Die Türkei und die PKK: Eine Stadt als Faustpfand
Rettung in letzter Minute? Kurz vor Ablauf eines Ultimatums hat die türkische Regierung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) einen Friedensplan vorgelegt. Geht deren Führer Abdullah Öcalan darauf ein? Davon hängt auch die Zukunft der Stadt Kobane im Norden Syriens ab.
Um die Stadt Kobane im Norden Syriens wird weiter heftig gekämpft. Die Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) scheint ohnmächtig. Zuvor hatte PKK-Führer Abdullah Öcalan in seinen Botschaften von der türkischen Gefängnisinsel Imrali wiederholt bekräftigt, dass der Kampf gegen den IS bei Kobane und die Friedensverhandlungen für den Südosten der Türkei nur zwei Seiten derselben Medaille seien. Letzte Woche stellte er Ankara gar ein Ultimatum bis 15. Oktober. Wenn bis dahin keine konkreten Friedensverhandlungen mit ihm aufgenommen würden, könne er «nichts mehr tun». Seine Kommandanten im Nordirak haben ihrerseits gedroht: Wenn die Türkei zulasse, dass Kobane vom IS eingenommen werde, sei der Friedensprozess am Ende. Cemil Bayik, einer der Kommandanten der PKK im Nordirak, liess Anfang dieser Woche gar verkünden, er habe den PKK-KämpferInnen den Marschbefehl in die Türkei gegeben.
Diese nahmen tagelang einen Grenzposten der türkischen Armee unter Beschuss, dann schickte Ankara am Dienstag Kampfjets und liess die PKK im Grenzgebiet zum Irak und Iran bombardieren. Zur gleichen Zeit stürmte die Polizei bei Razzien in verschiedenen türkischen Städten Wohnungen mutmasslicher PKK-AnhängerInnen, die an den bürgerkriegsähnlichen Strassenschlachten der vergangenen Tage beteiligt gewesen sein sollen.
Zur gleichen Zeit liefen die Drähte heiss zwischen Hakan Fidan, dem Chef des türkischen Geheimdiensts, und Öcalan, um weitere Tote bei Demonstrationen im Südosten der Türkei zu vermeiden – und um die Friedensverhandlungen noch zu retten. Auch die Koalitionäre gegen den IS verhandelten, was angesichts der Lage in Kobane zu tun sei. Kobane ist ein gutes oder, besser gesagt, ein schlimmes Beispiel dafür, wie ein Schlachtfeld zum Faustpfand wird, mit dem die Beteiligten ihre Interessen durchzusetzen versuchen.
Die Türkei will nicht, dass die KurdInnen im Kampf um das nordsyrische Kobane den IS besiegen, denn die dort kämpfende kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) ist ein Ableger der PKK. Erst vor wenigen Tagen hatte der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan noch einmal erklärt, er mache keinen Unterschied zwischen dem IS und der PKK. So stehen Ankaras Kanonen in Sichtweite vor den Panzern des IS – und kein Schuss fällt. Wahrscheinlich wäre es Ankara am liebsten, beide Seiten würden sich gegenseitig aufreiben.
Ein Sieg der KurdInnen im Norden Syriens wäre für die PYD/PKK nämlich der erste Schritt zu einem quasi eigenen Staatsgebiet. Das kommt für Ankara gar nicht infrage. Damit wäre auch die Position der türkischen Regierung bei Friedensverhandlungen mit der PKK beachtlich geschwächt. Ausserdem verdächtigt sie die PYD, heimlich, still und leise mit Baschar al-Assad in Damaskus so etwas wie einen Waffenstillstand ausgehandelt zu haben. Denn die PYD will ihr Autonomiegebiet sichern, mehr nicht. Ankara aber will Assad entmachten – ein weiteres entscheidendes Kriegsziel für Erdogan.
Verliert die PYD im Norden Syriens, dann wären ihre Autonomieträume erst einmal geplatzt. Deshalb fordert sie seit Wochen Ankaras Hilfe im Kampf gegen den IS. Als aber Erdogan eine Pufferzone im Norden Syriens forderte, erklärte der PYD-Führer Salih Müslim, eine Besetzung Nordsyriens durch türkische Truppen komme einer Kriegserklärung gleich. Salih Müslim weiss: Stehen die türkischen Truppen erst einmal im Norden Syriens, dann sind deren Waffen sowohl gegen den IS als auch gegen die PYD gerichtet.
Washington braucht Ankara
Aber darf oder soll Ankara in Syrien einmarschieren, und mit welchem militärischen Ziel? Was soll die Türkei im internationalen Kampf gegen den IS tun? Über diese Frage verhandeln nun Ankara und Washington seit Tagen mit auffallend viel Lärm.
US-Vizepräsident Joe Biden, der sich im Nahen Osten mit unbedachten Bemerkungen einen Namen gemacht hat, hatte in einer Rede Ankara beschuldigt, den IS «gefördert» zu haben. Washington braucht die Türkei aber für den Kampf gegen den IS, nicht für unnötige Wortgefechte. Also musste sich Biden bei Erdogan für diese Worte entschuldigen.
