von heute?
Auf Schritt und Tritt rätselten die BesucherInnen der Documenta 12 im Jahre 2007 über solche verblüffenden Parallelen. Wegen der exzentrischen Bildauswahl und diverser Pannen fiel die Schau von Roger Buergel, heute Chef des Zürcher Johann-Jacobs-Museums, und seiner Frau Ruth Noack damals zwar bei der Kritik durch. Doch in ihrer kuratorischen Idee von der «Migration der Form» und dem «Flechtwerk politischer Formbeziehungen» folgten die beiden einem grossen Vorbild: dem berühmten «Bilderatlas» Aby Warburgs.
Es ist dieser ikonische Kunstgriff, der den 1866 in Hamburg geborenen Kunsthistoriker, Spross einer jüdischen Bankiersfamilie, zu einer Überfigur nicht nur der Kunstgeschichte, sondern der gesamten Kulturwissenschaft hat werden lassen. In der zeitgenössischen Kunstpraxis hallt das bis heute nach, und so ist es weit mehr als eine staubige, archivalische Pflichtübung, wenn in Berlin nun dieses mythisch aufgeladene Projekt europäischer Kunstgeschichte in zwei Ausstellungen in der Gemäldegalerie und im Haus der Kulturen der Welt erstmals so vollständig rekonstruiert wird, wie es sein Urheber selbst nie zu Gesicht bekam.
Datenbank der Pathosformeln
Als Kunsthistoriker hatte sich Warburg mit dem Nachleben der Antike in der Renaissance beschäftigt. Die bildende Kunst war ihm aber kein Selbstzweck. Vielmehr nutzte er sie als Demonstrationsobjekt, um dem auf die Spur zu kommen, was man eine Universalgrammatik kultureller Ausdrucksformen nennen könnte. Nicht umsonst taufte er sie «Mnemosyne». Die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen schien ihm die richtige Metapher für seine Obsession, der Wanderung symbolischer Formen quer durch alle Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte nachzuspüren. Das Wort prangte auch über dem Eingang seiner Villa in Hamburg. Von 1924 bis zu seinem Tod 1929 kombinierte er dort Bilder von Kunstwerken auf dunkel bespannten Tafeln, um diese «Pathosformeln» freizulegen. Die Kunst betrachtete er gleichsam als Datenbank dieser Formen.
Im schonenden Dämmerlicht der Berliner Gemäldegalerie lassen sich einige von Warburgs Beweisstücken in Augenschein nehmen, die ihm als Vorlage dienten. Die im Schrei verzerrten Gesichter oder die flatternden Faltenwürfe in Andrea Mantegnas Kupferstich der «Grablegung Christi» von 1450 waren ihm solche Pathosformeln. Aber auch, wie verblüffend sich die Nierenformen ähnelten, mit denen sowohl die Etrusker wie die Hethiter ihre Skulpturen verzierten. Die Geschichte der zwei Völker trennt sechs Jahrhunderte.
Das Revolutionäre war nun, dass Warburg nicht die Originale nebeneinander hängte, sondern Reproduktionen. Diese kontrastierte er mit Bildern aus dem Alltag: Ausschnitten aus Zeitungen, Reklamebildern, Fotofunden, in denen er das Nachleben der Pathosformeln zu sehen glaubte. Was ihm vorschwebte, war eine Universalenzyklopädie von 63 Tafeln mit insgesamt 971 Bildern. Zwar gab es schon im Mittelalter Bilderatlanten; die damaligen Fürsten ordneten ihre Kunstsammlungen auf ähnliche Weise. Doch erst Warburg begann mit dieser assoziativen Ikonologie.
Wer Warburgs Projekt nicht kennt, tut sich vielleicht etwas schwer, die Bezüge zwischen den Bildern auf den Tafeln auf Anhieb zu durchschauen. Aber man versteht sofort die Methode des visuellen Vergleichs. Dieses Operieren in visuellen Clustern stellt eine Art Urknall der Bildwissenschaft und des «Iconic Turn» dar – des gefürchteten Umschlagpunkts, wo sich die sprachliche auf die visuelle Information verlagert, das Wort auf das Bild und «das Argument auf das Video», wie es der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm einmal definierte.
