Der Sound der Karibik: Im Banana-Boot ins Morgenrot

Nr. 49 –

Plötzlich wippte auch der deutsche Schlager im Takt der Karibik: Eine neue Anthologie lässt den kurzen Boom des Calypso aufleben – samt den seltsamen Bastarden, die er produzierte.

Globalisierung 1957: Die schwedische Sängerin Alice Babs singt den Calypsohit «Mama Look a Boo Boo» – auf Deutsch:

«Mama ist aus Kuba, und aus Jamaika ist der Papa, / das ist ein Leben voll Glück, so haben wir immer Musik, / wenn die anderen Leute noch schlafen, dann gehen wir alle zum Hafen, / dann fährt Papas Banana-Boot mit uns hinaus ins Morgenrot, / und wenn die rote Sonne glüht, dann singt Papa mit uns das Lied, / weil Mama immer gern ein Gitarrensolo bringt, / weil Papa ganz genau so wie Belafonte singt.»

Ja, ja, stets ein Lied auf den Lippen, der lustige Mohr aus der Karibik. Der Schlager der bundesdeutschen Nachkriegszeit ist fasziniert vom Exotischen, Alltagsrassismen inklusive. Und den passenden Sound dazu holt er sich in der Karibik, beim Calypso. In den späten fünfziger Jahren erobert die Musik aus Trinidad und Tobago und von den Niederländischen Antillen die westliche Welt. So erzählt Calypso immer auch von Migrationsströmen: Menschen und Melodien wandern um den Globus und mit ihnen das Geld.

Es ist Harry Belafonte, der 1956 mit «Banana Boat» den eigentlichen Boom auslöst, und plötzlich ist der Calypso überall. Der Sound der Karibik gelangt nach Hollywood und an den Broadway, er erobert das Fernsehen und die ferne Welt des mitteleuropäischen Schlagers. «Calypso Craze» nennt das die CD-Box, die jetzt den globalen Siegeszug in seiner ganzen Vielfalt und mit zahlreichen Kuriositäten dokumentiert: 173 Songs auf sechs CDs, dazu eine DVD des Hollywoodfilms «Calypso Joe» und ein kiloschweres, opulent ausgestattetes Begleitbuch.

«Hoppla hey, echter Kaffee»

Die Anthologie spielt nicht das echt verschwitzte Original aus Trinidads dunklen Kaschemmen gegen den kulturindustriell zugerichteten, weissgewaschenen Sound aus. Sie pflegt einen zoologischen Pluralismus und hat ein Herz für die seltsamen Bastarde, die entstehen, wenn ein neuer Sound über den Teich kommt: Da trifft das dänische Schlagerduo Nina und Frederik auf Ella Fitzgerald, Tourismusreklame auf Louis Armstrong. Und eine japanische Version von «Banana Boat» steht neben dem «Nescafé Calypso», in dem der aus Suriname stammende Max Woiski die Vorzüge des löslichen Kaffees anpreist: «Vom schönen Lande Kenia und auch aus Kolumbia / ja auch aus Santos, hoppla hey, echter Kaffee, Nescafé.»

Die erste CD ist der Zeit vor dem Boom gewidmet und beginnt mit einem Klassiker von 1934. Im später vielfach gecoverten «Marry an Ugly Woman» gibt Hubert R. Charles seinen Geschlechtsgenossen einen Rat: Vom logischen Standpunkt her sei es besser, eine hässliche Frau zu heiraten, die mache weniger Ärger. Der Song schlägt gleich den passenden Ton an, er hat den doppelten Boden und den Wortwitz, der für den Calypso so typisch ist. Michael Eldridge, kalifornischer Literaturprofessor und Koautor des Begleitbuchs zu «Calypso Craze», sieht in dieser Mehrdeutigkeit die besondere Qualität des ursprünglichen Calypso – und mithin den Hauptgrund für dessen Popularität.

