Syrische Flüchtlinge: «Die Massnahme hat ihr Ziel erreicht»

Nr. 7 –

Hunderttausende SyrerInnen leben in der Türkei in misslichen Verhältnissen. Manche von ihnen sind dort, weil ihnen die Schweiz Asyl versprochen hat. Seit Monaten harren sie aus – und verzweifeln an den Schweizer Behörden.

  • Die Schuhe müssen draussen bleiben: Eingang zum Kellerraum in Istanbul, den sich die Familie von Ahmad Muhammad und Nariman Mustafa mit zwei anderen Familien teilen muss. Der Antrag der Familie auf ein Visum für die Schweiz wurde am selben Tag abgelehnt, an dem sie ihn gestellt hatten.
  • Im September rief die Schwester aus Bern an: Die Schweiz habe ihre Gesetze gelockert, ihre Familie würde dort ein Visum bekommen. Doch dann hiess es: «Die Informationen über Zweck und Bedingungen des beabsichtigten Aufenthalts waren nicht glaubhaft.» Nun teilen sie sich mit zwei anderen Familien einen Keller in Istanbul.
  • «Wohin sollen wir? Nur Allah weiss es. Wir wissen es nicht»: Der auf den Rollstuhl angewiesene Ahmes Nadjar ist mit seiner Familie von Aleppo nach Gaziantep geflohen.
  • «Wo soll meine Mutter sonst Geld hernehmen für unser Essen?»: Mustafa (rechts) und seine Freunde arbeiten in Bab al-Salama als Schlepper.
  • Anas Salmo (im grauen Pulli) mit seiner Familie in Gaziantep: Im März werden sie einen Termin beim Schweizer Generalkonsulat in Istanbul bekommen – nach fast fünf Monaten Wartezeit.

Viele Familien kommen zu Fuss. Mütter, Väter, Kinder, alle schleppen grosse Taschen. Andere kommen mit dem Auto, sechs, sieben Leute in einem Fahrzeug. Am Grenzposten Öncüpinar, auf der türkischen Seite des Übergangs zu Syrien, zeigen sie dem Wächter ihre Pässe. Er schaut hinein, ein paar Sekunden nur, und gibt sie dann zurück. Wieder eine Familie, die dem Krieg in Syrien entkommen ist. Wieder eine Familie, die irgendwo in der Türkei unterkommen muss. Über 200 000 Menschen hat das nördliche Nachbarland Syriens in 21 Flüchtlingscamps entlang der Grenze untergebracht. 14 000 davon im Vorzeigecontainerlager gleich hier am Grenzübergang, in dem es Schulen gibt und Fussballplätze und genügend Essen und von dem sich die UN-Sonderbotschafterin Angelina Jolie tief beeindruckt zeigte. Doch in der Türkei leben mittlerweile über 700 000 syrische Flüchtlinge – gemäss den konservativen offiziellen Schätzungen. Tatsächlich sind es wohl schon über eine Million.

100 bis 200 Leute erreichen an diesem Sonntagmittag den Grenzposten Öncüpinar – pro Stunde. Die meisten kommen aus dem Gebiet um Aleppo, keine siebzig Kilometer ist die Stadt entfernt. Wenn nicht gerade eine Ambulanz mit Blaulicht über die Grenze rast, um einen Schwerverletzten in ein türkisches Spital zu bringen, geht es hier erstaunlich ruhig zu. Leute verschnaufen am Stacheldrahtzaun, trinken Tee, warten auf Verwandte oder auf einen Sammelbus. Ein Bewohner des Containerlagers verkauft Kaffee, ein anderer Zigaretten. Junge Männer, die mit ihrem vollbepackten Auto nach Syrien wollen, besprechen, wie viel Geld sie dem türkischen Grenzwächter wohl zustecken müssen, damit er nicht allzu genau nachschaut, womit sie ihr Auto beladen haben.

