Nach der Abschottungsinitiative: «Wir haben vielleicht über das Ende der Schweiz abgestimmt»
Ein Geograf, ein Politologe und ein Spezialist für internationales Recht aus der Westschweiz machen sich Gedanken über die Zukunft der Schweiz nach dem 9. Februar 2014.
«Wir sehen auf der Abstimmungskarte eine Schweiz in drei Teilen», sagt Pierre Dessemontet. Er ist Wirtschaftsgeograf am Lausanner Institut Microgis, das neben statistischen Unterlagen für Raum- und Infrastrukturplanung auch Abstimmungs- und Wahlanalysen erstellt. Für die Romandie ist die Karte nicht kompliziert: Sämtliche Westschweizer Kantone haben die Abschottungsinitiative abgelehnt; das Nein wird auch in allen grösseren Regionen bestätigt. Die wirtschaftlich boomenden, urban geprägten Gebiete zwischen Genf, Lausanne und Neuenburg haben die SVP-Initiative massiv abgelehnt, gefolgt vom Kanton Wallis, dessen touristisch geprägte Wirtschaft weder ohne ausländische Arbeitskräfte noch ohne ausländische Gäste auskommen könnte.
Daneben gibt es kleinräumige oder auch nur lokale Ausnahmen, für die Dessemontet keine einheitliche Erklärung hat. Im unteren Wallis etwa, im Gebiet der krisenempfindlichen Chemiestadt Monthey, sei die Initiative klar «aus Angst vor der Konkurrenz durch Grenzgänger» angenommen worden, so der Geograf. Das Ja im Berner Jura erklärt er mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Region zum Kanton Bern, das Ja in der Ajoie, dem äussersten Zipfel des Kantons Jura, durch den Waffenplatz, über den sich die Ajoie mit dem Nationalstaat verbunden fühle. Im Neuenburger Val de Travers, der Heimat von SVP-Regierungsrat Yvan Perrin, sei das Resultat durch die Persönlichkeit Perrins geprägt. Im Kanton Fribourg schliesslich gebe es neben der ablehnenden Universitätsstadt eine zustimmende regionale Peripherie, die bis in die Waadtländer Broye hinüberreiche. «Der Kanton Fribourg war bis vor kurzem ein stark bäuerlich geprägter, konservativer Kanton, der sich in den letzten Jahren rasant entwickelt hat, ohne dass die negativen Folgen der Zersiedelung durch eine ernst zu nehmende Raumplanung gebremst worden sind.»
Das neue «Innerwelschland»
Für Dessemontet drängen sich drei Schlüsse auf. «Es gibt auch in der Westschweiz eine ‹Innerschweiz›, ein ‹Innerwelschland›, Gebiete, in denen die Romands eine mit der Deutschschweizer Mehrheit vergleichbare Vorstellung davon entwickeln, wie die Schweiz sein sollte. Aber im Vergleich zur deutschen Schweiz ist dieses ‹Innerwelschland› marginal.» Zwar gebe es auch in der Romandie eine Peripherie, die sich in Opposition zu den urbanen Zentren entwickle, «doch die Kluft ist viel weniger tief als in der deutschen Schweiz». Was Dessemontet jedoch besonders auffällt: Es handle sich zum ersten Mal in der Geschichte um ein Resultat, das sich nicht hauptsächlich nach Kantonen aufschlüsseln lasse, sondern das einem sprachregionalen Muster folge. «Wie wenn drei verschiedene Kampagnen geführt worden wären, eine in der Westschweiz, eine in der deutschen Schweiz und eine im Tessin, wo die Kluft zwischen urbanen Zentren und Peripherie komplett aufgehoben scheint.» Dessemontet führt das auf die Krise der lokalen Presse, das Entstehen eines «sprachregionalen Medien- und Politikmarkts», zurück. «Diese sprachregionale Realität könnte in Zukunft ein Problem für den Zusammenhalt der Schweiz werden.»