Es gehört zu den Aporien des Calypso, dass beim Transfer von Trinidad in die weite Welt so manches von seinem Wortwitz verloren geht – und der ernste Hintergrund vieler Lieder gleich mit. Nehmen wir den Song «Rum and Coca-Cola», 1945 ein Riesenhit für die – weissen – Andrews Sisters aus Minnesota. «Wahrscheinlich», so Eldridge, «wussten die wenigsten westlichen Hörer, dass ‹Rum and Coca-Cola› von einem Calypsokünstler aus Trinidad stammte.» Und wahrscheinlich wussten die wenigsten, was sich hinter der fröhlichen Fassade dieses Songs verbirgt. Im Original von Lord Invader war «Rum and Coca-Cola» ein Lied über die Verwerfungen der Sexualökonomie in der Karibik. Hier machen wohlhabende NordamerikanerInnen schon in den zwanziger Jahren gern Urlaub. Im Zweiten Weltkrieg kommen die amerikanischen Männer dann aus militärischen Gründen nach Trinidad. Sie überschwemmen das Land mit Dollars und verwöhnen die karibischen Frauen mit Rum und Coca-Cola – und die machen ihnen im Gegenzug einen «besseren Preis». «‹Rum and Coca-Cola›», so Eldridge, «war eigentlich eine Beschwerde über das Chaos, das die US-Soldaten in Trinidad im Zweiten Weltkrieg verursacht haben.» Eine Beschwerde zu einer verdammt eingängigen Melodie.

Zwecks Truppenbetreuung werden auch Entertainer aus der Heimat nach Trinidad eingeflogen. Einer davon, ein Komiker namens Morey Amsterdam, hört «Rum and Coca-Cola», er ändert den Text, und über Umwege kommt der Song zu den Andrews Sisters. Die passen das Lied dem US-Geschmack an und landen den bis dato grössten Calypsohit, zehn Jahre vor Harry Belafontes «Banana Boat». Und das, obwohl der Song wegen moralischer Bedenken – Alkohol, Schleichwerbung – nicht im Radio gespielt wurde.

So humorvoll wie explizit nimmt sich der Calypso immer auch politische Themen vor. Hitler oder der Atomkrieg, Fussball, Migration, Sex: Der welthaltig-eloquente Calypso lässt kein Thema aus. In der britischen Diaspora ist der karibische Sound so populär, dass Fussballteams wie Leeds und Manchester United ihre Klubhymnen im Calypsostil produzieren lassen. Calypso wird auch zum Soundtrack des prosperierenden Ferntourismus der Nachkriegszeit. Wer es sich leisten kann, verbringt die Ferien in der Karibik und nimmt als Souvenir ein paar Calypsoplatten mit nach Hause. In den USA und bald in Europa, das belegt diese Sammlung aufs Schönste wie aufs Schaurigste, wird der exotische Sound kommodifiziert, verpoppt, verjazzt, verschlagert, vergeigt. Eldridge spricht von «Hotel-Calypso». Er hat aber auch die Widersprüche im Auge, die immer dann auftauchen, wenn eine Musik von den Rändern des Markts ins Herz der Kulturindustrie gespült wird.

Verbitterung in Trinidad

Spiegelt sich im Calypso die Geschichte der Ausbeutung des Südens durch den Norden? «Ja und nein», meint Eldridge. «Einige Amerikaner haben Geld gemacht mit Calypso. Viele haben es versucht und sind gescheitert. Nur wenige Leute aus Trinidad haben vom Calypsoboom profitiert. Das sorgt dort bis heute für Verbitterung und passt ins Narrativ: Weisse Musiker beuten schwarze aus, der Norden den Süden.» Allerdings geht es bei diesem Transfer auch um Sichtbarkeit. Noch die albernsten Verballhornungen verweisen auf die Ursprünge, so Eldridge: «Calypso braucht keine Anerkennung durch die USA, in seiner Heimat läuft er bis heute gut, ohne so global erfolgreich zu sein wie etwa Reggae.»

Wie beim Reggae ist auch die Geschichte des Calypso von den Missverständnissen der Rezeption jenseits der Inseln geprägt – und von der politischen Vereinnahmung. In den fünfziger Jahren versetzt der Rock ’n’ Roll das konservative Amerika in Panik. Er wird denunziert als moralisch bankrotte «Negermusik», die die Jugend verdirbt. Also wird ausgerechnet der weniger aggressive, auf den ersten Blick auch weniger subversive Calypso als «saubere» Alternative vermarktet. «Es gab dieses Wunschdenken», so Eldridge: «Rock ’n’ Roll ist tot, Calypso ist das neue grosse Ding!» Dieses Wunschdenken nimmt der Hollywoodstar Robert Mitchum aufs Korn, als er 1957 ein hinreissendes Calypsoalbum einspielt, komplett mit falschem karibischem Akzent. Mit der ihm eigenen minimalistischen Ironie fragt Mitchum, was denn aus den Teenagern werden soll, die Tag und Nacht am Rock-’n’-Rollen sind – ein spöttischer Kommentar zu den Ängsten des US-Spiessertums.

CD-Box auf www.bear-family.de

Various Artists: Calypso Craze. 1956–57 and beyond. Bear Family. Fr. 195.90