«Manchmal zielen sie direkt auf uns»

Plötzlich knallt es, zweimal hintereinander. Die Schüsse müssen ganz in der Nähe abgefeuert worden sein. Die Gefechte reichen bis an die Grenze. Den Hügel, der am Containercamp ausläuft, hat der extremistische Al-Kaida-Flügel Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isil) unter Kontrolle, das Tal die Freie Syrische Armee (FSA). Die Truppen Assads wurden aus dem Nordwesten des Landes längst vertrieben, aber immer wieder bombardiert die Luftwaffe das Gebiet. «Man weiss nicht mehr, wer wen tötet», sagt ein Junge, der im Containercamp lebt. Mehrere Menschen im Lager seien von Querschlägern getötet worden.

Doch die Schüsse von eben stammten nicht von Kämpfern. Türkische Grenzwächter hätten sie abgefeuert, sagt der fünfzehnjährige Mustafa, der eben aus dem Unterholz aufgetaucht ist, das entlang des Grenzpostens wuchert. Ihm und seinem Freund Muhammad hätten die Schüsse gegolten. «Heute haben sie über unsere Köpfe gezielt, um uns Angst zu machen. Manchmal zielen sie direkt auf uns.» Ein Freund von ihm sei vor ein paar Tagen angeschossen worden. Mustafa lebt seit über zwei Jahren im Flüchtlingscamp auf der syrischen Seite der Grenze, in Bab al-Salama, wo es keine Container gibt und keinen Besuch von berühmten Sonderbotschafterinnen. Er arbeitet als Schlepper. Die meisten der fliehenden SyrerInnen haben keinen Pass. Sie müssen die grüne Grenze passieren. Hier ist die grüne Grenze ein brauner Pfad, der parallel zum offiziellen Grenzübergang verläuft, keine dreissig Meter von diesem entfernt. Ihn alleine zu begehen, ist eine schlechte Idee: Das Gelände ist vermint. «Wir laufen immer in bestehenden Spuren», sagt Mustafa. Klar habe seine Mutter, die mit ihm im Flüchtlingslager lebt, Angst um ihn. «Pass auf», flehe sie ihn allmorgendlich an. «Aber wo soll sie sonst Geld hernehmen für unser Essen?» Mustafas Vater kämpft irgendwo in Syrien für die FSA. Immerhin lebt er noch. Der Vater von Mustafas elfjährigem Schmugglerfreund Muhammad ist tot, erschossen in Aleppo. Mustafas älterer Bruder kam hier an der Grenze um, er trat beim Schmuggeln auf eine Mine.

«Allah weiss es. Wir nicht.»

Fast alle Menschen, die beim Posten Öncüpinar aus Syrien über die Grenze kommen, landen bald darauf in der südtürkischen Stadt Gaziantep. 1,4 Millionen TürkInnen leben hier – und mittlerweile wohl um die 300 000 syrische Flüchtlinge. Genau weiss es niemand. Deren Not, irgendwo unterzukommen, treibt die Preise in die Höhe. Für eine Wohnung, die man vor zwei Jahren für umgerechnet 100 Franken pro Monat mieten konnte, bezahlt man nun 400. Und was vor zwei Jahren noch eine Abstellkammer oder ein Mülldepot war, ist jetzt eine Wohnung. In einem Raum – zwölf Quadratmeter gross, die Decke feucht, kein fliessendes Wasser – sitzt Ahmes Nadjar, 54 Jahre alt, in seinem Rollstuhl. Als er zwei Jahre alt war, hatte er Fieber und bekam eine Spritze. Die Ärzte machten einen Fehler, er verbrachte sein Leben im Rollstuhl, die letzten beiden Jahre meistens in seiner Wohnung in Aleppo, vor dem Fernseher, in dem er sah, wie sein Land kaputt ging. Dann schlug vor sieben Monaten eine Rakete ins Nachbarhaus ein. «Wie soll ich mich verstecken?», fragt Ahmes Nadjar und deutet auf den Rollstuhl. Er musste flüchten. Jetzt lebt er hier, zusammen mit seinem Sohn Salmo, der Tochter Fatma und deren fünfjährigem Buben Ahmad. Ahmes’ Frau ging vor kurzem zurück nach Aleppo, um nach ihrem zweiten Sohn zu sehen, der dort im Gefängnis sitzt. «Dieses Zimmer ist alles für uns, Schlafzimmer, Küche, Dusche», sagt Ahmes.

