Laura Nyro: Im Whirlpool New York

Nr. 6 –

Sie hat unzählige Hits geschrieben, aber kaum jemand kennt sie: Eine neue Kollektion beleuchtet das Werk der legendären US-Songschreiberin Laura Nyro.

Laura Nyro singt in ein Mikrofon
«Wenn sie wollte, dass die Musik violetter wird, dann machten wir sie violetter, klar»: Laura Nyro im Oktober 1968. Foto: Michael Ochs Archives / Getty

1969 ist Laura Nyro mit Anfang zwanzig die erfolgreichste Songschreiberin der USA – ohne eigenen Hit. In die Charts gehen andere mit marktkompatibel schlichten, aufgemotzten, verrockten oder kitschigen Bearbeitungen von Nyro-Songs. Barbra Streisand schafft es mit «Stoney End», die virilen Jazzrocker von Blood, Sweat & Tears mit «And When I Die», Three Dog Night mit einer Operetten-Hardrock-Fassung von «Eli’s Coming». Die grössten Nyro-Profiteure waren interessanterweise Schwarz. The 5th Dimension, ein Mixed-Gender-Gesangsquintett aus L. A., landete gleich drei Hits mit ihren Songs, darunter eine Nummer eins mit «Wedding Bell Blues», dank pragmatischer Komplexitätsreduktion und Familienfreundlichkeit. Die Originale wären eine Spur zu exaltiert – Dreieinhalb-Oktaven-Stimme! –, zu nervös, too much.

Auf «Hear My Song. The Collection 1966–1995», einer Box mit neunzehn CDs, schillert Laura Nyro in allen Farben, und das ist keine Metapher. Im umfangreichen Booklet erklärt ihr Wegbegleiter John Sebastian von der Folkrockband The Lovin’ Spoonful: «Wir waren alle in sie verliebt! Mit jeder Tempoveränderung, jedem beiläufigen Tonartwechsel machte sie uns sprachlos … Wenn sie wollte, dass die Musik violetter wird, dann machten wir sie violetter, klar.» Nyro war Chromästhetikerin. Hä? Der Trompeter Randy Brecker: «Laura wollte, dass mein Solo ‹more orange› wird. Sie hatte die Fähigkeit, in Farben zu sprechen.»

Aus Nigro wird Nyro

Bis zu ihrem frühen Tod 1997, Eierstockkrebs, blieb Nyro verehrt von Kolleg:innen, aber ewig im Schatten einer Carole King oder Joni Mitchell. 1947 kommt sie als Laura Nigro in der Bronx zur Welt, der Vater ein italienischer Trompeter, die Vorfahren der jüdischen Mutter stammen aus Polen und Russland. Nigro heissen als jüdisches Mädchen in der Bronx? Keine gute Idee, denkt die Mutter und tut, was Jüdinnen und Juden taten, wenn sie aus Osteuropa an der Freiheitsstatue landeten: Aus Nigro wird Nyro.

In den Fünfzigern und Sechzigern inhaliert die junge Nyro den polyglotten wie polyfonen Sound einer Stadt, die noch als Schmelztiegel gelten darf, als Sehnsuchtsort der Chancen für Vertriebene und Geflüchtete. Für Nachfahren afrikanischer Sklav:innen und für Leute, die dem Judenhass (nicht nur) der Nazis entkommen sind, gelandet in «Jew York», der jüdischsten Stadt der Erde. Nyro liebt den Pop der Girlgroups aus dem Brill Building. Im Bürohaus an der Eighth Avenue 1619 gehen auch Jüdinnen und Juden dem Tagwerk des Popsongschreibens nach. Eine von ihnen ist etwas älter als Nyro und hat ebenfalls ihren Namen geändert, wenn auch ambitionierter: Aus Carol Klein wurde Carole King, die Queen des All American Pop der frühen Sechziger. Nyro liebt auch die Musik aus ihrer Schwarzen Nachbarschaft: «Laura Nyros Musik ist ein Whirlpool-Nexus aus R ’n’ B, Doo Wop, Broadway, Oper, Folk und ihrer individuellen Art von Soul», schreibt die Journalistin Vivien Goldman im Booklet zur neu erschienenen Box, und man muss ihr zustimmen, auch wenn man nicht weiss, was ein Whirlpool-Nexus ist.

Der New Yorker Schmelztiegel von Sounds ist in den Sechzigern noch nicht so rigide nach Colors getrennt wie später durch Markt und Politik. Der als weiss (und implizit jüdisch) gelesene Brill-Building-Pop und der als Schwarz markierte Soul oder R ’n’ B koexistieren und befruchten sich gegenseitig. Nyro, mitten im Whirlpool, saugt alles auf, lernt Klavier spielen und kompiliert, kompostiert, komponiert daraus und mit dem hibbeligen Drive des Jazz ihre ganz eigene Musik. Von dort nimmt sie sich auch die Freiheit zur Improvisation, wenn sie die Evergreens ihrer Jugend auseinandernimmt und zauberhaft neu zusammensetzt.

Bewahren, überwinden

Ein Musterbeispiel für Nyros Methode des Amalgamierens und Prozessierens ist «Dedicated to the One I Love»: 1957 ein kleiner Hit für das Schwarze Doo-Wop-Quintett The «5» Royales, 1960 ein mittelgrosser Hit für The Shirelles, eine Girlgroup aus vier Afroamerikanerinnen mit geglättetem Haar und Image, 1967 ein Riesenhit als California-Sunshine-Pop der weissen Wahlfamilie The Mamas and the Papas. Nyro dekliniert die verschiedenen Stadien und Stimmungen des Songs in unterschiedlichen Versionen durch, mal euphorisch, mal todtraurig, mal girly, mal altersweise, und schafft es so, die wechselvolle Geschichte des Songs mit seinen Race- und Gender-Aporien aufzuheben, frei nach Ernst Bloch: bewahren, überwinden, transzendieren.

Ähnlich verfährt sie mit anderen Perlen aus dem New Yorker Whirlpool: etwa mit «Will You Love Me Tomorrow», gross gemacht von den Shirelles, geschrieben von Carole King und Gerry Goffin. 1971 nimmt Nyro mit der Schwarzen Soulgruppe Labelle das Album «Gonna Take a Miracle» mit Soulklassikern auf. Als «eines der besten Coveralben» feiert eine enthusiastische Bette Midler (übrigens ebenfalls jüdisch) das Album bei der Aufnahme Nyros in die Rock ’n’   Roll Hall Of Fame 2012.

Die Versuchung, die Vergangenheit zu verklären, ist gross. Kamen in Laura Nyro tatsächlich das Schwarze und das jüdische New York zusammen? Oder ist das bloss die nostalgische Erinnerung an eine Zeit, die so nie existiert hat? Eine Zeit, als Afroamerikaner:innen sowie Jüdinnen und Juden in der Bürger:innenrechtsbewegung Seite an Seite gekämpft haben. Lange her.

Albumcover «Hear My Song. The Collection 1966–1995» von Laura Nyro
Laura Nyro: «Hear My Song. The Collection 1966–1995». Madfish/Edel. 2024.