Frankreich: Armut lässt sich nicht so einfach ausschaffen

Nr. 7 –

Die Vertreibungspolitik der französischen Regierung gegenüber armen Menschen aus Osteuropa ist rigoros. Doch ihre Massnahmen nützen nichts. Sie verschärfen nur die Armut der Ärmsten – wie das Beispiel Montreuil zeigt.

Seit acht Jahren lebt Romina Hagi* mit ihrer Familie in Montreuil, einer Stadt, die übergangslos an Paris grenzt (vgl. «Die Stadt Montreuil» im Anschluss an diesen Text). Im Sommer wurde die junge Frau bereits zum fünften Mal nach Rumänien abgeschoben. Und wieder ist sie zurückgekommen. Denn in den Banlieues von Paris kann sie besser leben als in ihrem Herkunftsland. «Dort habe ich gar nichts. Meine Eltern haben nichts. Nicht einmal die Hoffnung, dass es besser werden könnte. Was soll ich dort?» Hier leben ihre Schwiegereltern – auf der Strasse zwar, aber zusammen mit anderen Familien. Inzwischen spricht sie etwas Französisch und kann sich und ihre zwei Kinder mit Gelegenheitsjobs als Putzfrau über Wasser halten. Um eine Wohnung zu mieten, reicht es allerdings nicht. «Trotzdem ist Frankreich meine Heimat – und natürlich die meiner Kinder.»

Immer wieder macht Frankreich mit Rückführungen von Menschen aus Rumänien oder Bulgarien international Schlagzeilen. Da EU-BürgerInnen nicht abgeschoben werden dürfen, lässt die Regierung illegal errichtete Siedlungen niederwalzen und animiert die nun obdachlosen Menschen mit einem Reisegeld zur «freiwilligen Rückkehr» – und schafft sie allen Gesetzen zum Trotz systematisch aus. Die EU-Kommission drohte mit einem Vertragsverletzungsverfahren, denn Frankreich hatte mit der Unterlassung von Einzelfallprüfungen gegen EU-Recht verstossen. Der damalige französische Innenminister Brice Hortefeux, heute Europaparlamentsabgeordneter, rechtfertigte 2010 gegenüber der Zeitung «Le Monde» den harten Kurs mit Hinweis auf den Erfolg des rechtsradikalen Front National: «Es ist nicht unsere Aufgabe, in Frankreich sämtliche Roma Rumäniens und Bulgariens aufzunehmen.»

Als 2010 der damalige Präsident Nicolas Sarkozy zum Abriss von Romalagern im ganzen Land aufrief und drohte, missliebig gewordenen MigrantInnen die französische Staatsbürgerschaft zu entziehen, kritisierten PolitikerInnen der Sozialistischen Partei (PS) diese Methoden noch als herzlos und als im Widerspruch zu den Grundwerten der Republik stehend. Sarkozys Massnahmen wurden mit der Verfolgung von ethnischen Minderheiten, einschliesslich der Juden und der Roma unter dem Vichy-Regime im Zweiten Weltkrieg, verglichen.

«Lösung für die Romafrage»

Aber bereits zwei Jahre nach der Empörung der SozialistInnen über Sarkozys Obdachlosenpolitik, im Präsidentschaftswahlkampf 2012, versprach der damalige PS-Kandidat François Hollande, eine «Lösung für die Romafrage» zu finden. Er wolle ihre Zeltstätten auflösen und sie in speziellen Einrichtungen festsetzen, beteuerte er und machte damit deutlich, dass er bereit war, die Vertreibungspolitik seines Vorgängers weiterzuführen.

Und so kam es auch. Kaum gewählt, liess die neue Regierung verschiedene Obdachlosenlager abreissen und Zehntausende nach Osteuropa abschieben. Laut Menschenrechtsorganisationen hat die sozialistische Regierung 2013 knapp 20 000 und 2014 fast 13 500 arme, aus Osteuropa stammende Menschen aus provisorischen Lagern vertrieben. «Spezielle Einrichtungen» wurden für ein paar Hundert errichtet. Frankreich sei «nicht da, um diese Bevölkerungsgruppen willkommen zu heissen», sagte 2013 der damalige Innenminister und heutige Premierminister Manuel Valls.