Salmo, sein zwanzigjähriger Sohn, sitzt auf dem Rand der von einem türkischen Nachbarn gestifteten Matratze und schweigt. Er hat bis vor kurzem in Syrien für die Dschabhat al-Nusra gekämpft, den zweiten Al-Kaida-Ableger neben Isil. Die Al-Nusra-Leute hätten ihn einfach mehr überzeugt als jene der FSA, sagt er, hätten klarere Ideen gehabt, wie sie das Regime bekämpfen wollten. Nach westlicher Klassifikation ist Salmo Nadjar ein gefährlicher Islamist. Aber er hat jetzt andere Sorgen. Sein Vater klagt, er habe nur noch fünf Lira. «Soll ich nun Kohle kaufen oder Brot?», fragt er. Salmo Nadjar treffen die Worte seines Vaters. Er sieht sich in der Verantwortung, für die Familie zu sorgen, jetzt erst recht, wo die Mutter weg ist. Falls er nicht bald eine Arbeit findet, wird der türkische Vermieter seine Drohung wahr machen und sie rauswerfen. «Wohin sollen wir dann?», fragt Ahmes. «Nur Allah weiss es. Wir wissen es nicht.»

«Ihren Zweck erreicht»

In einem anderen Stadtteil von Gaziantep, zwei Kilometer von der Familie Nadjar entfernt, wohnen Insaf und Anas Salmo mit ihren drei Kindern. Sie wissen genau, wo sie hinwollen: in die Schweiz. Auch sie kommen aus Aleppo. Vor dem Krieg reparierte Anas dort Klimaanlagen, die Familie lebte gut von seinem Lohn. Als die Gefechte begannen, verlor Anas seine Anstellung, doch er arbeitete weiter, so gut es ging, «die Bomben sind zur Routine geworden», sagt er. Er versorgte seine Familie vom wenigen Geld, das ihm die Kunden direkt bezahlten. Sie harrten in Aleppo aus – bis im September das Telefon aus der Schweiz kam, aus dem solothurnischen Dorf Selzach, wo Anas’ Schwester lebt. Bundesrätin Simonetta Sommaruga hatte angekündigt, Familienzusammenführungen für in der Schweiz lebende SyrerInnen zu vereinfachen. Nun hatte die Familie einen Plan, wo sie dem Krieg entkommen konnte.

Eine Bekannte brachte sie von Aleppo an die Grenze, von dort gingen sie weiter nach Gaziantep, wo bereits Anas’ Eltern und ihre Schwester lebten. Nun wohnen sie alle zusammen, in einem Quartier, in dem sich Autowerkstätten, Teestuben und Coiffeursalons aneinanderreihen. In der Stube der Wohnung ist es kalt, trotz des Holzofens, der nicht mit Holz beheizt wird, sondern mit Kohle, was besser ist für das Portemonnaie, aber schlechter für die Lungen, vor allem für jene von Aiham, dem siebenjährigen Jungen von Insaf und Anas, der unablässig hustet. Er wurde mit nur einer Niere geboren, wurde mehrmals operiert. Aiham sollte dringend mal wieder einen Arzt sehen, aber dafür fehlt das Geld. Vor zwei Monaten fand sein Vater Arbeit, er packte in einer Firma Pampers in Säcke ab – für den halben Lohn, den die Türken verdienten, sagt er. Nach vier Wochen gab es keine Arbeit mehr, von einem Tag auf den andern sei er weggeschickt worden, seither sucht er vergebens.

