Terrorismus in Tunesien: Islamistische Zerreissprobe

Nr. 13 –

Das Attentat in Tunis von letzter Woche wirft ein Licht auf die bedeutende dschihadistische Szene des Landes. Ihr Erfolg hat viel mit dem Frust der Jugend zu tun, der heute kaum kleiner ist als vor dem Arabischen Frühling.

Über 3000 junge Männer aus Tunesien sind nach Libyen, Syrien oder in den Irak gereist und kämpfen in den Reihen des Islamischen Staats (IS) oder anderer Terrorgruppen – mehr als aus jedem anderen Land. Dass viele junge TunesierInnen sehr gut ausgebildet sind, macht sie begehrt. Besonders Ingenieure und Softwarespezialisten werden gezielt rekrutiert, in Rakka oder Mosul übernehmen sie gut bezahlte Jobs.

Mittlerweile sind mehr als 500 TunesierInnen wieder in die Heimat zurückgekehrt. Und sie werden meist sofort verhaftet – von den gleichen PolizistInnen, die schon unter Diktator Zine al-Abidine Ben Ali den religiösen Aufruhr in Zaum gehalten haben. Vor 2011 verschwanden IslamistInnen zu Tausenden in Gefängnissen. Aus der damaligen Unterdrückung zieht Tunesiens grosse islamistische Partei Ennahda von Rachid al-Ghannouchi ihre heutige Legitimation.

Man solle den traumatisierten Rückkehrern lieber eine Psychotherapie anbieten, empört sich Imen Triki. Die Anwältin, die Syrienrückkehrer vertritt, wird bald vor Gericht Houssem Hosni verteidigen. Der ehemalige Soldat aus Tadama, einem heruntergekommenen Vorort von Tunis, sitzt seit einem Dreivierteljahr ein, bisher ohne Verfahren. «Die Polizei wendet weiterhin die Hanging-Chicken-Methode an», so die Anwältin. «Man wird mit Händen und Füssen an eine waagrechte Stange gebunden und geschlagen, bis man gesteht, was die Folterer hören wollen.»

Triki sympathisiert offen mit Ennahda. Zusammen mit Marwan Jedah setzt sie sich für ordentliche Gerichtsverfahren für IslamistInnen ein. Jedah ist ein junger Salafist, der behauptet, dass «mindestens 50 000 Tunesier» für den IS kämpfen wollen – und die martialischen Methoden der Polizei sind für ihn der Hauptgrund dafür. Mit dem Sieg der liberalen Partei Nidaa Tounes bei den Wahlen von 2014 sei der Polizeistaat zurückgekehrt, so Jedah.

Die «88» steht für das Problem

In Tunis ist vielen unerklärlich, wieso ausgerechnet ihr weltoffenes Land – nach der recht friedlichen «Jasminrevolution» vom Januar 2011 das einzige Erfolgsmodell des Arabischen Frühlings – zum Hort radikaler Gruppen geworden ist. Aber in den stets vollen Cafés auf der Avenue Bourguiba im Zentrum der Hauptstadt antworten viele auf die Frage nach der Lage im Land mit einer Zahl: 88 – das Alter des neuen Staatspräsidenten Béji Caïd Essebsi.

«Ich habe ihn sogar gewählt, aber nur, weil er das kleinere Übel ist», sagt Mohamed Ayadi, ein 25-jähriger Student der Wirtschaftswissenschaft. «Béji Caïd Essebsi war schon 1964 Innenminister. Vor vier Jahren sind die unter Dreissigährigen auf die Strasse gegangen. Aber jetzt sind sie nicht einmal im Parlament vertreten, anders als die Islamisten und Ben Alis alte Machtelite.»

Am 17. Dezember 2010 war es wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, die den jungen Studenten Mohamed Bouazizi dazu trieb, sich anzuzünden. Sein selbstmörderischer Protest, dem sich schliesslich junge Leute im ganzen Land anschlossen, galt auch den täglichen Drangsalierungen durch die korrupte und brutale Polizei.

Und heute? Am 18. März waren es drei tunesische Jugendliche, die mitten in Tunis 23 Menschen ermordeten. Mittlerweile hat sich der IS zum Anschlag bekannt und lieferte über seine Twitter- und Facebook-Kanäle auch Einzelheiten zum Ablauf. Die Täter waren nach mehrwöchigem Training aus Libyen nach Tunis zurückgekehrt. Sie stammen aus der Region Chambi an der algerischen Grenze, wo sich die tunesische Polizei seit Jahren mit in den einsamen Wäldern versteckten Extremistengruppen einen Guerillakrieg liefert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt hier bei weit über dreissig Prozent, der Monatslohn kaum über 250 Euro.

Attacke kam «nicht überraschend»

«Die unter Diktator Ben Ali unterdrückten religiösen Extremisten haben in den unterentwickelten Regionen genauso wie an den Unis von Tunis ein gut funktionierendes Rekrutierungsnetz aufgebaut», sagt Ehmedi Naifar, Professor an der Sitouna-Universität in Tunis. Für Naifar kam die Attacke nicht überraschend. «Nach dem historischen Kompromiss der moderaten IslamistInnen von Ennahda mit der ehemaligen Staatselite in der Nidaa-Tounes-Partei scheint Tunesien auf dem richtigen Kurs zu sein. Doch im Leben der meisten jungen Menschen hat sich seit 2011 nicht viel geändert.»

Nun werfen VertreterInnen von Nidaa Tounes Koalitionspartner Ennahda vor, die ideologische Rechtfertigung für die Attentäter geliefert zu haben. In der Tat stehen die moderaten IslamistInnen vor einer Zerreissprobe. Während Parteichef Gannouchi sich immer gegen jede Form von Gewalt ausgesprochen hat, haben lokale Ennahda-Politiker immer wieder Verständnis für den Widerstand der religiösen Jugend gegen die Polizei geäussert.