Für den an der Lausanner Universität unterrichtenden Politologen Philippe Gottraux ist das Ja Bestätigung eines politischen Trends, den niemand wahrhaben wolle. «Sie ist Ausdruck einer Fremdenfeindlichkeit, die in den vergangenen Jahrzehnten von der offiziellen Politik geschaffen und geschürt worden ist.»
«Fremdenargwöhnisch»
Der Autor einer Studie über die sozialen und politischen Motivationen der SVP-AnhängerInnen stellt die Abstimmung in den Zusammenhang eines halben Jahrhunderts offizieller Politik, an der nicht die SVP allein beteiligt sei. Die sukzessive Verhärtung der Asyl- und Ausländergesetzgebung durch die bürgerlichen Parteien habe ein Klima des Argwohns gegenüber «den anderen» geschaffen. «Ich sage nicht, dass eine Mehrheit der Schweizer Abstimmenden fremdenfeindlich ist. Aber sie sind ‹fremdenargwöhnisch›», sagt Philippe Gottraux – ein Argwohn, den es auch in der Romandie gebe.
Gottraux spart nicht mit Kritik an der Sozialdemokratischen Partei: «Von der SP bis zum Wirtschaftsdachverband Economiesuisse – alle sprechen nur davon, wie nützlich die Immigration für die Schweizer Wirtschaft sei.» Die Linke habe dabei mitgemacht, Menschen auf Zahlen zu reduzieren und «ökonomischen Egoismus» zu predigen. Damit habe sie das Feld der politischen Werte kampflos der SVP überlassen. Gottraux ist skeptisch gegenüber der These, dass die Ja-Stimmen von VerliererInnen der wirtschaftlichen Öffnung und der Globalisierung kämen. Dies bedeute, eine unterprivilegierte Wählerschaft für die Erfolge der SVP verantwortlich zu machen und die Unterstützung der SVP durch privilegierte soziale Schichten herunterzuspielen. «Man muss Vorurteile und soziale Realitäten auseinanderhalten: Die Wahlanalysen zeigen, dass vierzig Prozent der Wählerschaft der SVP aus unterprivilegierten Schichten kommen, siebzehn Prozent von Kleinunternehmern und Selbstständigerwerbenden. Das bedeutet, dass gegen die Hälfte der SVP-Stimmen von sogenannten Globalisierungsgewinnern kommt.»
Auch Gottraux sieht Probleme auf die Schweiz zukommen: «Es wird einen Kampf aller gegen alle um die Kontingente geben, entweder zwischen den Wirtschaftssektoren oder zwischen den Regionen.» Das Resultat berge ein grosses «Potenzial zur Auflösung der Schweiz», und zwar so lange, als sich die Linke an der allgemeinen «Realitätsverweigerung» beteilige: «Um den Fremdenargwohn zu bekämpfen, muss er vor allem einmal benannt werden.» Die Linke müsse sich auf ihre eigenen Werte besinnen, nämlich Solidarität und Internationalismus. «Denn ob wirtschaftliche Krise und sozialer Abbau in den unterprivilegierten Klassen zu rechtsradikalen oder zu linken Bewegungen führen, wird letztlich davon bestimmt, wer ein wirklich glaubwürdiges Politikangebot macht.»
Während der offizielle Tenor der Westschweizer PolitikerInnen abwiegelt und die möglichen Folgen der Abstimmung herunterspielt, gibt es auch radikale Denker. Etwa den Direktor des Global Studies Institute an der Universität Genf, Nicolas Levrat (vgl. Interview im Anschluss an diesen Text). Er entwirft drei Szenarien für die Schweiz: das Akzeptieren einer Situation, die den wirtschaftlichen Erfolg der Romandie in Gefahr bringt, einen neuen Anlauf für den EU-Beitritt der Schweiz oder die Loslösung der Romandie von der Eidgenossenschaft.
* Philippe Gottraux et Cécile Péchu: «Militants de l’UDC. La diversité sociale et politique des engagés». Antipodes. Lausanne 2011.
Fragen an den Juristen Nicolas Levrat: «Oder wir treten aus der Schweiz aus»
WOZ: Herr Levrat, ist die politische und diplomatische Schweiz nach der Abstimmung über die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative klinisch tot?
