Thailand: Und das Militär in der Mitte

Nr. 18 –

Der König schweigt. Einige militärische Gruppen nutzen die Gunst der Stunde. Und die politische Langzeitkrise des Landes lässt sich wohl auch mit Neuwahlen nicht beilegen.


Die rote Fahne hängt schlaff von einem Mast der Barrikade herunter. Das wollen die DemonstrantInnen jedoch nicht als symbolisch für ihre Bewegung verstanden wissen. Ihnen gehe die Puste nicht aus, versichern sie. Das klingt nach acht erschöpfenden Wochen des Protests allerdings wenig überzeugend.

Die thailändischen «Rothemden», die vor wenigen Wochen noch von Menschenmassen umjubelt in Autokonvois durch die Hauptstadt Bangkok fuhren (siehe WOZ Nr. 12/10), haben sich verschanzt. Rund um eine von ihnen besetzte Kreuzung in einem der wichtigsten Geschäftsviertel haben sie immer höhere Wälle aus Steinblöcken, Stacheldraht, Bambusstöcken und Autoreifen errichtet – aus Furcht vor einer möglichen Niederschlagung ihrer Proteste durch Regierung und Militär.

«Held der Demokratie»?

Ihr Unmut richtet sich vor allem gegen Premierminister Abhisit Vejjajiva: Der Favorit des konservativen Establishments ist in ihren Augen im Dezember 2008 unrechtmässig an die Macht gelangt – unter anderem mithilfe des Militärs. Das Anliegen der Vereinigten Front für Demokratie und gegen Diktatur (UDD), wie sich die Rothemden offiziell nennen: der Sturz der Regierung Abhisit sowie Neuwahlen.

So einhellig dieses Ziel formuliert ist, so unterschiedlich sind die TeilnehmerInnen, die auf den Kundgebungen des ausserparlamentarischen Bündnisses der UDD anzutreffen sind. Die Reisbäuerinnen aus dem Norden und Nordosten des Landes träumen genauso wie die Tagelöhner und ArbeiterInnen in den Städten davon, dass der von ihnen gewählte und 2006 vom Militär gestürzte frühere Premierminister Thaksin Shinawatra zurückkommen möge. «Er hat viel von seinem Geld eingesetzt, um uns zu unterstützen», sagt der 71-jährige Vietnamkriegveteran Songsuri Kulsumaso. «Deshalb lieben und vermissen ihn die Menschen auf dem Land.»

Dass Thaksin Shinawatra alles andere als der «Held der Demokratie» war, als den ihn viele ThailänderInnen sehen, ficht Songsuri nicht an. Der gestürzte Premier war korrupt und hatte sein Amt dazu missbraucht, seinen Familienclan finanziell zu begünstigen. Zudem war Thaksins Regierung für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich.

Der Demonstrantin Atinee Srikoe Railton ist es egal, ob Thaksin zurückkommt oder nicht. «Der ist allenfalls ein Symbol», sagt die 48-Jährige. Ihr geht es darum, dass endlich Schluss ist mit der Doppelmoral, und sie verweist auf die Ereignisse von 2008: Damals hatte ein ultranationalistisches Anti-Thaksin-Bündnis, die Volksallianz für Demokratie, ebenfalls Massenproteste abgehalten, ohne dass man deren in gelbe T-Shirts gekleidete AnhängerInnen dafür je zur Rechenschaft gezogen hätte. Sie konnten agieren, wie sie wollten – und waren massgeblich daran beteiligt, die damalige Thaksin-nahe Regierung von Premierminister Samak Sundaravej wie auch die seines Nachfolgers Somchai Wongsawat aus dem Amt zu hebeln. Möglich sei das gewesen, weil die sogenannten Gelbhemden Rückendeckung vom konservativen Establishment aus Militärs, BürokratInnen, RoyalistInnen und Bangkoks Reichen gehabt hätten. Den Rothemden aber werde sofort mit Haft gedroht, kritisiert Atinee Srikoe Railton.

Jedem und jeder eine Stimme

Andere UDD-AktivistInnen glauben, mit diesem Bündnis endlich jene demokratischen Prinzipien durchboxen zu können, für die sie seit vierzig Jahren kämpfen. Zu ihnen gehören auch linke Intellektuelle mit bewegter Vergangenheit. So beklagt der Arzt Weng Tojirakarn, der 1973 StudentInnenproteste gegen das Militär anführte, den Zustand seines Landes: «Momentan leben wir in einem Militärstaat, nicht in einer echten Demokratie.»

Weng, heute einer der führenden Köpfe der UDD, betonte stets, er sei für gewaltlose Proteste. Andere hochrangige MitstreiterInnen hingegen machten mit spektakulären, teilweise auch aggressiven Aktionen wie der kurzzeitigen Erstürmung des Parlamentsgeländes Anfang April auf sich aufmerksam. Und provozierten damit harsche Reaktionen der Regierung, die daraufhin den Ausnahmezustand verhängte.