Ein Jahr später bezeichnete Valls den Angriff auf den sechzehnjährigen obdachlosen und aus Osteuropa stammenden Darius, der am 13. Juni in einem Vorort im Norden von Paris entführt und beinahe zu Tode geschlagen worden war, als «inakzeptable Tat» – obschon die Regierung den Überfremdungsdiskurs, der dieser blutigen Tat zugrunde liegt, mitgeprägt und somit mitverantwortet hat. Hollande nannte sie einen «unsäglichen und nicht zu rechtfertigenden Angriff auf all die Prinzipien, auf denen unsere Republik gegründet wurde». Doch im gleichen Monat wurde in Marseille ein Lager abgerissen, in dem rund 400 Menschen untergebracht waren, darunter viele Kinder. Rechtliche Grundlage für diese Vertreibung ist die «obligation de quitter le territoire français», also die Weisung, französischen Boden zu verlassen.

Es ist schon erstaunlich, dass das Abreissen von Zelten und Wellblechhäusern und die Vertreibung immer wieder als Lösungsmöglichkeit propagiert werden, um der Armut und dem Elend beizukommen. Dafür belegen etliche Studien, etwa diejenige der Sozialwissenschaftlerin Alisa Mayer (2012) von der Universität Wien, dass die Vertriebenen wieder zurückkommen und die Hütten einfach auf der nächsten Brache wieder errichten. Genau so hat es auch Romina Hagi fünf Mal innert acht Jahren getan.

Schon 2007 bildeten einige Frauen in Montreuil eine Gruppe, die sich für die Obdachlosen einsetzte. Die AnwohnerInnen sammelten Geld und Nahrungsmittel und besetzten schliesslich eine leer stehende Klinik, die sie möblierten und so für die Familien des Lagers bewohnbar machten. Vor der Klinik brachten sie eine Wandtafel an, auf der geschrieben stand, was die BewohnerInnen benötigen: Windeln beispielsweise, Matratzen oder Kleider. Die NachbarInnen wussten so, was sie vorbeibringen konnten. Und dank der vorübergehenden Sesshaftigkeit konnten die Kinder die Schule besuchen und Französisch lernen.

Doch im Sommer 2012 wurde die Klinik von der Polizei geräumt. Fünf Minuten hatten die BewohnerInnen, um das Gebäude zu verlassen. Und dann standen sie wieder auf der Strasse. «Es war eine Katastrophe», erinnert sich Cristina Rossi, Nachbarin, Ethnologin und Aktivistin. «Einige konnten nicht einmal ein Stück Seife retten, ganz zu schweigen von Material, mit dem sie die nächste Unterkunft bauen sollten.» Sechzig Obdachlose installierten sich auf einer Brache in Montreuil mit einem Wasserhahn und zwei Plumpsklos. «Und das alles keine zwei Kilometer von der Grenze zum schicken Paris entfernt.» Für die Obdachlosengemeinschaft empfindet sie grossen Respekt: «Innert kurzer Zeit richten sie sich neu ein, passen sich an, leben unter strengen Bedingungen, die uns krank machen würden. Diese Menschen sind unglaublich stark.»

Wie vielerorts beschwerten sich auch die AnwohnerInnen dieser provisorischen Armensiedlung über den Gestank und die zunehmende Anzahl Ratten. Das Elend der Menschen war tatsächlich greifbar. Auch auf anderen Brachen. Der Druck wurde grösser. Viele provisorische Lebensräume wurden mit Baggern platt gewalzt, und die Areale stehen bis heute leer – oft eingefasst von einem hohen Zaun. Erst nachdem die KommunistInnen nach einer mehrjährigen Pause 2012 die Gemeindewahlen von Montreuil wieder für sich entscheiden konnten, wendete sich das Blatt – zumindest für einen Teil der Betroffenen: Mit finanzieller Unterstützung der EU und des Staates wurden 22 Familien in Containersiedlungen und weitere 350 Menschen in verschiedenen Wohnungen untergebracht. Ins Programm wurde aufgenommen, wer Kinder hatte, sich auf Französisch verständigen und einen guten Leumund vorweisen konnte.

Pro und kontra Container

Das Projekt stiess bei vielen AnwohnerInnen auf erheblichen Protest: Kaum jemand wollte dauerhaft neben einer Romasiedlung leben. «Künftige Anwohner sperrten Strassen, damit die Container nicht angeliefert werden konnten. Als sie dann da waren, zerstachen sie die Pneus der Kinderwagen und versuchten, die NeuzuzügerInnen zu brüskieren, wo immer es ging», erzählt Cristina Rossi. Aber inzwischen sind die Proteste weitgehend verebbt, und die Container gehören zum Bild der Gemeinde – und gelten heute gar als Vorzeigebeispiel für eine gelungene Integration.