Nicolas Levrat: Ich sehe das so, ja. In der Initiative, und folglich nun auch in der eidgenössischen Verfassung, steht geschrieben, dass die Schweiz autonom über die Immigration entscheidet. Doch es heisst ebenfalls, dass die Schweiz innert drei Jahren Neuverhandlungen über die Immigration durchführen muss. Wie kann man mit andern verhandeln, wenn man autonom entscheiden will? Wenn man es wörtlich nimmt, gibt es da absolut keinen Handlungsspielraum. Vielleicht haben wir deshalb am 9. Februar, ohne es zu wissen, über das Ende der Schweiz abgestimmt. Jedenfalls über das Ende der Schweiz, wie wir sie bisher gekannt haben.
Hätte man die Initiative für ungültig erklären lassen müssen?
Ja. Aber die SVP hätte sich wieder einmal als Opfer aufgespielt und politischen Gewinn daraus gezogen. Es gibt in der Schweiz keine unabhängige Instanz, die einen solchen Entscheid fällen kann. Solange das Parlament darüber entscheidet, das heisst Parteien, die in Konkurrenz zueinander stehen, wird das niemand wagen.
Wie sehen Sie die Zukunft der Schweiz?
Die wirtschaftliche Lage wird sich schnell verschlechtern. Die Schweiz wird versuchen, eine pragmatische Lösung für die Einwanderungsfrage zu finden. Doch die EU hat auch ihre Probleme, und in unsern Nachbarländern sind politische Kräfte im Aufstieg, die mit der SVP vergleichbar sind. Deshalb werden diese Länder nicht so schnell einer Lösung zustimmen, die ihrer eigenen, internen Opposition Auftrieb gibt.
Welche Szenarien sehen Sie für die Romandie?
Entweder wir akzeptieren ein Resultat, das unser auf Öffnung aufgebautes wirtschaftliches Modell und unsere humanistischen Werte zerstört. Schon in kurzer Zeit werden wir dann in der Schweiz mit ökonomischen Problemen zu kämpfen haben, und dann wird nicht mehr die Politik, sondern die Wirtschaft entscheiden, denn die Wirtschaft hasst nichts mehr als Rechtsunsicherheit.
Oder wir nehmen gemeinsam mit allen humanistischen und verantwortungsbewussten Kräften einen neuen Anlauf für einen EU-Beitritt. Oder, wenn man nicht auf uns hören will, treten wir (und vielleicht nicht nur die Romandie) aus der Schweiz aus und der EU bei.
Das klingt sehr provokativ!
Es ist auch so gemeint. Im Moment sind alle Auswege verstellt. Die Schweiz braucht eine grössere Veränderung, um aus der drohenden Isolation auszubrechen. Für den Moment klingt das Szenario Sezession provokativ. Aber vielleicht kommen wir in eine Situation, in der radikale Lösungen nötig werden.
Wäre es überhaupt möglich, dass die Romandie der EU beitritt?
Vom europäischen Recht aus gesehen ist das tatsächlich nicht unmöglich. Die EU hat, als es politisch nötig war, Slowenien aufgenommen. Ich arbeite als Direktor meines Instituts mit katalanischen und schottischen Unabhängigkeitsbewegungen zusammen. Wir arbeiten an hypothetischen Szenarien: Wie kann eine Region bei der EU dabei sein, ohne vollständig dabei zu sein, ohne sich vom Nationalstaat vollständig loszulösen? Theoretisch ist das denkbar. Es würde allerdings voraussetzen, dass die EU ihre territoriale Organisation neu definiert.
Hier liegt ein enormes Veränderungspotenzial, insbesondere, als auch die EU in einer Krise ist. Und das alles kann sehr schnell gehen, wenn es wirtschaftlich notwendig ist. Denken Sie nur daran, wie schnell die Wiedervereinigung Deutschlands gekommen ist!
Interview: Helen Brügger
Rechtsprofessor Nicolas Levrat (49) ist Direktor des Global Studies Institute an der Universität Genf.