Bei all den verwirrenden Nachrichten über die Verhandlungen der USA mit der Türkei steht fest: Washington will keine Besetzung Nordsyriens durch türkische Truppen, gerade jetzt auf keinen Fall. US-Aussenminister John Kerry betonte vergangene Woche noch einmal, Kobane sei kein strategisches Ziel im Kampf gegen den IS. Das Kriegsziel der Koalition sei auch nicht der Sturz des Assad-Regimes in Damaskus. Die USA wollen vor allem den IS aus dem Irak vertreiben.
Ein Einmarsch des türkischen Heers in Syrien wäre nichts anderes als die Besetzung des Lands durch eine Nato-Armee. Damit wäre es nicht nur vorbei mit der klammheimlichen Verständigung mit Assad. Das riefe auch Russland und den Iran auf den Plan. Noch mehr Streit mit Russland, als es ihn angesichts des Kriegs in der Ukraine sowieso schon gibt, scheint nicht ratsam, und der Iran wird im Kampf gegen den IS gebraucht.
Die USA wollen zumindest den türkischen Stützpunkt Incirlik für Einsätze gegen den IS nutzen und Ankara dazu bringen, auf türkischem Territorium offensiv gegen den IS vorzugehen. Der IS ist in der Türkei bislang nicht einmal als Terrororganisation verboten.
Erdogan und sein Regierungschef Ahmet Davutoglu bestehen aber darauf: Wir greifen nur ein, wenn es eine Flugverbotszone gibt und wir eine Pufferzone im Norden Syriens einrichten können. Damit will Ankara neben einem Quasi-PKK-Staat auch verhindern, dass noch mehr SyrerInnen auf türkisches Territorium flüchten. Ausserdem beharrt die türkische Regierung darauf, dass das Ziel die Vertreibung Assads sein müsse. Das aber will Washington nicht öffentlich sagen, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Was soll nach dem IS kommen?
Mittlerweile bombardieren Kampfjets der US-Luftwaffe die Stellungen des IS in und um Kobane zumindest intensiver als noch vor zwei Wochen, denn Kobane ist für die USA zu einem Imageproblem geworden. Die Weltmacht Nummer eins möchte nicht von ein paar fanatischen Glaubenskriegern weltweit vorgeführt werden. Das immerhin hat die Propaganda der KurdInnen bewirkt.
Aber ein Konzept oder eine Strategie für den Krieg gegen den IS ist das noch lange nicht. Keiner spricht beispielsweise darüber, was sein wird, wenn der IS restlos zerschlagen ist. Was kommt dann? Wie soll die politische Landschaft danach aussehen? Soll alles nur so sein wie vor der ersten IS-Attacke? Oder fährt man jetzt erst einmal «auf Sicht», wie der schöne Begriff lautet, wenn man nicht weiss, was wird? Nicht einmal Gespräche aller Koalitionäre gegen den IS scheinen möglich: Die Türkei etwa weigert sich, sich mit dem ägyptischen Präsidenten an einen Tisch zu setzen, und der Iran darf nicht einmal «Koalitionär» genannt werden, weil Saudi-Arabien dem schiitischen Regime spinnefeind ist.
Türkische Zeitungen melden nun, auch der UN-Gesandte für Syrien, Staffan de Mistura, fordere von der Türkei, sie solle an der Grenze zu Syrien einen Korridor für jene Kämpfer öffnen, die Kobane gegen den IS unterstützen wollen. Doch auch das käme nach Ansicht Ankaras einer Unterstützung der PKK gleich und kommt nicht infrage, solange das «PKK-Problem» im eigenen Land nicht gelöst ist.
Zumindest hat die Regierung nun zum ersten Mal einen Sechspunkteplan zur «Lösung der türkischen Kurdenfrage» vorgelegt (vgl. «Ankaras Friedensplan» im Anschluss an diesen Text), gerade noch rechtzeitig vor Ablauf von Öcalans Ultimatum. Unterdessen wird die Lage der VerteidigerInnen von Kobane gegen den IS immer verzweifelter. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Ankara und Washington müssen sich über ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS verständigen – und die türkische Regierung mit der PKK über einen Friedensplan. Ob das gelingt, ist alles andere als sicher, denn der Friedensplan aus Ankara ist noch allzu unkonkret.
Ankaras Friedensplan
Der von der türkischen Regierung vorgelegte Sechspunkteplan sieht vor:
Alle bewaffneten Mitglieder der PKK haben das Land zu verlassen und unter internationaler Aufsicht ihre Waffen abzugeben. Danach können PKK-Mitglieder, die «keine Straftat begangen haben», in die Türkei zurückkehren.
Eine Amnestie gibt es nicht; stattdessen soll das bestehende sogenannte Reuegesetz erweitert werden. Es sieht vor, dass den ehemaligen PKK-Mitgliedern bei der Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft geholfen wird – und es soll ihnen erlaubt werden, sich politisch zu betätigen.