Schmidheiny-Prozess, letzte Instanz: Das Erbe der Schweizer Todesfabrik

Nr. 46 –

Ist der Schweizer Unternehmer Stephan Schmidheiny am Asbesttod von mehr als 2000 ArbeiterInnen seiner ehemaligen Eternit-Gruppe mitschuldig? Darüber entscheidet kommenden Mittwoch der Kassationshof in Rom.

Romana Blasotti hat ihren Mann, eine Cousine und einen Neffen sowie ihre Tochter durch Asbestkrebs verloren. Foto: Samuele Pellecchia, Prospekt

Seit meinem ersten Artikel zu Asbest, Eternit und der einstigen Besitzerfamilie Schmidheiny sind genau zwölf Jahre, zehn Monate und zwei Wochen verstrichen. Ich habe nachgeschaut. Dazwischen liegen Dutzende Artikel, etliche Aufsätze, ein Buch und einige Dokumentarfilme. Viel Ärger, Empörung und Omertà. Immer wieder musste ich mich für meine Eternit-Recherchen verantworten. Auch vor dem Bundesgericht. Immer wieder haben meine KollegInnen des Tessiner Fernsehens und ich recht erhalten.

«Die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam, doch sie mahlen», hatte ich in einem meiner ersten Artikel über den Prozess in Turin gegen Stephan Schmidheiny geschrieben, und so ist es. Am 19. November nimmt der Eternit-Prozess nun seine wohl letzte Hürde. Das oberste Gericht Italiens, der Kassationshof in Rom, muss darüber entscheiden, ob der Schweizer Asbestunternehmer Stephan Schmidheiny in letzter Instanz des Tatbestands der Umweltkatastrophe schuldig gesprochen wird. Es geht dabei um eine Umweltkatastrophe, die ihresgleichen sucht, die in Italien über 2000 Tote forderte. Dafür hatte das Appellationsgericht in Turin Stephan Schmidheiny 2013 zu achtzehn Jahren Haft verurteilt. Das Kassationsgericht kann nun dieses Urteil bestätigen, es aufheben oder zur Neubeurteilung zurückweisen.

Romana Blasottis Geschichte

Als ich Romana Blasotti vor zwölf Jahren kennenlernte, fielen mir schon beim ersten Gespräch mit der über siebzigjährigen Frau ihre Augen auf. Niemals in all diesen Jahren, in denen ich sie immer wieder traf, waren sie von Tränen benetzt. Nicht, dass sie keinen Anlass zum Weinen hätte. Die Präsidentin des Asbestopfervereins von Casale Monferrato, der kleinen Provinzstadt im Piemont mit der jährlich noch immer höchsten Anzahl neuer Mesotheliomerkrankungen, hat in der eigenen Familie erlebt, wie erbarmungslos der Asbestkrebs zuschlägt. Zuerst hat sie ihren Mann an ihn verloren, später eine Cousine und einen Neffen und dann ihre Tochter. Eines Tages habe diese bei ihr in der Küche gestanden, sie angeschaut und gesagt: «Jetzt bin ich dran, jetzt habe auch ich den Krebs.» Einmal sagte mir Romana Blasotti, sie würde so gerne weinen können, aber es gehe einfach nicht mehr. Auch als ihre Tochter starb, seien zu ihrem Entsetzen die Augen trocken geblieben.

Die Geschichte von Romana Blasotti und ihrem Leid hat in Italien immer wieder von sich reden gemacht. Der Prozess um den Besitzer der Schweizer «Todesfabrik», wie die Eternit in Italien genannt wird, ist wohl eines der medial meistverfolgten Verfahren überhaupt. Hunderte von Berichten und Artikeln sind darüber in Italien und auch anderswo schon erschienen, und das jetzt anstehende Urteil wird wegen seiner Einzigartigkeit mit Spannung erwartet. Doch es geht hier nicht um einen Schauprozess, auch wenn dies in gewissen Schweizer Medien behauptet wird. Einzigartig ist der Prozess nicht, weil er in Italien medial aufgebauscht wird, sondern weil erstmals der Besitzer einer Fabrik und nicht deren operativer Manager zur Verantwortung gezogen wird. Und weil die Verjährung im Raum steht. Was sich in Italien in diesen Eternit-Fabriken ereignet hat, ist nicht ein Super-GAU, den man nicht hätte voraussehen können. Dass Asbest tödlich ist, ist schon seit Beginn des letzten Jahrhunderts bekannt.

