Jüdisches Museum Hohenems: Das Habsburger Reich, ein früher Testfall für Europa?

Nr. 13 –

Im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat genossen Juden seit 1867 staatsbürgerliche Rechte. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems fragt hundert Jahre nach seinem Untergang provokant: Waren die JüdInnen die ersten EuropäerInnen?

Chanukkaleuchter mit Doppeladler von Meister Thomas Tübner; Silber, teilvergoldet; Halberstadt 1713. Sammlung Dr. David und Jemina Jeselsohn

Er hat eine lange Wanderung hinter sich. Anfang des 18. Jahrhunderts in einer Halberstädter Silberwerkstätte hergestellt, gelangte er 1713 in den Besitz des österreichischen Hoffaktors Samson Wertheimer, der auch in Ungarn, Krakau und Worms einen Rabbinertitel tragen durfte. Der prächtige Chanukkaleuchter, den ein Doppeladler krönt, war Ausdruck der Wertschätzung des Kaisers, denn nur einflussreichen Hofjuden war es erlaubt, ein Wappen zu führen. 1824 wanderte der Leuchter im Gepäck der Wertheimer-Nachkommen durch bayerische und fränkische Lande, kam schliesslich nach Hannover, bis sich 1938 seine Spur verlor. Erst in den fünfziger Jahren tauchte er wieder in New York auf. Wie ein stiller Gast begleitete das Objekt die jüdischen Wanderbewegungen, die im zweiten Jahrtausend entlang der grossen Ströme Rhein und Donau begannen.

Der Brutkasten Europas

An einem Altrheinarm in Vorarlberg liegt auch das Städtchen Hohenems, bekannt durch die Emser Chronik, ein Meisterwerk der frühen Druckkunst. Das alte jüdische Viertel erinnert an das Jahr 1617, als Reichsgraf Kaspar den Juden erlaubte, sich in seinem Herrschaftsbereich anzusiedeln. Hohenems und das dort seit 1991 ansässige Jüdische Museum bilden also nicht gerade das Zentrum des alten Habsburgerreichs, sind vielleicht aber gerade deshalb prädestiniert, über den Tellerrand zu schauen und zu provozieren.

Wie, wenn der Habsburger Vielvölkerstaat der Brutkasten des neuen Europas gewesen wäre? Mittels einer jüdischen Kultur, die 700 Jahre lang diese Idee subversiv bereicherte und nicht deshalb unter den Strich der Geschichte rutschen muss, weil die Doppelmonarchie am aufkommenden Nationalismus gescheitert und 1914 untergegangen ist?

Ein «assoziatives Panorama» nennt Museumsleiter Hanno Loewy die Schau mit dem reichlich Spuren auslegenden Titel «Die ersten Europäer. Habsburger und andere Juden – eine Welt vor 1914». Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und angesichts der politischen Europaagonie, die die Rechte ungesund auftreiben lässt, wirkt die österreichische «Heimaterde wunderhold», die der Wiener Jude Jura Soyfer ironisch besang, bevor ihn die Nazis nach Buchenwald deportierten, offenbar wie ein neu zu bestellendes Projektionsfeld. Die Juden, die das grosse Reich bereisten, es mit zahllosen Netzwerken durchzogen, die es mit ihrem Geld und ihrem Wissen beeinflussten, könnten die ersten «transnationalen» Europäer gewesen sein, gerade weil sie, wie der in Budapest lehrende Historiker Anton Pelinka insistiert, keine Nation ihr eigen nennen konnten, nur «vaterlandslose Gesellen» waren.

Eine steile These und charmant schon deshalb, weil sich letztlich alles, was JüdInnen hervorgebracht haben, darunter subsumieren lässt. Auf der höchst überschaubaren Sonderausstellungsfläche im Untergeschoss einer hübschen Villa müssen dem grossen gedanklichen Entwurf allerdings Fesseln angelegt werden, und da Objekte kein Interventionsrecht haben, stehen sie nun chronologisch aufgereiht, 41 an der Zahl, durch sieben Jahrhunderte geisternd: von der wertvollen Handschrift «Or Zarua» aus dem 13. Jahrhundert über religiöse Reliquien, Münzen, Plakate und Schriften aller Art bis hin zur ersten österreichischen Lokomotive «Austria», die Salomon Mayer Rothschild finanziert hat.

Objekte erzählen nicht sich selbst

Kaiser Franz Joseph I. in einen Davidstern montiert: Abzeichen aus dem Ersten Weltkrieg, Österreich-Ungarn 1914. Sammlung Ariel Muzicant, Wien

Das «Opus trigonometricum» des Levi ben Gerschon aus dem 16. Jahrhundert geht auf jüdisch-mathematisches Wissen zurück, das schon lange zuvor gesammelt wurde. Aus Herzog Christoph von Württembergs persönlichem Siegel erklärt sich, warum Josel von Rosheim zu einem mächtigen «Vorzeigejuden» wurde. Aber ist der Stier, den Josel selbstbewusst in seinem Wappen führt, Hinweis auf ein europäisch schlagendes Herz?