Auch die rund hundert Obdachlosen, die nicht ins Programm aufgenommen wurden, gehören ins Bild. Sommer und Winter übernachten sie auf Trottoirs, auf Rabatten vor Geschäftshäusern oder wo auch immer es eine Möglichkeit gibt, ein Zelt aufzuschlagen. Die meisten von ihnen «travaillent les poubelles», das heisst, sie durchwühlen die Abfalleimer der Stadt und sortieren den Müll. Ciprian Simion* verdient an guten Tagen bis zu dreissig Euro, indem er Kupferdrähte aus entsorgten Kabeln zieht und kiloweise verkauft. «Ich habe zwar auch zwei Kinder, aber als die Wohnungen verteilt wurden, war ich gerade nicht im Land.» Simion war nämlich kurz zuvor ausgeschafft worden. Also lebt er mit seiner Familie wieder auf der Strasse – bis vor einem Jahr am Rand des Boulevard périphérique, der bis zu fünfspurigen Autobahn, die Paris von den Banlieues trennt. «Nacht für Nacht weckte uns die Polizei, zerstörte die Zelte, warf unsere Sachen in den Abfall. Wie soll ich meine Kinder in die Schule schicken, wenn wir alle paar Wochen auf einer anderen Brache unser Lager aufschlagen müssen?», fragt er in gebrochenem Französisch.

Letzten Winter konnte Ciprian Simion in der Wohnung seines Bruders ein Zimmer übernehmen, weil dessen Schwiegereltern verreist waren – zu viert auf elf Quadratmetern. Später lebte er mit seiner Familie in einem besetzten Bürogebäude, zusammen mit etwa achtzig MalierInnen, die gerade erst via Libyen und Lampedusa nach Frankreich eingereist waren. Seit Juli zieht er wieder von Brache zu Brache. Wenn er nicht bald eine feste Unterkunft erhält, werden seine Kinder wie er selber AnalphabetInnen bleiben und sich kaum je in die französische Gesellschaft integrieren können. Ein Teufelskreis.

Moderner Pauperismus

Auf dem samstäglichen Flohmarkt bei der Porte de Montreuil gibt es all das zu kaufen, was einen solchen Markt charmant macht: viel Ramsch, aber auch Trouvaillen in Form von Büchern, Schmuck oder Haushaltsgegenständen. Am Rand des Markts verkaufen Ciprian Simions Frau Maria Avdei* und ihr Bruder Constantin* Kleider. Nach drei Wochen Pause trauen sie sich wieder, ihre Ware auf einem Tuch am Boden auszubreiten. Denn an jenem Samstag wurden sie von der Polizei mit Schlagstöcken davongejagt. Die Ware, die sie während Wochen gesammelt und in einem Waschsalon gesäubert hatten, wurde entsorgt. «Die Polizisten sind richtig brutal», sagt Maria Simion. Sie schiebt einen Kinderwagen, voll bepackt mit Plastiksäcken. Die darin aufbewahrten Kleider hat sie in Abfallkübeln im Zentrum von Paris gefunden. «Es ist unglaublich, was die Leute alles wegschmeissen.» Sie zeigt ein geblümtes Kleid, dem ein Knopf fehlt: «Für das zahlt jemand drei bis fünf Euro.»

Überhaupt sind viele Obdachlose mit Kinderwagen unterwegs. Wer auf einer Brache lebt, auf der es kein fliessendes Wasser gibt, karrt damit Eimer mit Wasser von der nächsten öffentlichen Wasserstelle heran. Cristina Rossi und die Frauen aus ihrem Quartier versuchen, die benachteiligten NachbarInnen in solchen Bereichen zu unterstützen. Sie setzen sich bei der Gemeinde dafür ein, dass ein plombierter Wasserhahn geöffnet wird, dass mehr Wohnungen zur Verfügung gestellt werden, dass Bedürftige die administrativen Hürden überwinden können, die zum Erhalt einer Carte Vitale (Krankenversicherungskarte) berechtigen, ohne die selbst die medizinische Notversorgung immer schwieriger zugänglich ist. Und sie helfen bei der Einschulung der Kinder, was ohne festen Wohnsitz nicht einfach ist.

«Da lebe ich lieber auf einer Brache»

Zusammen mit einer befreundeten Juristin konnte die Aktivistin Cristina Rossi in der Nachbargemeinde Bagnolet für vier Familien je eine Wohnung organisieren, für die die Gemeinde zahlt. «Die Familien haben ja eh kein Geld, wie sollten sie denn da eine Miete zahlen?» Eine angemessene Sozialwohnung für vier Erwachsene mit fünf Kindern in Montreuil kostet 225 Euro pro Monat. Eine happige Summe für eine Familie, die kaum die Möglichkeit hat, jemals einen Job zu finden. Dazu kommt, dass sich gar nicht alle Leute helfen lassen wollen. Eine von Cristina Rossi vermittelte Wohnung wurde gar nie bezogen. Im unteren Stock wohne ein Drogendealer, und auch sonst habe es kriminelle Leute im Haus. «Da will ich mit meinen Kindern nicht einziehen», sagt eine Cousine von Romina Hagi. «Dann lebe ich lieber auf einer Brache.»

