Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (41): Digital Natives (sind jung)

Nr. 3 –

Junge Menschen, heisst es, finden sich intuitiver in der virtuellen Welt zurecht als Erwachsene. Doch Medienkompetenz ist keine Frage des Alters.

Mit meinen 41 Jahren gehöre ich, gemäss gängiger Meinung, nicht dem Stamm der digitalen Eingeborenen an. Ich bin ohne Web 2.0, MP3-Player und Smartphone aufgewachsen, habe mit meinen Schulkollegen nachmittags draussen gespielt und noch eine Welt vor Twitter und Facebook erlebt. Bin ich als digitaler Immigrant deshalb weniger kompetent im Umgang mit den digitalen Medien?

Digitale Eingeborene, die sogenannten Digital Natives, postulierte Marc Prensky, ein US-amerikanischer Autor, 2001 im Aufsatz «Digital Natives, Digital Immigrants», könnten besser mit den neuen Informations- und Kommunikationstechniken umgehen als Erwachsene, die in ihrer Jugend zu Hause noch ein Telefon mit Wählscheibe stehen hatten. Die beiden Professoren Urs Gasser und John Palfrey, beide sind wie ich 1972 geboren, legten in ihrem 2008 erschienenen Buch «Born Digital» das Geburtsjahr der ersten Digital Natives auf 1980 fest.

Dabei hat das virtuose Spielen auf der digitalen Klaviatur nichts mit dem Alter zu tun, sondern vor allem mit Motivation und Leidenschaft. Bestes Beispiel dafür bin ich selbst. Die neuen Spielgeräte der Kommunikationsindustrie sind mir ans Herz gewachsen und erleichtern mir den Tag. Kurz bevor ich einschlafe, gilt mein letzter Blick dem Smartphone. Ich informiere mich nochmals über die abschliessenden Neuigkeiten des Tages. Meine elektronischen Helfer stehen immer zu Diensten, um mir das Leben zu erleichtern. Zugbillette kaufen, Einzahlungen erledigen, Lotto spielen, fotografieren, Kaffeekapseln bestellen – das läuft bei mir nur noch elektronisch. Eine rein analoge Welt kann ich mir nur noch schwer vorstellen. Trotzdem versuche ich, mein Nutzungsverhalten kritisch zu hinterfragen. Gerade weil ich nicht in eine digitale Welt hineingeboren wurde.

Sogenannte Offliner, die sich dem Einfluss digitaler Medien zu entziehen versuchen, finden sich auch unter den nach 1980 Geborenen. Es gibt siebzehnjährige SchülerInnen, die ohne Facebook und Mobiltelefon glücklich leben, und grauhaarige Webmaster, die ihren in aller Welt verstreuten Freundeskreis intensivst via Skype pflegen. Für meinen 65-jährigen Nachbarn, einen Physiker, gehören Tablet und Smartphone einfach dazu, wenn er mit seinen GeschäftspartnerInnen in Kontakt bleiben will.

Dazu kommt: Geräte und Programme technisch zu beherrschen, heisst nicht automatisch, sich der Konsequenzen des eigenen Verhaltens in der digitalen Welt bewusst zu sein. Das untermauern auch Studienergebnisse der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. In diesen wird den Digital Natives zugestanden, manchmal auch Digital Naives zu sein. Gemäss ihrer Untersuchung sind sich Jugendliche der Konsequenzen ihres digitalen Tuns nicht immer bewusst. Sie gehen zu sorglos mit den persönlichen Daten und Bildern um. Auf soziale Netzwerke hochgeladene Partybilder lassen sich nur mit grossem Aufwand löschen, geistern noch nach Jahren im Netz herum und machen einen schlechten Eindruck bei Personalverantwortlichen, wenn man sich für eine Arbeitsstelle bewirbt. Das Internet vergisst nichts. Und die Geheimdienste auch nicht.

Des Weiteren heisst es da auch, dass der Stellenwert des Digitalen nicht überbewertet werden dürfe. Die Zürcher ForscherInnengruppe um Professor Daniel Süss kommt zum Schluss, dass die Unterschiede zwischen den Generationen bei näherem Hinsehen kleiner als erwartet ausfallen. So hänge das Verhalten im Internet eher vom Technikinteresse, vom Persönlichkeitstyp und vom sozialen Umfeld ab als vom Alter.

Vom raschen, sämtliche Lebensbereiche durchdringenden technischen Wandel sind alle Menschen betroffen, die sich diesseits des sogenannten digitalen Grabens befinden, ob im Privaten oder in der Arbeitswelt: Konsumentinnen, Arbeitssuchende, Pendler, Bankkundinnen, Unternehmen, Supermarktkassiererinnen, politische Parteien, Jugendliche und Menschen im Ruhestand. Digitale ImmigrantInnen haben, behaupte ich, aufgrund ihrer Lebenserfahrungen in der Welt 1.0 sogar bessere Startbedingungen, um kompetent und verantwortungsvoll mit den neuen digitalen Möglichkeiten und Gefahren umzugehen.