Dass die Rothemden existieren, gar zu einer Massenbewegung wurden, ist eine Langzeitfolge des Putschs gegen Thaksin. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Thitinan Pongsudhirak ist die Bewegung eine Kraft, mit der langfristig zu rechnen ist: «Es steckt viel Wahres darin, dass sie Thaksins Fusssoldaten sind und von ihm bezahlt werden», so Thitinan. «Aber diese Sichtweise allein ist zu einfach.» Vielen Rothemden gehe es nicht nur um eine Rückkehr von Thaksin, und ihre Forderungen nach mehr Demokratie müssten ernst genommen werden.

Mit ihrem Kampf gegen immer wieder geforderte Einschränkungen des Wahlrechts für untere Bevölkerungsschichten signalisieren die DemonstrantInnen, dass sie sich nicht länger als BürgerInnen zweiter Klasse abstempeln lassen wollen. Ihnen steht jene konservative Elite aus BürokratInnen, mächtigen Generälen und der alteingesessenen Mittel- und Oberschicht gegenüber, die politische Macht und materiellen Wohlstand nicht mit der ärmeren Bevölkerungsmehrheit teilen will. Doch die ärmere Bevölkerung zeigt sich angesichts der politischen und sozialen Ungleichheit immer frustrierter – zumal alle von ihr gewählten Regierungen in den vergangenen vier Jahren entmachtet wurden.

Klassenkampf der «prai»

Das hinterlässt Spuren in Thailands Gesellschaft. «Diese ist tief gespalten», sagt der Journalist Pravit Rojanaphruk, «es gibt so viel Wut und Hass auf beiden Seiten des politischen Spektrums, wie wir es bisher noch nicht erlebt haben, zumindest nicht in den vergangenen dreissig Jahren.» Hinzu kamen kürzlich Vorwürfe seitens der Regierung, die Rothemden seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit und wollten die Monarchie abschaffen – Anschuldigungen, welche die AnführerInnen der UDD jedoch vehement von sich weisen.

Ihr Kampf, sagen die «Roten», sei ein Klassenkampf – zwischen den «prai», den Geschundenen, den Machtlosen, den als dumm Verschrienen auf der einen und den «amart», den Privilegierten, der Aristokratie, der konservativen Oberschicht auf der anderen Seite. Dass sich Rothemden als «prai» bezeichnen, bedeutet den bewussten Bruch mit einem kulturellen Tabu, da der Begriff als Schimpfwort und als diskriminierend gilt und bisher öffentlich kaum verwendet wurde.

Für die UDD ist der Kampf der «prai» zur politischen Waffe gegen das konservative Establishment geworden. Mit ihren Forderungen stehen die Armen nicht allein. Längst haben sie auch Zulauf aus der Mittelschicht gewonnen. Darunter sind AkademikerInnen, Geschäftsleute und ehemalige MitarbeiterInnen von Behörden und Regierungsstellen. «Wenn es um Politik ging, sollten wir immer den Mund halten», beklagt sich ein Bangkoker Geschäftsmann. «Aber wir schweigen nicht mehr länger.»

«Wassermelonensoldaten»

Der politische Graben zieht sich durch das ganze Land. Er trennt Familien, Freunde und Kolleginnen und ist daher mehr als die ideologische Konfrontation zwischen Arm und Reich, Land und Stadt. Das macht eine der wohl schwersten Krisen Thailands so komplex und unberechenbar. Der im Land hochverehrte König Bhumibol Adulyadej hat sich, anders als in der Vergangenheit, bislang weder direkt geäussert noch interveniert. Neu ernannte RichterInnen hatte der 82-Jährige vor kurzem lediglich ermahnt, «ehrlich ihren Pflichten nachzukommen» und auf diese Weise für Stabilität zu sorgen.

Eine Schlüsselrolle spielt das Militär. Auch dessen Reihen sind tief gespalten. Eine nicht bekannte Anzahl SoldatInnen sympathisiert mit den Rothemden – und hat deshalb ihren Spitznamen weg. Man spricht von ihnen als den «Wassermelonensoldaten»: Ihre Uniform ist grün, ihre Herzen aber sind rot.

Einer, der ganz unverblümt seine Unterstützung für den gestürzten Thaksin Shinawatra zeigt, ist der landesweit bekannte und unter anderem wegen radikaler Äusserungen berüchtigte Generalmajor Khattiya Sawasdipol, gegen den mehrere Disziplinarverfahren laufen – unter anderem, weil er auf UDD-Kundgebungen aufpeitschende Reden gegen die Regierung hielt und sich ohne Genehmigung seiner Vorgesetzten mehrfach im Ausland aufhielt, um sich dort mit Thaksin zu treffen. Khattiya wird offiziell gesucht. Dennoch spazierte er vor kurzem am helllichten Tag an den Barrikaden der Rothemden entlang, um diese zu inspizieren, und posierte unbehelligt mit DemonstrantInnen für Fotos – die Sicherheitskräfte sahen zu. Führende Köpfe der Rothemdenbewegung aber haben sich von ihm distanziert.