Die Vertreibungspolitik hat die Ziele derer, die sie propagierten, nicht erfüllt. Wenn Bidonvilles abgerissen werden, entstehen nebenan neue. Die Leute bleiben da oder kommen zurück – trotz aller Brutalität der Sicherheitskräfte. Denn die Menschen haben Verbindungen in einer Gegend, sie können nicht einfach verpflanzt werden. Und so werden die Roma wie schon seit Jahrhunderten als Sündenböcke für eine gesellschaftliche Misere an den Pranger gestellt. Und dass mehr Roma kommen, wenn ihre Misere weniger menschenverachtend ist, das sei überhaupt nicht belegt, sagt der Politologe Sébastien Thiery. Es bleibt also nur eine Möglichkeit: alle am republikanischen Credo «Liberté, égalité, fraternité» teilhaben zu lassen. Auch die Obdachlosen.

* Namen geändert.

Die Stadt Montreuil

Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist Montreuil eine Arbeiter- und EinwanderInnengemeinde; heute zählt sie über 100 000 EinwohnerInnen. Die meisten ImmigrantInnen stammen aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika – besonders aus Mali. Deshalb trägt die Stadt auch den Übernamen Bamako-sur-Seine. Etwa ein Drittel der Wohnhäuser besteht aus Sozialwohnungen aus den sechziger und siebziger Jahren. Viele der früheren Fabriken und Werkstätten sind heute zu Lofts für die «Bobos», die «Bohème-Bourgeoisie», umgebaut.

In Montreuil befinden sich der Hauptsitz der grössten französischen Gewerkschaft CGT sowie die europäische Zentrale der globalisierungskritischen Organisation Attac. Die Stadt wird seit Jahrzehnten links regiert.

Staatliche Gewalt: «Kein ‹Romaproblem›»

Viele der Obdachlosen und der Menschen, die in provisorischen Zelt- und Wellblechbehausungen in den Vororten in sogenannten Bidonvilles leben, stammen aus Osteuropa – meistens aus Rumänien oder Bulgarien. Nur ein Teil von ihnen bezeichnet sich selber als Roma.

«Wenn die Leute von Roma sprechen, werfen sie arme, obdachlose osteuropäische Migranten und Migrantinnen in einen Topf, der negative Assoziationen weckt», sagt der Politologe Sébastien Thiery. Frankreich und Paris hätten kein «Romaproblem», sondern ein Problem mit staatlicher Gewalt. Gut ausgebildete und gut betuchte ImmigrantInnen, auch aus Osteuropa, seien gerne gesehen, würden nicht als Roma wahrgenommen. Wer indessen arm und ungebildet sei, werde vertrieben – dem freien Personenverkehr in der EU zum Trotz. «Was ist denn das für ein Menschenbild in einem Land, das die Gleichheit und Brüderlichkeit sozusagen erfunden hat?» Der Wissenschaftler folgert: «Die Bidonvilles machen aus Menschen Roma.»

In Frankreich darf die ethnische Herkunft in offiziellen Papieren nicht erwähnt werden. «Aber wer heute von Bidonvilles spricht, meint damit die Zelte und provisorischen Hütten der Immigranten und Immigrantinnen aus Osteuropa», so Sébastien Thiery. Er spricht von staatlicher Gewalt gegen Lebensräume von Menschen: Bidonvilles werden mit Baggern abgerissen und die grossen Boulevards von Dreck gereinigt, also auch von den Armen. «Es ist einfacher, gegen Roma als gegen Arme zu sein. Denn Roma sind die Anderen; Arme können auch die Eigenen sein.» Paris verfolge eine Politik, mit der «faule Glieder am Körper» eliminiert werden sollen. Aber wer definiere, welche Glieder faul sind, wer zum Sprechen legitimiert ist? Eben nicht die Menschen, die gezwungen seien, in den Bidonvilles zu leben, so Thiery. Diskriminiert werde, wer nicht am «normalen», sprich produktiven Leben teilnehmen könne. «Die Gesellschaft spricht dann davon, dass diese Menschen eine Last sind. Ohne dass sie merkt, dass sie sich diese Last selber schafft beziehungsweise selber die Last ist.»

Corina Fistarol