Seinen vorläufigen Höhepunkt hat Warburgs Methode freilich auf den Bewegtbild-Plattformen wie Instagram oder Youtube und in der Meme-Kultur gefunden. Ob man sich von Google einen «Bilderatlas» zu einem bestimmten Stichwort ausspucken lässt oder ob Judy Dench als Geheimdienstchefin «M» im Bond-Film «Skyfall» auf einer transparenten Wand mit wie von Zauberhand herbeizitierten Bildern forensische Spuren sichert: Nie schienen Warburgs Vokabeln von den «Bilderfahrzeugen» und den «Wanderstrassen der Kultur» zutreffender als heute.
Neben der Münze das Klopapier
Zugleich wurde Warburgs Bilderatlas aber auch zur Geburtsstunde eines Prinzips, das der Kurator Kirk Varnedoe 1990 in der legendären Ausstellung «High & Low» im New Yorker Museum of Modern Art zum kulturellen Paradigma erhob: das hierarchielose Nebeneinander von moderner Kunst und Trivialkultur. Besonders frappierend lässt sich das an der Tafel 77 von Warburgs Atlas nachvollziehen. Das Foto einer Münze aus Syrakus, das die Göttin Nike zeigt, hängt da neben einem Bild des «hygienisch unübertroffenen» Toilettenpapiers «Hausfee» aus dem Deutschland der 1920er Jahre, für das die Göttin Viktoria wirbt.
Heute sind derlei Assemblagen gängige Praxis, seinerzeit waren sie heftig umstritten. Warburgs Methode habe man wahlweise verrückt oder genial genannt, beschreibt Bill Sherman, der Direktor des Londoner Warburg Institute, den Ruf des Privatgelehrten, der nie als regelrechter Wissenschaftler gelehrt hatte: «Für die einen hat Warburg die Kunstgeschichte erfunden, für die anderen hat er sie zerstört.» 1933, vier Jahre nach Warburgs Tod, gelang es, sämtliche 60 000 Bände seiner Bibliothek nach London zu verfrachten. Heute beherbergt das Institut eine Fotosammlung von rund 400 000 Bildern. Aus diesem Basislager fischten die Kuratoren Roberto Ohrt und Axel Heil die knapp tausend originalen Bilder Warburgs, um seinen Atlas zu rekonstruieren.
Das schönste Tor zur Hölle
Neben der bestechenden Vorstellung eines Bildgedächtnisses der Menschheit fasziniert an Warburgs Kosmos die Idee, dass sich die ewige Form als Konstante durch die Zeiten zieht. Im «Universum der Formen», das er und seine Nachfolger aufriefen, meint man, eine geheime Wirkmacht der Geschichte zu erkennen.
Doch die Fantasie des Überzeitlichen trügt. Schliesslich ist die Form nicht ewig, sondern Ergebnis sozialer Beziehungen. Zudem deuten unterschiedliche Kulturen ein und dieselbe Linie völlig anders. In der Documenta 12 konnte man beispielsweise den Gesichtsschleier einer Braut aus Tadschikistan aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewundern. Das Feld um den Sehschlitz ist auf das Filigranste mit archaischen Formen, mit Sternen und Rhomben aus kostbarer Seide bestickt. Symbolisiert es das Tor zum Kosmos oder das zur Hölle? Die schönste Form kann manchmal ganz schön grausam sein.
«Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne. Das Original» in: Berlin Haus der Kulturen der Welt, bis 30. November. Das gleichnamige Buch zur Ausstellung, herausgegeben von Roberto Ohrt und Alex Heil, ist im Verlag Hatje Cantz erschienen.
«Zwischen Kosmos und Pathos. Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne» in: Berlin Gemäldegalerie, bis 2. November 2020. Das gleichnamige Buch zur Ausstellung, herausgegeben von Neville Rowley und Jörg Völlnagel, ist im Deutschen Kunstverlag erschienen.