Ausstellung: Spiele mit heiligen Objekten
Was, wenn der Pelzmuff, der Radiergummi oder der abgeschlagene Kopf ein mächtiges Eigenleben entwickeln? In der Graphischen Sammlung der ETH setzt sich eine Ausstellung lustvoll mit dem Fetisch auseinander.

Auf einer Kunsteisbahn greift ein Mann nach einem liegen gebliebenen Handschuh; die Frau, der er möglicherweise aus der Tasche gefallen ist, gleitet mit ihrem Hündchen schon davon, hat ihm den Rücken zugekehrt. Steht der Handschuh für die Hand, die in ihn schlüpfen könnte, für die Frau als Ganzes vielleicht oder für sein Begehren für sie?
Max Klinger zeichnete 1880 diese symbolisch hochaufgeladene Alltagsszene im bürgerlichen Milieu. Das Bild hängt in einem schmucklosen Raum der ETH Zürich an einer Stellwand. Tritt man von der Betrachtung einen Schritt zurück, sieht man darum herum weitere angeordnet, in denen Kleidungsstücke und verschiedene Stoffe eine wichtige symbolische, häufig sexuell aufgeladene Rolle spielen. Wenzel Hollars drei Stillleben von 1647 gleich nebenan zeigen zur Skulptur drapierte Pelzmuffe, Stolen und Seidenhandschuhe; und obwohl hier kein einziger Körperteil zu sehen ist, strahlen die Zeichnungen offensichtlich Erotik – und Vergänglichkeit – aus.
Spiegelmans Radiergummi
«Im Rausch(en) der Dinge. Fetisch in der Kunst» heisst die Ausstellung in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich, wo diese Bilder zu sehen sind. Sammlungskonservatorin Alexandra Barcal und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen haben hier aus dem umfassenden Fundus eine nur auf den ersten Blick kleine Schau zusammengestellt; auf den zweiten eröffnen sich Welten und verschiedenste Verbindungen zwischen ihnen. Dabei hängen Kupferstiche aus dem 16. Jahrhundert neben Pop-Art aus den Sechzigern, Albrecht Dürer neben Markus Raetz, Edvard Munch neben Louise Bourgeois; es gibt Anzügliches, Überernstes, Verspieltes, manches wirkt veraltet, anderes unglaublich frisch. Man verliert sich gern, vielleicht wird einem sogar ein wenig schwindlig.
Ein Fetisch, so heisst es in der aufliegenden Broschüre, kann ein heiliger Gegenstand sein oder ein Objekt, dem aus anderem Grund eine spezielle Bedeutung zugeschrieben wird. Entstanden ist der Begriff im kolonialen Kontext zur Bezeichnung von Dingen, deren Funktion den Europäer:innen fremd war. In der Psychoanalyse wiederum wird darunter ein Objekt oder Körperteil verstanden, das «für die Sublimierung eines sexuell aufgeladenen Bedürfnisses steht, als Ersatz für ein begehrtes Sexualsubjekt».
Salopp ausgedrückt, geht es hier also um eine Frage: Welche Bedeutung hat ein Ding? Und welche noch? Das lässt sich auch am vermeintlich Profanen durchspielen. Karoline Schreibers Sammlung von Radiergummis etwa, säuberlich aufgereiht in einer Vitrine, alle unterschrieben von Künstler:innen – hier wächst der Radiergummi über seine Bürofunktion hinaus, wenn er signiert, aufbewahrt, dann in die Sammlung eingereiht und schliesslich ausgestellt wird. Auch dann, wenn die Besucherin neugierig inspiziert und wissen will, wie der Gummi von Pipilotti Rist ausschaut, jener von Art Spiegelman oder der von Zilla Leutenegger.
Waffe, Beute, Macht
Wie geht man angesichts dieser überbordenden Fülle nun vor? Die Broschüre leitet mit einem Begleittext an ausgewählten Positionen entlang durch die Ausstellung. Eine Handreichung, nachher schaut man im besten Fall allein weiter. Zum Beispiel die «Enthauptungen in Serie»: Da sind an einer Stellwand in verschiedensten Darstellungen immer wieder Judith mit dem Kopf von Holofernes und Salomé mit jenem von Johannes dem Täufer zu sehen. Immer wieder das Gleiche? Es lohnt sich, die Gesichtsausdrücke der Judiths und Salomés zu studieren, die in den verschiedenen Stichen und Zeichnungen – die meisten stammen aus dem 16. Jahrhundert – so unterschiedlich dreinblicken: triumphierend, abwesend, freudig, stolz oder herablassend, angewidert, befriedigt, angestrengt, erleichtert oder neckisch.
Das Schwert haben sie immer bei sich, der abgeschlagene Kopf ist oft in der Nähe ihres Körpers, beide stehen, als Waffe und als Beute, für ihre Macht. Nebenan gibt es weitere Spielereien mit Körperteilen, einen Abschnitt zur symbolischen Darstellung des Todes sowie ein Schlaglicht auf Alltagsobjekte, denen neue Bedeutungen zukommen. Viele der Bilder sind nicht gross, manche briefmarkenklein, sodass man nah rangehen muss, um alle Details studieren zu können.
Dort, wo man tendenziell an das Ende der Ausstellung gelangt, liegt Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas. Das Spiel, das Barcal und Bronfen hier treiben, schöpft seine Inspiration aus den Bilderstudien des Kulturwissenschaftlers, in denen – sie sind durch seinen plötzlichen Tod 1929 unvollendet – er den Einfluss der Antike bis in die zeitgenössische Ikonografie aufzeigen wollte: sammeln, zusammenstellen, zwischen den Bildern und Blättern Verbindungen ziehen und so wiederum neue Bedeutungen entfachen.
Hat bei Klingers Handschuh übrigens jemand an Meret Oppenheim gedacht? Auch bei ihren berühmten Lederhandschuhen mit aufgestickten und -gedruckten roten Adern von 1985 verschwimmt doch die Grenze zwischen Körper und Kleidung, Subjekt und Objekt. Ausgestellt sind sie hier nicht, aber eine Abbildung davon ist Teil eines Postkartensets, das neben einem von Oppenheim bestickten Samttäschchen in einer Vitrine liegt. Hat etwas mit den Readymades auf der einen und den erotisch aufgeladenen Stoffen auf der andern Seite zu tun, und womit noch?
Man schreitet quer durch den Raum zurück, hin und her, und setzt die Dinge nochmals neu in Beziehung.
«Im Rausch(en) der Dinge – Fetisch in der Kunst» in: Zürich Graphische Sammlung ETH Zürich, Rämistrasse 101, bis 7. Juli 2024. www.gs.ethz.ch