Aiham zeichnete früher häufig Autos, mit einem Stern auf der Haube, Mercedes ist seine Lieblingsmarke. Jetzt zeichnet Aiham Panzer. Und blutende Menschen. «Meine Kinder haben so viel Schlimmes erlebt», sagt Anas, der Vater. «Ich will sie nie mehr in Gefahr bringen.» Seine einzige Hoffnung sei seine Schwester, sei die Schweiz. Ende Oktober hat er vom Schweizer Generalkonsulat einen Termin bekommen, um in Istanbul das Visum für seine Familie zu beantragen. Einen Termin im März, fast fünf Monate später. Denn vor ihm hatten schon Hunderte Landsleute um ein Visum ersucht. Bis dahin wird seine Familie in Gaziantep ausharren. Werde ihr Gesuch abgelehnt, dann reiche er Rekurs ein, sagt Anas.

Im November reagierte das Bundesamt für Migration (BFM) auf die vielen Visabegehren: Es erliess «Erläuterungen zur Weisung vom 4. September». Seither muss die Person, die ihre Verwandten in die Schweiz holen möchte, Gewähr dafür bieten, dass sie sie bei sich beherbergen kann. In Zweifelsfällen werde das BFM «die Umstände der Einladung» prüfen und dabei die kantonalen Behörden beiziehen, hiess es. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe kritisierte dies als «Wortbruch gegenüber syrischen Flüchtlingen». Ende November dann hob das BFM die Visaerleichterungen ganz auf. Die Gesuche von allen Flüchtlingen, deren Verwandte bis dahin die Botschaft kontaktiert hatten, würden noch berücksichtigt, teilte es mit. Die Massnahme habe sich «als effektiv erwiesen und ihren Zweck erreicht». Es könne davon ausgegangen werden, «dass mittlerweile die meisten der für den Visumsantrag berechtigten Familienangehörigen, die in einer unmittelbaren Notlage waren, von den Erleichterungen Gebrauch machen konnten».

«Das ist einfach respektlos»

Gut, sprechen Nariman Mustafa und ihr Mann Ahmad Muhammad kein Deutsch – denn für sie müsste sich diese Aussage anfühlen wie ein Schlag ins Gesicht. Sie haben es vor kurzem nach Europa geschafft. Ganz knapp. Im europäischen Teil Istanbuls sind sie untergekommen, mit ihren drei Töchtern Aras, Aral und Arima und zwei weiteren Familien. Vierzehn Menschen teilen sich dreissig Quadratmeter unter der Erde. Layla Mustafa, die Schwester von Nariman, die seit Jahren in Bern lebt, hatte sie im September angerufen. Die Schweiz habe ihre Gesetze gelockert, erzählte sie, sie würden dort ein Visum bekommen. Nariman und ihre Familie lebten da längst nicht mehr zu Hause. Sie waren bei FreundInnen in einem andern Stadtteil Aleppos untergekommen – rechtzeitig, bevor eine Rakete in das Zimmer einschlug, in dem ihre Töchter geschlafen hatten. Nariman zeigt Bilder einer Ruine, die mal ihr Haus war, im Viertel Bustan al-Bascha, in dem kaum mehr ein ganzes Gebäude steht. Nun, nach dem Bescheid aus der Schweiz, wollten sie fliehen. Doch lange kamen sie nicht aus der Stadt. Isil hatte das Gebiet nördlich von Aleppo unter Kontrolle. Am 7. Oktober schliesslich schafften sie es an die Grenze und überquerten sie zu Fuss. 100 Dollar pro Person bezahlten sie dem Schlepper, 500 insgesamt, der grösste Teil ihres Ersparten war weg.

