Kommentar: Macht spüren, Druck ablassen
Prügel mit Gummiknüppeln, tagelange Isolation im Kohlekeller, sexuelle Gewalt: In der Erziehungsanstalt im Thurgauer Kloster Fischingen gingen Nonnen und Mönche bis in die siebziger Jahre grauenhaft mit Kindern um. Der letzte Woche vorgestellte Untersuchungsbericht untermauert die Vorwürfe ehemaliger SchülerInnen. Viele BefürworterInnen der «Pädophilie-Initiative» werden sich bestätigt fühlen: Menschen, die sich wie diese BetreuerInnen verhalten, sollen nie mehr mit Kindern arbeiten dürfen.
Aber gerade der Extremfall Fischingen zeigt, dass die InitiantInnen von falschen Annahmen ausgehen. Kaum eineR der TäterInnen von Fischingen wird pädophil gewesen sein. Fischingen ist vielmehr ein klassisches Beispiel für die Dynamik, die in einer extrem hierarchischen, sexualfeindlichen und nach aussen abgeschlossenen Institution entstehen kann: Sexuelle und andere Gewalt dient dazu, die eigene Macht zu spüren, Druck abzulassen, unterdrückte Bedürfnisse auszuleben. Manche Nonnen betreuten Tag und Nacht über zwanzig Kinder, schliefen im gleichen Schlafsaal: Eine solche Aufopferung fordert ihre Opfer.
Zustände wie in Fischingen gibt es in heutigen Kinderheimen nicht mehr, doch die Übergriffsprävention bleibt eine Herausforderung, erfordert Sorgfalt und Fachwissen. Scheinradikale Lösungen wie die Initiative helfen dabei nicht weiter.
Gut, wird die institutionelle Brutalität der Vergangenheit – fürsorgerische Zwangsmassnahmen, die Zustände in Fischingen oder die Menschenversuche an der psychiatrischen Klinik Münsterlingen – endlich genau untersucht. Nachdenklich macht nur, dass sich kaum jemand für die heutige institutionelle Brutalität – etwa im Asylbereich – interessiert. Bedenklich ist, dass immer wieder Initiativen mehrheitsfähig sind, die die Grundrechte gefährden und so die Voraussetzungen für neues Unrecht schaffen. Und Kinder werden zwar heute nicht mehr in Kohlekeller gesperrt, aber mehrere Zehntausend erhalten Psychopharmaka, allein in der Schweiz. Wie viele Jahrzehnte wird es dauern, bis diese Skandale untersucht werden?