«Wir kamen, um zu helfen»: Wenn der gute Wille nicht ausreicht

Nr. 44 –

Weshalb vermochten die EntwicklungshelferInnen aus der Schweiz nicht, die Situation in Ruanda vor dem Genozid 1994 adäquat einzuschätzen? Dass die Frage so falsch gestellt ist, zeigt Thomas Isler in seinem neuen Dokumentarfilm.

Foto: Andreas Bodmer

WOZ: Thomas Isler, Ihr Film «Wir kamen, um zu helfen» handelt vom Engagement der Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda, endet aber 1994 und erwähnt den Genozid im Land nur anhand einzelner Erzählungen der Mitarbeiter der Deza, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit. Weshalb sind Sie im Film nicht stärker auf den Völkermord eingegangen?
Thomas Isler: Der Völkermord in Ruanda gilt als eines der dramatischsten Ereignisse im Afrika des 20. Jahrhunderts. Wir haben uns schon früh entschieden, keinen Film über den Genozid selbst zu machen. Zum einen, weil er wie ein schwarzes Loch ist und alles und jeden hinabzieht. Zum andern besteht bei einem solchen Thema immer die Gefahr des Voyeurismus – provokativ ausgedrückt: der Pornografie der Gewalt. Hinzu kommt, dass es für viele mit so traumatischen Erinnerungen verbunden ist, dass sie nicht darüber sprechen wollen.

Hatten Sie Probleme, Gesprächspartner für die Zeit von 1994 zu finden?
Sehr grosse Probleme, und nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen. Viele Deza-Mitarbeiter, die aus Ruanda fliehen mussten, hatten sich damals von den Medien angegriffen und ungerecht behandelt gefühlt. Lukas Bärfuss’ Buch «Hundert Tage», in dem er sich sehr anklagend mit der Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda befasst, hat 2008 erneut Polemiken ausgelöst und uns viele Türen verschlossen. Erst nach langer Suche haben wir Mitarbeiter aus jener Zeit gefunden, die offen über damals geredet haben. Im Übrigen war es aber einfach, ehemalige ruandische Mitarbeiter der Deza zu finden und ihnen eine Stimme im Film zu geben. Im Verlauf unserer Recherche hat es uns dann immer mehr interessiert, was in den Jahren und Jahrzehnten vor dem Völkermord passiert war, denn ein solches Ereignis passiert nicht einfach spontan. Zudem haben wir uns gefragt, welche Möglichkeiten die Entwicklungshilfe überhaupt hat, die Strukturen eines Landes oder den Lauf der Dinge beeinflussen zu können.

Kann Entwicklungshilfe den Lauf der Dinge denn beeinflussen?
Es gab eine Zeit, da habe ich nicht mehr daran geglaubt, dass klassische Entwicklungshilfe etwas verändern kann. Gleichzeitig kommen die Entwicklungshelfer aus dem Norden guten Mutes und mit der integren Absicht, einen positiven Einfluss auf die Entwicklung eines Landes im Süden zu nehmen. Aber sie kommen meist nur mit ihren eigenen Ideen und Projekten, die sie für sinnvoll halten. Ihr Blick ist fast immer selektiv, und das versperrt ihnen die Wahrnehmung der Realität. Oft sind die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten vor Ort viel komplizierter, als dass man sie von aussen begreifen könnte.

Mir ist im Verlauf meiner Recherchen klar geworden: Die grosse Kunst in der Entwicklungshilfe besteht darin zu erkennen, welches Projekt wo sinnvoll ist, ob es eine positive oder negative Wirkung hat oder ob ein Land überhaupt die Voraussetzungen dafür erfüllt.

War das in Ruanda nicht der Fall?
Ich denke, dass die Deza in Ruanda nicht richtig reagiert hat. Die Vorzeichen der ethnisch und rassistisch motivierten Gewalt haben sich dort schon in den sechziger und siebziger Jahren in extremer Form gezeigt. Spätestens als 1973 auf Weisung der Huturegierung innerhalb der Hilfsprojekte viele lokale Tutsimitarbeiter aus ethnischen Gründen entlassen werden mussten und verfolgt wurden, hätten bei den Deza-Verantwortlichen alle Alarmglocken schrillen sollen. Aber man hat weitergemacht wie bisher, weil man in der seltsamen Logik verharrte, dass die Situation noch viel schlimmer wäre, wenn man die tollen Projekte, die man mit so viel Geld und Herzblut aufgebaut hat, aufgeben würde.