In Istanbul leben fast doppelt so viele Menschen wie in der Schweiz. Eine Busfahrt zum Schweizerischen Generalkonsulat – es befindet sich im dritten Stock eines modernen Bürogebäudes im Zentrum der Stadt – dauert vom Zuhause der Familie aus gut zwei Stunden, wenn es kaum Staus gibt. Meistens gibt es viele. Am 11. Dezember konnte die Familie ihren Antrag einreichen. Das Gespräch habe keine fünf Minuten gedauert, erzählen die Eltern. Was danach geschah, schildern Nariman und Ahmad mal abwechslungsweise, mal gleichzeitig, mal abgeklärt, dann wieder stockend, den Tränen nah: Erst hörte die Familie lange nichts. Sie fuhren mehrmals zum Generalkonsulat, bekamen einen neuen Termin, kamen wieder und wurden erneut vertröstet. Am 17. Januar schliesslich wurden sie reingelassen. Der Schweizer Mitarbeiter, der kein Arabisch sprach, bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Er reichte ihnen ein Dokument. «Verweigerung» steht gross drauf geschrieben. Zur Begründung stehen der Behörde elf Optionen zum Ankreuzen zur Verfügung. Gewählt wurde der Punkt 8: «Die vorgelegten Informationen über den Zweck und die Bedingungen des beabsichtigten Aufenthalts waren nicht glaubhaft.» Der Angestellte zeigte auf eine Linie; hier, bitte, sollten sie unterschreiben, ihr Antrag sei abgelehnt. «Wir fragten, wieso, aber wir bekamen, keine Antwort», sagt Ahmad. «Das ist einfach respektlos.»

Ihre Wohnung sei zerbombt, sagt Nariman, Ahmads Stelle beim Landschaftsministerium gebe es nicht mehr. Zurück nach Aleppo könnten sie nicht und hier bleiben auch nicht, «unsere Reserven sind längst weg». Die grösste Sorge sei die um die Zukunft ihrer Töchter. Seit zweieinhalb Jahren seien sie nicht mehr zur Schule gegangen. Sie habe keine Ahnung, wie es ihren früheren Klassenkameraden gehe, sagt Aras, die älteste Tochter. «Ich weiss nicht einmal, wo sie sind.»

«Tatsächlich unglücklich»

Die Ablehnung des Visabegehrens der Familie ist auf den 11. 12. 2013 datiert. Also auf jenen Tag, an dem die Familie ihr Gesuch einreichte. Wurde das Begehren tatsächlich bereits an jenem Tag abgelehnt? Falls ja, konnten ja kaum Abklärungen angestellt werden, ob ihre Schwester sie in Bern unterbringen kann. Und die Begründung der Ablehnung – wie kam die zustande? Welche Informationen sollen nicht glaubhaft gewesen sein? Dass sie aus Aleppo flüchten mussten? Dass Nariman die Schwester von Layla ist? Fragen, auf die die Familie keine Antworten weiss.

Fragen, die man Ralph Steinegger stellen muss. Er ist auf dem Schweizerischen Generalkonsulat in Istanbul für die Vergabe der Visa verantwortlich. Steinegger empfängt – begleitet von seiner Vorgesetzten, der Generalkonsulin Monika Schmutz Kirgöz – in einem Konferenzzimmer. Der Andrang von syrischen Gesuchstellern in den letzten Monaten sei heftig gewesen, sagt er. Es komme vor, bestätigt er, dass man ein Visum gleich an jenem Tag erteile oder verweigere, an dem das Gesuch gestellt werde.

Wurde der Antrag also abgelehnt, ohne dass überhaupt Rücksprache mit dem BFM oder den Verwandten in der Schweiz genommen wurde? «Ja, das ist möglich», sagt Ralph Steinegger. Wenn die Befragung in Istanbul ergebe, dass die Verwandten in der Schweiz schon andere Familien eingeladen haben, «dann gehen wir davon aus, dass die Unterbringungsmöglichkeit nicht mehr vorhanden ist. Dann kann es sein, dass wir das Visum ohne Rücksprache verweigern.» Layla Mustafa hatte zuvor schon einen Bruder mit seiner Familie sowie eine Schwester mit deren Mann in die Schweiz geholt.

