Debatte Euro-Mindestkurs: «Ein fairer Kurs liegt klar über 1.30 Franken»
Die WOZ hat die SP und die Gewerkschaften kritisiert, weil sie gegen die Aufhebung des Euromindestkurses waren. Der Mindestkurs, so das Argument, sei eine Subvention der Exportwirtschaft auf Kosten anderer Länder. Ein Streitgespräch mit Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart.
Die Schweiz schreibt seit Jahren einen Leistungsbilanzüberschuss. Im Klartext: Sie exportiert mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland, als sie importiert. Das ist ein Problem. Denn um diesen Überschuss aufzukaufen, müssen sich andere Volkswirtschaften gegenüber der Schweiz verschulden. Das ist simple Mathematik. Solche Überschüsse, darin sind sich die meisten ÖkonomInnen einig, waren eine der Hauptursachen für die Finanzkrise 2008.
In der Kritik steht vor allem Deutschland. 2013 betrug dessen Überschuss 206 Milliarden Euro, das sind 7,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Jener der Schweiz betrug allerdings 57 Milliarden Euro (68 Milliarden Franken), das sind ganze 11 Prozent des BIP. 2011 hatte die Nationalbank (SNB) entschieden, einen Euromindestkurs von 1.20 einzuführen, um der Exportwirtschaft zu helfen, die unter dem erstarkten Franken litt. Sie tat dies, obwohl der Exportüberschuss damals noch grösser war.
Einer der Ersten, die einen Mindestkurs gefordert hatten, ist Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart. Den kürzlichen Entscheid der SNB, diesen wieder aufzuheben, hat auch er scharf kritisiert.
WOZ: Herr Lampart, wie können Sie als Linker für einen Euromindestkurs sein?
Daniel Lampart: Der Franken ist viel zu stark. Ein fairer Eurokurs liegt klar über 1.30 Franken. Nun, da die SNB den Mindestkurs von 1.20 Franken aufgehoben hat, ist er auf etwa 1 Franken gefallen. Die Exportindustrie und der Tourismus sind stark unter Druck. Viele Firmen fordern bereits Lohnsenkungen und prüfen die Auslagerung von Arbeitsplätzen.
Berechnungen über den fairen Kurs hängen von unzähligen Annahmen ab, es gibt Schätzungen, die ihn auf 1.10 Franken beziffern.
Mit gewissen Methoden kommt man allerdings sogar auf 1.80 Franken. Solange Leute aus der Schweiz ins Ausland einkaufen gehen, ist der Franken überbewertet.
Nach der Auflösung des Mindestkurses ist der Franken wohl tatsächlich überbewertet. Doch das Problem ist teilweise hausgemacht: Die Schweiz hat jahrelang Exportüberschüsse erzielt und das Geld im Ausland angelegt. Angesichts der Wirtschaftskrise fliesst dieses Geld in den sicheren Franken zurück und treibt ihn in die Höhe.
Nein. Seit der Finanzkrise sind die längerfristigen Kapitalzuflüsse in die Schweiz sogar geringer. Der Frankenkurs wird durch andere, eher kurzfristige Bewegungen wie die Spekulation bestimmt.
Das Argument wird von Ökonomen wie etwa Daniel Gros, Direktor der Denkfabrik Centre for European Policy Studies, gestützt.
Das kann nicht sein.
Sie sagen, der Franken sei auch bei 1.20 überbewertet gewesen. Dennoch hat die Schweiz 2013 einen Exportüberschuss von 68 Milliarden Franken erzielt.
Gegenüber der Eurozone haben wir ein Handelsbilanzdefizit: Die Schweiz exportiert weniger Waren in die Eurozone, als sie importiert.
Das haben Sie bereits in Ihrer Replik auf den WOZ-Artikel von letzter Woche in Ihrem Blog geschrieben. Doch erstens gilt das nur für die Eurozone als Ganzes: In den Krisenstaat Griechenland etwa exportieren wir mehr, als wie importieren …
Gegenüber Italien jedoch ist die Schweiz im Minus. Mit Spanien und Portugal sind wir ungefähr ausgeglichen.
… zweitens sind in der Handelsbilanz – die insgesamt übrigens einen Überschuss von 34 Milliarden aufweist – die Dienstleistungen nicht mitgezählt.
Genau hier liegt der entscheidende Punkt: Der Überschuss ist auf die Dienstleistungen zurückzuführen. Dessen Ursache ist jedoch nicht der Wechselkurs, sondern die hiesigen rekordtiefen Steuern und das Bankgeheimnis. Grosse Überschüsse verzeichnen vor allem der Rohstoff- und der Finanzplatz. Das hat auch SNB-Direktor Thomas Jordan 2013 in einem Referat dargelegt. Zudem schieben multinationale Firmen aus Steuergründen Geld in die Schweiz, etwa indem sie ausländischen Töchtern hohe Preise für Dienstleistungen und Produkte verrechnen. Auch das führt zu einem Überschuss in der Leistungsbilanz. An all dem wird der starke Franken nichts ändern. Schlimm ist er dagegen für die Exportindustrie und den Tourismus. Hier drohen Lohndruck, Arbeitslosigkeit und Auslagerungen.
Das sind unbestritten wichtige Ursachen für den Überschuss. Sie können allerdings nicht alles erklären: Zieht man von den 68 Milliarden Franken Überschuss 23 Milliarden für den Transithandel ab, kommt man immer noch auf 45 Milliarden. Wie viel die anderen Faktoren ausmachen, ist schwer abzuschätzen, doch am Ende bleibt mit Sicherheit ein Überschuss.
Wenn der Überschuss vom Wechselkurs abhängig wäre, warum ist er dann in den letzten Jahren trotz starkem Franken hoch geblieben? Nochmals: Die Schweiz hat einen Überschuss, aber er wird von Rohstoffhändlern, vom Finanzplatz und von den Multis getrieben. Entscheidend für sie sind die tiefen Steuern, der Wechselkurs spielt keine Rolle.
Ein Problem bleibt der Exportüberschuss von 68 Milliarden Franken ohnehin …
Ich habe riesige Sorgen, dass die Schweiz mit dem Franken an realwirtschaftlicher Substanz verliert. Eine Firma in der Industrie muss ihre Maschinen alle paar Jahre erneuern. Und sie muss neue Produkte entwickeln. Wenn sie jetzt keine Erträge mehr erzielt, dann wird sie nicht mehr investieren können. Es wird also nicht heute Schluss sein, nicht morgen – aber vielleicht übermorgen. Für die Beschäftigten wird es äusserst schwierig.
Es bestreitet niemand, dass es etwa die Maschinenindustrie schwer hat. Der Punkt ist: Europa steckt in einer riesigen Wirtschaftskrise, und die Schweiz hat unter anderem mit dem Mindestkurs dafür gesorgt, dass sie verschont bleibt – auf Kosten anderer.
Das stimmt nicht. Die Länder in Südeuropa betreiben eine radikale Sparpolitik, die ihre Krise immer weiter verschärft. Ihre Exportwirtschaft ist hingegen wettbewerbsfähig. Darum investieren beispielsweise Autohersteller in Spanien. Man muss in diesen Ländern für eine Stabilisierung der Nachfrage sorgen. Die Frankenaufwertung nützt ihnen nichts.
Genau hier liegt der Punkt: Mit ihren Exportüberschüssen trägt die Schweiz massgeblich zum Nachfrageproblem bei, unter dem Europa leidet – der Überschuss definiert den Betrag, den die Schweiz im Ausland zu wenig nachfragt. Die Frankenaufwertung wird die Produkte der Krisenstaaten konkurrenzfähiger machen.
Wir drehen uns im Kreis. Nochmals: Der Franken ist stark überbewertet. Und wir müssen schauen, dass es in der Schweiz nicht zum Drama kommt.
Die Schweizer Linke kritisiert ständig Deutschlands Exportüberschuss. Doch wenn es um die Schweiz geht, argumentiert sie auf einmal mit dem Sonderfall Schweiz …
Stopp jetzt! Wir haben in der Schweiz für höhere Löhne gekämpft. Und wir haben uns auch im europäischen Gewerkschaftsbund immer für eine vernünftige Krisenpolitik engagiert.