Was für Projekte waren das?
Es ging unter anderem um den Aufbau einer Verkaufsgenossenschaft im Stil der Migros und um eine Volksbank. Stattdessen hätte man den Fokus aber auch auf Projekte zum Schutz der Minderheiten, zur Förderung eines Vielvölkerstaats oder der Good Governance, der guten Regierungsführung, legen können.

Wie beurteilen Sie die heutige Entwicklungshilfe?
Die Reaktionen vieler Leute, denen wir den Film in Ruanda und im Nachbarland Uganda vorgeführt haben, zeigen uns, dass sich innerhalb der Strukturen der Entwicklungshilfe, und zwar nicht nur der schweizerischen, in den letzten vierzig Jahren nur sehr wenig verändert hat. Sicher hat man viel dazugelernt. Für die Deza waren die Ereignisse in Ruanda 1994 ein Wendepunkt: Heute macht sie mehr Kontrollen und unterstützt ganz andere Projekte, die mehr in Richtung Good Governance gehen und den Fokus auch auf die Zusammenhänge in der ganzen Region legen. Aber das Grundproblem der Entwicklungshilfe ist dasselbe geblieben: Die, denen geholfen werden soll, sind nicht gleichberechtigt gegenüber jenen, die kommen, um zu helfen. Die Strukturen dahinter wollte ich im Film analysieren.

Ein Film, in dem ein brisantes Thema wie Genozid vorkommt, stösst fast zwangsläufig auf Kritik. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe versucht, den Zuschauern die Situation zu vermitteln, in der sich die Deza-Mitarbeiter in jener Zeit befanden. Das Publikum soll in das Paradox geführt werden, in dem man sich wohl immer wieder findet, wenn man irgendwo hingeht, um zu helfen. Denn diese Hilfe hat nicht zwingend eine positive Wirkung. Dazu musste ich vor allem mit den Zeitzeugen sprechen und ihre Emotionen zeigen.

Manche der Aussagen der früheren Deza-Mitarbeiter wirken allerdings beinahe naiv – etwa, wenn sie sagen, man habe sich damals nicht vorstellen können, dass es zu einem Genozid kommen würde.
Ich glaube tatsächlich, dass es für jene Menschen nicht möglich war, den Völkermord zu antizipieren. Sonst hätten sie völlig anders gehandelt. Im Nachhinein – mit der Gewissheit über die Katastrophe – ist natürlich klar, dass es besser gewesen wäre, wenn die Deza schon in den siebziger Jahren Konsequenzen aus den Ereignissen gezogen hätte. Aber ohne diese Gewissheit muss man die Handlungsspielräume der Betroffenen ganz anders beurteilen.

Hat das auch Ihre Herangehensweise an den Film beeinflusst?
Ja, genau deswegen kam es für uns nicht infrage, polemisch an das Thema heranzugehen. Wir fühlten uns vielmehr der historischen Betrachtung verpflichtet und wollten den Entwicklungshelfern von damals auf Augenhöhe begegnen. Ihre Erzählungen sind für mich ein Teil der sogenannten Oral History. Ich traue dem Publikum im Übrigen auch zu, dass es den Sprung von 1994 zu heute machen kann. Gerade durch eine geschichtliche Aufarbeitung kann man den eigenen Blick sensibilisieren.

Sie glauben also, dass man aus der Geschichte lernen kann?
Nicht einfach so. Aber ich denke, dass es eine der Stärken des Mediums Film ist, mehr Fragen zu stellen, als Antworten zu liefern. Wenn sich das Publikum nach dem Film Fragen stellt – etwa ob die reine Absicht, Gutes zu tun, das auch einlösen kann; was die Wirkung der Entwicklungshilfe ist oder wie unser Engagement in Afrika auch noch aussehen könnte –, dann hat er seinen Zweck erfüllt. Und es ist schon wichtig zu wissen, dass man als vermeintlich neutrales Land eine unangenehme gemeinsame Geschichte mit Ruanda hat.