Das BFM in Bern wird später auf Anfrage schreiben, die Auslandvertretung sei berechtigt, Visa «in eigener Zuständigkeit zu verweigern, wenn die Visavoraussetzungen nicht erfüllt sind». Die Begründung der Verweigerung sei «tatsächlich unglücklich formuliert», räumt Steinegger ein. Aber er und seine Mitarbeiter seien an die Standardformulare für Schengen-Visa gebunden, und auf diesen gebe es keine Begründung, die besser passe. Sie forderten die Antragsteller stets auf, einen Rekurs einzureichen, wenn sie mit der Verweigerung nicht einverstanden seien, betont Steinegger. «Mir persönlich ist es recht, wenn eine zweite Instanz meinen Entscheid überprüft.»

«Absolut inakzeptabel»

Für Stefan Frey, Sprecher der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, ist das Vorgehen der Schweizer Behörden in Istanbul «schlicht skandalös». Die Flüchtlingshilfe habe mittlerweile Angebote von über hundert Personen in der ganzen Schweiz, die bereit seien, syrische Flüchtlinge bei sich zu beherbergen, sagt er. «Wenn das Generalkonsulat Visagesuche aufgrund irgendwelcher Annahmen einfach vom Tisch wischt, ohne auch nur abzuklären, ob die Gesuchsteller in der Schweiz untergebracht werden könnten, ist das absolut inakzeptabel.»

Das BFM habe nie gesagt, eine Person in der Schweiz dürfe nur eine bestimmte Anzahl Familienangehörige einladen. Dass das Generalkonsulat nun Gesuche allein aus dem Grund abweise, dass bereits andere Familienangehörige in der Schweiz seien, sei «ein erneuter Wortbruch» gegenüber den syrischen Gesuchstellern. Und es sei ein Affront gegenüber jenen Schweizern, die bereit seien, Syrer aufzunehmen, «und damit zeigen, dass es eine andere, eine humanitäre Schweiz gibt». Mit diesem Vorgehen führten die Behörden «die humanitäre Tradition auf den Scheiterhaufen». Die Schweiz habe sich mit der Visaerleichterung verpflichtet, sagt Stefan Frey. Es sei «das Mindeste», dass die Behörden die noch hängigen Gesuche «seriös prüfen – und akzeptieren, dass vermutlich die allermeisten dieser Menschen das Recht haben, in die Schweiz zu kommen».

Layla Mustafa sitzt in der Stube der geräumigen Berner Wohnung, in der sie mit ihrem Mann und den drei Kindern wohnt, auf dem Sofa und hebt ihr Gesicht langsam aus den Händen. Eben habe sie ihre Schwester Nariman wieder angerufen, sagt sie. «Sie weinte nur.» Bei jedem Anruf hoffe Nariman auf gute Nachrichten, jedes Mal müsse sie sie enttäuschen. «Das schmerzt.» Layla Mustafa wird nun Rekurs einreichen. Hat sie die 150 Franken Kostenvorschuss einbezahlt, wird das BFM die Akten vom Generalkonsulat in Istanbul anfordern, den kantonalen Migrationsdienst zu weiteren Abklärungen auffordern und dann entscheiden. Bis zu zehn Wochen kann das laut BFM dauern. «Noch einmal zehn Wochen», sagt Layla Mustafa, schüttelt den Kopf und vergräbt ihr Gesicht wieder in den Händen.

Unter dem Motto «huge flights – little shelter / grosse Fluchten – kleines Asyl» gibt es vom 28. Februar bis zum 14. März in der Roten Fabrik Zürich eine Ausstellung, in der kalten Fakten künstlerische Positionen aus Syrien und der Schweiz gegenübergestellt werden. Dazu gibt es Veranstaltungen zur Lage in Syrien sowie zur europäischen und zur schweizerischen Asylpolitik. Details finden Sie unter www.tinyurl.com/grossefluchten.

