Thailand: Straffreiheit durch die Hintertür
Die massiven Proteste der letzten Wochen gegen ein umstrittenes Amnestiegesetz zeigen, dass in Thailand eine Aufarbeitung von vergangenem Unrecht in weiter Ferne ist.
Tagelang herrschte Aufruhr in Bangkoks Strassen. Auslöser für die Proteste ist ein umstrittenes Amnestiegesetz, das die regierende Pheu-Thai-Partei durchdrücken wollte. Der ursprüngliche Entwurf hatte vorgesehen, alle zu amnestieren, die im Zuge der politischen Konflikte seit dem Militärputsch 2006 gegen den damaligen Ministerpräsidenten Thaksin Shinawatra wegen vergleichsweise geringfügiger Vergehen angeklagt oder verurteilt worden waren. Dieser Entwurf wurde jedoch nachträglich so verändert, dass unter anderem die für die massive Gewalt auf Bangkoks Strassen 2010 mutmasslich Verantwortlichen ungeschoren davonkommen sollten. Damals ging die Armee gegen protestierende Thaksin-treue Rothemden vor. Dabei wurden mindestens hundert Menschen getötet.
Im Klartext hätte das bedeutet: Sowohl führende Militärs als auch verantwortliche Politiker wären straffrei ausgegangen. So etwa Abhisit Vejjajiva, früherer Regierungschef und heute Oppositionsführer der Demokratischen Partei, und dessen einstiger Vize Suthep Thaugsuban, denen vorgeworfen wird, während der Massenproteste im April und Mai 2010 den Schiessbefehl auf die DemonstrantInnen angeordnet zu haben.
Zugleich hätte der «Blankoscheck» bedeutet, dass auch der 2006 gestürzte, wegen Korruption verurteilte und im Exil lebende Thaksin Shinawatra straffrei in die Heimat hätte zurückkehren können. Ausgenommen von der Amnestie wären allerdings die politischen Gefangenen, vor allem jene, die wegen Beleidigung des Königs zu teilweise drakonischen Haftstrafen verurteilt wurden – ein seit Jahren häufig eingesetztes Mittel, um politische GegnerInnen und kritische AktivistInnen mundtot zu machen.
Weil zunächst offiziell keine Rede war von einer Generalamnestie, hatten es die Thaksin-GegnerInnen kaum vermocht, ihre AnhängerInnen zu mobilisieren; die Demokratische Partei genauso wenig wie mehrere ausserparlamentarische Gruppierungen. Anfang August waren nur rund 3000 Menschen auf die Strassen gegangen. Zu massiven Protesten kam es erst Anfang November, nachdem bekannt geworden war, dass die Pheu Thai unter Premierministerin Yingluck Shinawatra – Thaksins Schwester – einen hinter verschlossenen Türen veränderten Entwurf in einer Marathonsitzung durchs Unterhaus gepeitscht hatte. In dieser Version wäre nicht nur Thaksin, nach wie vor Strippenzieher und Financier der Regierungspartei, in den Genuss einer Amnestie gekommen, sondern auch die mutmasslich Verantwortlichen für die Niederschlagung der Rothemden 2010.
Es ist kaum verwunderlich, dass dieses Amnestiegesetz die GegnerInnen Thaksin Shinawatras, neben der Demokratischen Partei eine Reihe von nationalistisch-konservativen Gruppierungen, zu Zehntausenden auf die Strassen treibt. Deren eingeschränkte Sichtweise zielt einzig auf die Figur des gestürzten Thaksin. Doch Korruption ist ein wucherndes Problem in der gesamten Gesellschaft Thailands, und nicht nur Thaksin bedient sich korrupter Methoden. Zudem schweigen sich die Demokratische Partei und ihre AnhängerInnen über die Menschenrechtsverletzungen während der politischen Unruhen auf Bangkoks Strassen 2010 aus.
Doch auch im regierungstreuen Lager sind viele über den Versuch einer Amnestie aufgebracht: Viele Rothemden, die 2010 für demokratische Rechte demonstriert und letztlich der Pheu Thai bei den Wahlen Anfang Juli 2011 zur Macht verholfen hatten, wollen zwar eine Rückkehr Thaksins, aber nicht um jeden Preis: «Wenn die verantwortlichen Politiker und die Armee unbehelligt bleiben, wird der Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit niemals durchbrochen», sagt Phayao Akkahad, Mutter einer im Mai 2010 getöteten Krankenschwester.
Die Generalamnestie dient auch nicht der Aussöhnung, wie die Regierung behauptet. Im Gegenteil: Sie ist Indiz einer politisch stark gespaltenen Gesellschaft, in der auf beiden Seiten starker Hass herrscht. So haben inzwischen sämtliche GegenspielerInnen Thaksins bekannt gegeben, dass sie eine Amnestie ablehnen würden. Oppositionsführer Abhisit machte deutlich, er werde die gegen ihn und Suthep anhängigen Mordanklagen vor Gericht anfechten. Und Armeechef Prayuth Chan-ocha erklärte gar, das Militär brauche keine Amnestie. Schliesslich hätten die Soldaten keinem der rivalisierenden Lager angehört und nur Befehle befolgt.
Aufgrund der weitreichenden Proteste gegen das Amnestiegesetz hatte Premierministerin Yingluck erklärt, dass ihre Regierung davon Abstand nehmen werde, sollte das Oberhaus des Parlaments das Gesetz ablehnen. Das ist mittlerweile geschehen. Allerdings glaubt die Opposition den Beteuerungen der Regierung nicht, das Ganze sei nun vom Tisch. Vielmehr geht es ihr nun nicht mehr nur um die Amnestie, sondern darum, die Pheu Thai zu stürzen. Das Zurückrudern der Yingluck-Regierung kommt zu spät. Wie sämtliche andere Regierungen vor ihr hat sie demonstriert, dass Menschenrechte stets hinter politischem Machtkalkül zurückstehen. Schon jetzt haben die Angehörigen der Toten, darunter jene Rothemden, die 2010 für demokratische Neuwahlen auf die Strassen gingen und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben, das bittere Nachsehen. Yinglucks politische Basis fühlt sich verraten.