Doch nicht nur unter den SoldatInnen zeigt sich eine tiefe Spaltung, sondern auch bei den Generälen. Das zeigte sich bei den Auseinandersetzungen im April, als sich die Armeeführung nicht einig war, wie mit den roten DemonstrantInnen umgegangen werden sollte. So hat Armeechef Anupong Paochinda, der einst dem Rat für Nationale Sicherheit angehörte – dessen Generäle 2006 gegen Thaksin geputscht hatten – und der bei weitem kein Wassermelonensoldat ist, den Einsatz von Gewalt gegen die Rothemden stets abgelehnt.

Anupongs Stellvertreter und designierter Nachfolger, General Prayuth Chan-ocha, ziert sich da weniger. Prayuth war es denn auch, der bei der versuchten gewaltsamen Niederschlagung der Proteste am 10. April das Kommando führte. «Einige hochrangige Armeeangehörige haben offenbar ihre Macht demonstrieren wollen, um ihre Zukunft zu sichern», schimpft ein Rothemdsympathisant. «General Prayuth wollte zeigen, dass er durchgreifen kann.»

Das Ganze endete in einem Desaster: Es gab mindestens 25 Tote und mehr als 850 Verletzte.

Interne Rivalitäten

Und noch etwas liess den Militäreinsatz völlig aus dem Ruder laufen: die Existenz einer mysteriösen Gruppe von «Männern in Schwarz». Noch gibt es keine offiziellen Untersuchungen, doch Indizien lassen vermuten, dass bei den Zusammenstössen Akteure ihre Hände im Spiel gehabt haben, denen es nicht um die politischen Anliegen der Rothemden ging.

So haben erste Autopsien ergeben, dass einige der Opfer durch Spezialmunition getötet wurden. BeobachterInnen sprechen von Cliquen in den Reihen der Armee selbst. Mehrere militärisch geschulte Gruppen hätten die Gelegenheit genutzt, die Proteste der Rothemden und deren versuchte Niederschlagung für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren und beispielsweise mit Rivalen in den eigenen Reihen abzurechnen. Es dürfte kein Zufall sein, dass an jenem Tag auch ein hochrangiger Offizier getötet wurde, der als aufstrebender Stern im Militär galt und Armeechef Anupong nahegestanden haben soll.

Bereits kurz nach Beginn der Proteste Mitte März hatte es etliche Anschläge mit Sprengsätzen und Granaten gegeben. Mehrere Menschen waren damals verletzt worden. Die mutmasslichen TäterInnen wurden jedoch bis heute nicht gefasst. Diese Attacken hatten dazu beigetragen, die ohnehin bestehenden politischen Spannungen in Thailand zu verschärfen. «Ich bin sehr besorgt darüber, dass rechtsgerichtete Gruppen oder militärische Cliquen diese Situation ausnutzen könnten», sagt der Journalist Pravit Rojanaphruk. «Und ich frage mich, inwieweit unsere Gesellschaft in der Lage ist, politische Differenzen friedlich und vernünftig beizulegen.»


Kommt jetzt die nationale Versöhnung?

In Thailand zeichnet sich eine Entspannung der politischen Krise ab: Die seit März demonstrierenden Rothemden der Vereinigten Front für Demokratie und gegen Diktatur (UDD) begrüssten den Anfang Woche von Premier Abhisit Vejjajiva vorgestellten Kompromissvorschlag. Allerdings forderte das oppositionelle Bündnis Abhisit auf, ein konkretes Datum für die Auflösung des Parlaments zu benennen. Der Premier hatte zunächst nur erklärt, dass am 14. November vorgezogene Neuwahlen stattfinden könnten. Laut Verfassung müssen die Wahlen 45 bis 60 Tage nach der Parlamentsauflösung stattfinden. Solange das Datum für eine Parlamentsauflösung nicht offiziell feststeht, wollen die Rothemden ihre Proteste fortsetzen. Die regierende Demokratische Partei will voraussichtlich am Donnerstag darüber beraten.

Abhisits Plan für eine nationale Versöhnung enthält fünf Vorgaben. Unter anderem heisst es, die Monarchie dürfe nicht in die Politik hineingezogen werden. Ausserdem soll es Reformen geben, um die soziale Ungleichheit zu überwinden. Auch versprach der Premier eine unabhängige Untersuchung der gewalttätigen Zusammenstösse vom 10. April. Der Armee war damals befohlen worden, die Rothemden auseinanderzutreiben. In der Folge starben mindestens 25 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Bei Granatenattacken am 22. April und weiteren Auseinandersetzungen zwischen Rothemden und Sicherheitskräften am 28. April starben mindestens zwei weitere Menschen.

Neuwahlen dürften den Konflikt entschärfen – allerdings nur vorläufig. Nach Ansicht politischer BeobachterInnen könnte das Lager der AnhängerInnen des 2006 vom Militär gestürzten Premiers Thaksin Shinawatra erneut gewinnen. In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass dann wieder deren GegnerInnen, die sogenannten Gelbhemden, mobil machen – so, wie das 2008 passiert ist.