Johann Christoph Wagenseils «Belehrung über jüdisch-teutsche Red- und Schreibart» gehört ganz sicher in die nachbarocken aufklärerischen Bemühungen zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache, wie 200 Jahre später das von Ludwik Zamenhof initiierte Esperanto die transnationale Kommunikation auf den Weg bringen wollte. Aber genuin europäische Projekte waren das so wenig wie Kaiserin Elisabeths Entscheidung, ihr Geld bei den Rothschilds zu deponieren und ihre Gedichte beim Schweizer Bundespräsidenten in Bern. Der Nachruf in der jüdisch-liberalen Monatszeitschrift «Die Neuzeit» in Wien pflegt da weniger ein am Horizont aufscheinendes Europa als den damaligen Sissi-Kult.

Zweifellos lässt sich aus den selten zu sehenden und spannenden Exponaten ein «Beitrag der Juden zur Entwicklung einer europäischen Kultur», wie ihn die beiden Ausstellungsmacherinnen Felicitas Heimann-Jelinek und Michaela Feuerstein-Prasser vorführen wollen, konstatieren. Aber einmal abgesehen von der doch recht beliebigen Zusammenstellung, fehlt es den präsentierten Gegenständen an konzeptioneller Kohärenz und museumspädagogischer «Übersetzung». Objekte erzählen sich nicht selbst, auch wenn sie europablau grundiert und von europäischen Stripes zusammengehalten werden.

Ausführlich lässt sich die wechselvolle Geschichte der Ausstellungsstücke im Begleitkatalog nachlesen, der ausserdem von einer dankenswert kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema eingeleitet wird und den aufgerufenen europäischen «Möglichkeitssinn» des Habsburgerreichs abklopft, wie Hanno Loewy seinen Gewährsmann Robert Musil zitiert. Diana Pinto etwa erteilt der These von den Juden als «ersten Europäern» eine klare Absage. Zum einen, weil ihr Kampf um Gleichberechtigung in der Regel von Assimilationsbestrebungen zu einer bestimmten Nation begleitet war. Zum andern müssten diejenigen, die tatsächlich von einer internationalistischen Gesinnung beflügelt waren, eher als Kosmopoliten betrachtet werden, wären also «Vorboten jener Europäer, die heute bemüht sind, lokale und nationale Grenzen zu überschreiten». Erik Petry dagegen sieht Österreich-Ungarn als den frühen «Testfall» europäischen Inklusionswillens, der «nur» am Nationalismus gescheitert sei.

Muss also wieder einmal ein weit planiertes Geschichtsfeld herhalten, um die «enttäuschte» und «missbrauchte» europäische Hoffnung zu retten in kleinmütiger Zeit, in der Grenzbäume heruntergelassen werden wie in Zeiten der deutschen Kleinstaaterei und wo die europäische Idee stumpf geworden ist am Granit des Geldes und der Ressentiments?

Rating-Agentur und Heiratsmarkt

Nein, man kann durchaus etwas lernen in Hohenems. Zum Beispiel wie es Juden durch lokale Verankerung und grenzüberschreitende Vernetzung gelungen ist, ihren Einflussbereich zu sichern in einem Umfeld, das per se prekär und rechtsunsicher war. Das weit gespannte Informationsnetz fungierte als «Rating-Agentur», als Heiratsmarkt und als Schlichtungsinstanz. Man erhält auch einen Einblick in die Rolle der Familie, die die Knoten dieses Netzes bildete, gesichert von Frauen. Und man erfährt viel über politische Diplomatie zwischen Christen und Juden, die dazu beigetragen hat, nicht nur über eine jüdische Leidens-, sondern auch von einer jüdischen Leistungsgeschichte sprechen zu können.

Joseph Roth, der scharfsichtig-nostalgische Chronist des Habsburgerreichs, kannte wie kaum ein anderer die Vorzüge und Schwächen der Doppelmonarchie, der er zutiefst verbunden war. Diese sei, schrieb er 1932 aus der Diaspora, unmittelbar vom Operettenauftritt in das schaurige Theater des Weltkriegs gegangen. An welchem Punkt steht das heutige Europa? Ein Europa, dem JüdInnen wohl nie mehr zu Gedeih oder zu angeblichem Verderb gereichen können – es sei denn in Form der Projektion.

Der Begleitkatalog zur Ausstellung «Die ersten Europäer. Habsburger und andere Juden – eine Welt vor 1914» ist im Mandelbaum-Verlag Wien erschienen.