Standpunkt von Michèle Meyer: Unter dem Deckmantel der Vielfalt

Nr. 23 –

Die aktuelle Aids-Präventionskampagne des Bundesamts für Gesundheit und der Aidshilfe Schweiz dient nicht der Aufklärung, sondern der Ausgrenzung, schreibt die Aids-Aktivistin Michèle Meyer.

«Love life – und bereue nichts»: Der Slogan der aktuellen Stopp-Aids-Kampagne des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und der Aidshilfe Schweiz (AHS) bedient Schuld und Sühne im Namen der Prävention. Wider alle Erfahrungen, Empfehlungen und die eigenen Leitlinien wird auf Moralin, Ausgrenzung und Selbstentwertung gesetzt. Das ist weder für das Testverhalten noch für einen offenen Umgang mit der eigenen Infektion förderlich und ist darum ein Stolperstein auf dem Weg zur Reduktion der Neuansteckungen. Stattdessen wird dem Leugnen von Risikoverhalten und der gemeinsamen Verantwortung Tür und Tor geöffnet.

Für Menschen, die mit HIV oder nahe am Risiko leben, liest sich die Botschaft so: «Bereut, ein Leben lang! Wenn nicht, helfen wir nach.» Im Menschenbild der Verantwortlichen hat es keinen Platz für Menschen mit HIV und Aids, die ihr Leben lieben und nicht bereuen. Menschen, die vielleicht jahrelang mit der ihnen auferlegten Schuld gekämpft haben, werden zurück auf den angestammten Platz verwiesen.

Ohne Bekenntnis keine Information

Die Kampagne zeigt Frauen, die mit Frauen Sex haben, Männer mit Männern und Frauen mit Männern und umgekehrt. Immer schön paarweise, möglichst ästhetisch, keiner zu dick, keine zu dünn, zu hässlich. Nicht eine She-He, kein He-She, keine Menschen mit physischen Gebrechen … Vielfalt? Nein, Sex sells.

Die Kampagne bedient im besten Fall Heterofantasien. Dass auch lesbische oder bisexuelle Frauen beim Sex gezeigt werden, wird damit begründet, dass diese gelegentlich Sex mit Männern haben könnten und dadurch ein geringes Ansteckungsrisiko eingehen. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, braucht es für Sex zwischen zwei Frauen wohl selten Kondome, auf die sich die Kampagne konzentriert. Von Sexualpraktiken von Frauen, die Sex mit Frauen haben, dem realen Risiko einer HIV-Ansteckung, von Menstruation, verletzenden Sexualpraktiken und Sextoys, von «harm reduction» durch Fingerlinge, Handschuhe und Dental Dams scheinen die Verantwortlichen beim BAG und bei der AHS noch nie etwas gehört zu haben – wärs nicht zum Heulen, wärs zum Lachen. Und ganz nebenbei wird auch die Verräterinnenrolle der Frauen, die nicht ausschliesslich Sex mit Frauen haben, bedient. Der Vorwurf, dass nur sie das Virus in die Frauencommunitys bringen, ist so althergebracht wie schmerzhaft – und erst noch falsch.

Auf der Kampagnenwebsite befindet sich ein Manifest: «Ich liebe mein Leben. Das bin ich mir schuldig. – Ich liebe meinen Körper. Deshalb schütze ich ihn. – Ich bereue nichts. Dafür sorge ich.» Wer das Bekenntnis zu Unschuld, Gesundheit und Sauberkeit nicht per Mausklick unterzeichnet, dem sind detaillierte weiterführende Informationen nicht zugänglich. Nur wer auf die drei Gebote schwört, erfährt, wie Risiken vermieden werden können, sprich: ist es wert, gesund zu bleiben.

Spätestens nach dreissig Jahren Aids-Aufklärungsarbeit sollte klar sein: Zugang zu Information für alle ist Pflicht. Das hiesse, ehrliche, zielführende Aufklärung zu betreiben, anstatt nur Aufmerksamkeit zu erregen und zugleich zu moralisieren und zu urteilen. Nein, die Aidshilfe und der Bund sind nicht mutig. Mutig wäre zu sagen: «Informiert euch, handelt gemeinsam die Schutzstrategien aus, die euch behagen. Entscheidet euch selbst. Es lohnt sich.» Mutiger wäre es auch, zum Beispiel endlich auch die Nichtinfektiosität unter erfolgreicher antiviraler Behandlung zu thematisieren.

Zu welchem Preis?

Die «Love life»-Kampagne kostet zwei Millionen Franken im Jahr. Diese Zahl wird gerne in einem Atemzug genannt mit dem Betrag von um 25 000 Franken pro Jahr für eine einzelne HIV-Behandlung. Abgesehen davon, dass der Nachweis, wie viele Infektionen mit dieser Kampagne tatsächlich verhindert werden, nicht erbracht werden kann, ist dies ein weiterer Hieb gegen Menschen mit HIV. Bereut nicht nur, dass ihr infiziert und nicht mehr sexy seid, bereut auch, dass eure selbst verschuldete Krankheit so viel Kosten verursacht. Dabei wird der Vergleich mit anderen Gesundheitskosten stets vermieden.

Von einer Präventionskampagne für die Gesamtbevölkerung erwarte ich, dass sie sich respektvoll an alle wendet, dass sie Aufklärung und Information bedingungslos und vollständig zur Verfügung stellt. Denn wenn die Kampagne sich nur an diejenigen richtet, die sich verpflichten, kein Risiko einzugehen, werden genau jene Menschen nicht berücksichtigt, die Aufklärung und Information dringend nötig hätten. Das Ziel der Reduktion der Neuansteckungen wird ad absurdum geführt. Nicht zuletzt auch durch die diskriminierende Botschaft denen gegenüber, die das Virus weitergeben könnten, ob sie nun von ihrer Infektion wissen oder nicht. Das ist Ausgrenzung im Namen der Aufklärung.

Diese Kampagne ist mehr als ein Rückschritt. Bezahlen tun wir ihn alle, die einen nur mit den Steuern, die anderen zusätzlich mit Selbstverleugnung oder aber mit der Erfahrung von Ausgrenzung. Wen wunderts, dass trotz staatlich subventionierter «Aufklärung» die Neuinfektionszahlen noch lange nicht so rückläufig sind, wie sie sein könnten?

Michèle Meyer (49) ist langjährige Aids-Aktivistin 
aus dem Baselbiet.