5000 betroffene Syrierinnen : «Abgearbeitet bis zum Sommer»

Am 4. September 2013 kündigte Bundesrätin Simonetta Sommaruga an, Familienzusammenführungen für die insgesamt etwa 2000 in der Schweiz niedergelassenen SyrerInnen zu erleichtern: Sie sollten ihre Grosseltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder sowie ihre Geschwister mit deren Kernfamilien in die Schweiz holen dürfen – auch wenn diese nicht unmittelbar gefährdet seien und ohne dass die finanziellen Verhältnisse überprüft würden. Sei eine Rückkehr nach drei Monaten nicht zumutbar, könne um eine vorläufige Aufnahme ersucht werden. Faktisch bot sie diesen Personen Asyl an. Als immer mehr Gesuche eingingen, verschickte das Bundesamt für Migration (BFM) am 12. November «Erläuterungen» an die Auslandvertretungen. Diese besagten nun: «Der Gastgeber muss Gewähr bieten, die Gäste während des bewilligungsfreien Aufenthalts bei sich beherbergen zu können.»

Das sei «kein Wortbruch», wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe kritisiert habe, schreibt das BFM auf Anfrage: «Diese Erläuterungen präzisieren lediglich, was in der Weisung bereits enthalten war.» Mitte Oktober hatte das BFM allerdings in einer «ersten Bilanz» noch mitgeteilt: «Die Behörden rechnen damit, dass ein Grossteil der in die Schweiz eingereisten Syrerinnen und Syrer zumindest in der ersten Zeit bei ihren Verwandten unterkommt.» Von «Gewähr bieten» war keine Rede gewesen. Ende November hob das Bundesamt die Erleichterungen ganz auf.

Bis Ende 2013 – neuere Zahlen sind nicht zu erfahren – sind gemäss BFM 1157 Personen in die Schweiz eingereist. 678 weitere haben ein Visum erhalten. 484 Gesuche wurden abgelehnt. Rund 5000 waren Ende 2013 noch hängig. Das BFM hofft, diese bis im Sommer 2014 abgearbeitet zu haben. Einsprachen gegen negative Entscheide seien bisher «nur in wenigen Fällen» eingegangen.

Was weiter geschah: Nachtrag vom 20. März 2014 : Visum für syrische Familie

Am Erscheinungstag dieser WOZ-Ausgabe sollen sie in Zürich landen: Nariman Mustafa, Ahmad Muhamad und ihre drei Töchter Aras, Aral und Arima. Im Februar hatte die WOZ sie in der unterirdischen Wohnung in Istanbul besucht und an ihrem Beispiel aufgezeigt, wie die Schweizer Behörden syrische Flüchtlinge im Stich lassen. Die Familie war letzten Herbst aus Aleppo in die türkische Metropole geflüchtet, nachdem die Schweiz bekannt gegeben hatte, Verwandten von in der Schweiz lebenden SyrerInnen vereinfacht ein Visum auszustellen. Narimans Schwester Layla Mustafa wohnt in Bern. Doch im Januar lehnte das Schweizerische Generalkonsulat in Istanbul das Visagesuch ab – ohne konkrete Begründung.

Die WOZ-Recherche zeigte: Weil Layla Mustafa schon Verwandte in die Schweiz geholt hatte, war das Konsulat davon ausgegangen, sie könne Narimans Familie nicht mehr unterbringen. Deshalb hatte es das Visum verweigert – ohne Rücksprache mit Layla Mustafa genommen zu haben. Ein Vorgehen, das die Schweizerische Flüchtlingshilfe als «skandalös» taxierte. Layla Mustafa und ihr Mann erhoben daraufhin Einsprache – und legten dar, wie sie ihre Verwandten unterbringen können. Nun ging es plötzlich schnell. Anfang März kam die knappe Antwort des Bundesamts für Migration: «Nach Prüfung der uns zur Verfügung stehenden Unterlagen erachten wir die Voraussetzungen zur Erteilung der beantragten Visa als erfüllt.»

Timo Kollbrunner

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen