Argentinien: Das Mysterium des toten Staatsanwalts
Wurde Staatsanwalt Alberto Nisman ermordet? Wahrscheinlich nicht, aber es gibt jede Menge Verschwörungstheorien.
Es vergeht kein Tag in Buenos Aires, an dem nicht ein neues Detail zum mysteriösen Tod des Staatsanwalts Alberto Nisman diskutiert wird. Der Mann war am 18. Januar tot aufgefunden worden. Kopfschuss. Neben ihm lag die Tatwaffe. Am Tag darauf sollte er einem Parlamentsausschuss darlegen, warum er glaubt, dass Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner die Attentäter schützen will, die 1994 vor dem jüdischen Gemeindezentrum in Buenos Aires eine Autobombe explodieren liessen und 85 Menschen töteten.
Staatsanwältin Viviana Fein mag noch so sehr darauf beharren, dass alle Beweise auf einen Selbstmord hindeuten. Laut Umfragen glaubt die Mehrheit der ArgentinierInnen: Es war Mord. Rund die Hälfte der Bevölkerung geht davon aus, die Präsidentin stecke dahinter. Ein Viertel dagegen glaubt, dass sie es nicht gewesen sei: So blöd sei Fernández nicht, dass sie sich im Jahr, in dem ihr Nachfolger gewählt wird, mit einem Mord belasten würde.
Neben der Präsidentin geistern noch andere angeblich Verdächtige durch die Medien: ehemalige Nazis, Drogenhändler, Dschihadisten, Spione aus Venezuela, der israelische Geheimdienst Mossad und so weiter. Ein örtlicher Rabbiner behauptet, er habe die Buchstaben des Nachnamens des toten Staatsanwalts in einer verschlüsselten Nachricht in der Thora gefunden – und demnach sei Nisman zum Selbstmord gedrängt worden.
Nun gibt es in Lateinamerika eine Passion, um den Tod grosser Männer Mysterien zu ranken. Wer wurde nicht alles exhumiert in den vergangenen Jahren: in Chile der Dichter Pablo Neruda und der 1973 gestürzte Präsident Salvador Allende; in Brasilien der 1964 gestürzte Präsident João Goulart; in Venezuela gar Simón Bolívar, der 1830 verstorbene Freiheitsheld. Über alle gab es Gerüchte, sie seien ermordet worden. Bei keinem fand die Gerichtsmedizin Hinweise darauf. Argentiniens ehemaliger Präsident Carlos Menem behauptet bis heute ganz ohne Evidenz, sein Sohn, der 1995 bei einem Helikopterabsturz starb, sei ermordet worden. Warum nicht auch Nisman?
Es spielt keine Rolle, dass Nismans Anklage gegen Fernández alles andere als hieb- und stichfest war. Er hatte ihr vorgeworfen, sie wolle die iranischen Hintermänner des Attentats von 1994 schützen, wenn sie dafür billiges Öl bekomme. Informationen dazu hatte ihm der Topagent Antonio Stiusso alias «Jaime» geliefert, aber diesen Deal hat es nie gegeben.
Noch weniger wird die Vorgeschichte der Ermittlungen um den Anschlag erhellt, um den es eigentlich geht. Seit einem Prozess im Jahr 2001 weiss man, dass der argentinische Geheimdienst von Anfang an falsche Spuren gelegt hat. So hat er von einem Autohändler die falsche Aussage erkauft, dieser habe das Tatfahrzeug – einen weissen Renault Trafic – besorgt, mit Sprengstoff gefüllt und an in den Anschlag verwickelte Polizisten übergeben. «Jaime», der im Dezember von der Präsidentin entlassen wurde, war damals schon ein Topagent. Er musste 2001 nicht aussagen. Der damalige Präsident Fernando de la Rúa gab Geheimdienstlern keine Aussagegenehmigung. «Jaime» schweigt bis heute. Staatsanwältin Fein hat ihn vorgeladen. Er ist zum Verhör nicht erschienen.