Medientagebuch: Mangel an Respekt
Vor einem Jahr wurde in Zürich der grosse Kahlschlag beschlossen. Bei der Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» wurden gegen zehn Prozent der Stellen gestrichen. Verantwortlich: die beiden Hauptaktionäre der Zeitung, Tamedia und Ringier. Ein halbes Jahr später wurden in Zürich Sparpläne beschlossen. Achtzehn Millionen sollen bei verschiedenen Westschweizer Zeitungen gespart werden. Verantwortlich: Tamedia. Und nun der ultimative Faustschlag. «Le Temps» wird auf den Markt geworfen und verkauft. Verantwortlich: Tamedia und Ringier.
«Le Temps» ist die einzige überregionale französischsprachige Qualitätszeitung der Schweiz. Einige sagen, sie sei die Stimme der Westschweiz. Als sie 1998 gegründet wurde, übernahm sie das Erbe zweier grosser Westschweizer Zeitungen – des ehrwürdig-liberalen «Journal de Genève», geschätzt von einem weltoffenen Genfer Bürgertum, und des trendigen «Nouveau Quotidien», der die Stimme der Romandie in und für Europa verstärken sollte.
Jetzt also steht «Le Temps» zum Verkauf, und die Liste möglicher Käufer macht keine Freude: Unter den Interessenten ist etwa der Präsident der Uhrenmarke Hublot, Jean-Claude Biver. Er möchte die Zeitung «aus Patriotismus» kaufen, wie er sagt. Was er nicht sagt: «Le Temps» ist führend im Bereich Uhrenwerbung – und eine Zeitung zu besitzen, die den Begriff «Zeit» schon im Titel führt, wäre ein Prestigezuwachs für seine Marke. Man kann sich die fantasievolle Werbung schon vorstellen: «‹Die Zeit› tickt für Hublot.»
Ein weiterer Interessent ist die Finanzzeitung «L’Agefi», die zur finanzstarken Privatspitalgruppe Genolier gehört. «L’Agefi» könnte mit dem Kauf von «Le Temps» ihre direkte Konkurrentin bei den Wirtschafts- und Finanzinseraten übernehmen. Interesse zeigt aber auch das Duo Blocher-Tettamanti: Auf dem Kreuzzug der beiden Milliardäre und ihrer rechtslastigen «Medienvielfalt-Holding» wäre «Le Temps» ein Etappensieg. Ebenfalls im Gespräch als mögliche Käufer sind die «Neue Zürcher Zeitung», die mit der Übernahme eine Optimierung ihres Angebots für gesamtschweizerische Werbekunden anstreben könnte, sowie zwei Interessenten aus Frankreich.
Am besten für die Zeitung wäre wohl ein Kauf durch das Management gewesen – Direktorin Valérie Boagno und Chefredaktor Pierre Veya sowie zwei weitere Kadermitglieder wollten den Versuch wagen. Doch Tamedia und Ringier liessen letzte Woche verlauten, die Option Management-Buy-out werde nicht weiterverfolgt.
Führen die beiden Verlage vielleicht etwas anderes im Schild? Denn je deutlicher sich zeigt, dass keine glaubwürdigen Käufer zu finden sind, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass einer der beiden Konzerne die Zeitung im Alleingang übernimmt. Die Wettbewerbskommission könnte eine Totalübernahme durch Tamedia unter diesen Umständen schlecht verbieten, auch wenn die Monopolstellung des grössten schweizerischen Medienkonzerns damit noch stärker würde.
Vor fünfzehn Jahren wurde «Le Temps» als politisches Projekt, als neue «Stimme der Romandie» gegründet. Den Entscheid zum Verkauf am freien Markt und gegen ein Management-Buy-out empfinden viele nun als Ohrfeige für die Suisse romande. Der Mangel an Wertschätzung gegenüber «Le Temps» sei ein Mangel an Respekt für die ganze Westschweiz, sagt die frühere Lausanner Bürgermeisterin, SP-National- und -Ständerätin Yvette Jaggi.
Helen Brügger schreibt für die WOZ aus der Westschweiz.