Wenn ein Teil der Überschüsse auf die Tiefsteuerpolitik zurückgeht, sollte die Linke dann nicht stärker dagegen kämpfen? Auch innerhalb der SP stellt man sich nicht grundsätzlich gegen Lizenzboxen, mit denen das Holdingprivileg ersetzt werden soll.
Das sind eigenartige Vorwürfe. Wir Gewerkschaften kämpfen seit Jahrzehnten gegen die Tiefsteuerpolitik – zusammen mit der WOZ. Und wir haben uns für die Abschaffung des Bankgeheimnisses eingesetzt.
Wie stehen Sie zum Modell der Lizenzboxen, das es erlaubt, Einnahmen aus geistigem Eigentum steuerlich zu privilegieren?
Wenn Basler Pharmafirmen mit der Abschaffung der Steuerprivilegien von heute auf morgen 23 Prozent Steuern bezahlen müssen, werden sie einen Teil ihres Gewinns ins Ausland transferieren. Das würde zu hohen Ausfällen beim Bund, zu unsozialen Sparprogrammen und wohl auch zu einem Abbau von Arbeitsplätzen führen. Solange andere Länder Lizenzboxen haben, muss auch die Schweiz diese Möglichkeit ins Auge fassen. Allerdings befristet, bis die Privilegien international abgeschafft werden. Das würde es den Kantonen erlauben, die regulären Gewinnsteuersätze auf dem heutigen Niveau zu halten. Wir machen Druck, dass sich die Schweiz international für faire Steuern einsetzt.
Die Exportüberschüsse liessen sich neben einem stärkeren Franken und höheren Steuern auch durch Lohnerhöhungen beseitigen: Mit ihnen könnte ein Teil des eigenen Überschusses aufgekauft werden – ein anderer Teil würde durch den Kauf ausländischer Produkte verschwinden. Was halten Sie davon?
Der Franken war bei 1.20 überbewertet. Viele Arbeitgeber in der Maschinenindustrie sollten die Löhne erhöhen. Ihre Löhne sind gegenüber anderen Branchen ins Hintertreffen geraten, sie haben deshalb Mühe, Leute zu finden. Leider war es wegen der Frankenstärke nicht möglich. Wie gesagt: Wir befürchten, dass die Löhne nun stark unter Druck geraten. Auch gewisse Hoteliers wollen den Gesamtarbeitsvertrag aufgeben.
Nachdem seit der Abstimmung zur SVP-Einwanderungsinitiative über Arbeitskräftemangel debattiert wurde und jedes Jahr Zehntausende aus dem Ausland in der Schweiz einen Arbeitsplatz fanden, reden plötzlich alle von drohender Arbeitslosigkeit. Welches Problem haben wir denn jetzt?
Wir haben so viele Erwerbslose wie noch nie. Die Erwerbslosenquote liegt bei 4,7 Prozent. Wir nähern uns den 5 Prozent von Deutschland und Österreich an. Die Schweiz braucht Vollbeschäftigung. Es ist unglaublich, dass Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann bei der heutigen Erwerbslosenquote behauptet, es herrsche Vollbeschäftigung.
Aber offenbar liegt das Problem nicht am mangelnden Stellenangebot.
Nein, es liegt bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen: Solange es Bund und Kantone zulassen, dass Detailhändler Leute zu tieferen Löhnen aus dem Ausland holen können, werden sie das tun. In der Schweiz müssen Schweizer Löhne bezahlt werden.
Was ist die Antwort der Gewerkschaften auf die Forderung nach Lohnkürzungen?
Wir werden uns in den Firmen zusammen mit den Betroffenen dafür einsetzen, dass die Löhne und Arbeitsplätze nicht angerührt werden. Entscheidend ist, dass die SNB den Frankenkurs auf einem einigermassen vernünftigen Niveau stabilisiert.
Daniel Lampart
Der Volkswirtschafter Daniel Lampart (46) arbeitete auf der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. 2006 wechselte er zum Schweizerischen Gewerkschaftsbund und wurde kurz darauf Chefökonom.
Lampart ist Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank. In seinem Blog schreibt er regelmässig zu aktuellen wirtschaftlichen Fragen.