Schmidheinys Gefolgschaft

Mich erstaunt immer wieder, mit welcher Zurückhaltung in der Schweiz dieses Thema medial angegangen wird. Klar, Stephan Schmidheiny ist in letzter Instanz noch nicht schuldig gesprochen worden, und vielleicht wird er es auch nicht, und natürlich gilt deshalb die Unschuldsvermutung. Dennoch darf die Asbesttragödie in unserem Land nicht ausgeblendet und heruntergespielt werden. Als 2010 das Buch «Stephan Schmidheiny. Sein langer Weg zu sich selbst» erschien, eine Biografie, verfasst vom heutigen «Blick»-Chef René Lüchinger und von Ueli Burkhard, suchte ich in den über 200 Seiten des Werks nach einem Kapitel zur Asbesttragödie. Vergeblich. Einmal mehr wird Schmidheiny in diesem Buch einzig als weitsichtiger und mutiger Unternehmer gepriesen, der als Erster dem milliardenschweren Asbestgeschäft den Rücken kehrte. Mag sein, dass sich der Eternit-Erbe als solcher empfindet; die Gerichte in Italien haben das aber bisher anders beurteilt. Als dann letztes Jahr Martin Killias, ehemaliger Bundesrichter und Strafrechtsprofessor, aus dem heiteren Nichts einen Artikel in der «SonntagsZeitung» veröffentlichte, in dem er die italienischen Richter anfeindete, die am Rand des Prozesses über den Asbestzementunternehmer unzulässig gelästert hätten, dachte ich: Schau da, nun arbeitet auch noch ein ehemaliger Bundesrichter für Stephan Schmidheiny.

Aber erstaunt hat es mich nicht. Vielmehr habe ich mich mit einem Lächeln an den Tag zurückerinnert, als Bundesrat Hans-Rudolf Merz in Argumentationsnot geriet, als er mir erklären wollte, wieso er vor der Ernennung zum Bundesrat über Jahre im Verwaltungsrat einer Schmidheiny-Firma gesessen und jährlich 100 000 Franken kassiert habe, ohne dass er, so sagte er mir zumindest, die operativen Geschäfte dieser Firma gekannt hat. «Verstehen Sie, Frau Roselli», hatte Merz damals gesagt – er hatte mich übrigens aus eigener Initiative angerufen –, «ich brauchte das Geld für meine Familie.» Jahre später habe ich erfahren, dass Hans-Rudolf Merz, als die Geschichte publik wurde, um seinen Sitz im Bundesrat bangte. Doch geschehen ist nichts, wie immer. Letzte Woche habe ich nun gelesen, dass sich Altbundesrat Moritz Leuenberger für die Asbestopfer in der Schweiz engagieren will; Eternit soll ihm dazu ein Mandat gegeben haben. Doch gleichentags hat er dementiert: Er habe kein Mandat der Eternit. Wie auch immer. Romana Blasotti ist mittlerweile 85, lange Reisen strengen sie an. Doch am 19. November will sie nach Rom, sie hofft auf Gerechtigkeit.

Übrigens: Die Eternit Schweiz hat in diesen zwölf Jahren nicht nur ihren Besitzer, sondern auch ihren Namen geändert – neuerdings heisst sie Eternit Swiss Pearl. Eine echte Perle für die Schweiz.

Romana Blasotti betrachtet das Röntgenbild ihres an einem Mesotheliom verstorbenen Mannes. Foto: Alfredo Covino

Maria Roselli ist Buchautorin 
und Fernsehjournalistin.

Asbestkatastrophe : Und die Opfer in der Schweiz?

Vor fünf Jahren begann in Turin der erste Prozess gegen Stephan Schmidheiny. Ihm wird die Mitschuld am Tod von mehr als 2000 Personen vorgeworfen, die wegen des Asbeststaubs aus seinen Eternit-Fabriken ums Leben kamen. Schmidheiny wurde im Februar 2012 zu sechzehn Jahren und in zweiter Instanz im Juni 2013 gar zu achtzehn Jahren Haft verurteilt. Am 19. November wird nun das letztinstanzliche Urteil des Kassationshofs in Rom erwartet. Staatsanwalt Raffaele Guraninello wirft Schmidheiny vor, als Besitzer verschiedener Eternit-Fabriken in Italien von den Gefahren des Asbeststaubs gewusst, aber viel zu wenig für den Schutz der Beschäftigten unternommen zu haben. Die Vorkommnisse in den Schweizer Eternit-Werken, in denen viele italienische Fremdarbeiter gearbeitet hatten, konnte Guraninello nicht zur Anklage bringen, da die Schweizer Behörden und die Suva die Herausgabe von Akten jahrelang verzögerten. Stephan Schmidheiny hatte das weltweite Eternit-Imperium Mitte der siebziger Jahre von seinem Vater übernommen. Die Umstellung weg von der Asbestproduktion setzte er nur schrittweise in Gang.

In der Schweiz droht Schmidheiny kein Prozess. Asbestopfer haben hierzulande wegen einer Verjährungsfrist von nur zehn Jahren und einer sehr langen Latenzzeit bei Asbesterkrankungen nicht einmal bei Schadenersatzklagen eine Chance. Im März rügte der Europäische Gerichtshof die Schweiz deswegen. Eine Verlängerung der Verjährungsfrist wird derzeit im Bundeshaus debattiert.

Daniel Stern