Aufarbeitung in Tunesien: Im TV: Täter benennen, Opfer rehabilitieren
Unter den Regimen von Ben Ali und Bourguiba Verfolgte und Gefolterte berichten live im Fernsehen – ein historisches Ereignis. Doch Präsident Essebsi geht auf Tauchstation.
Es war eine aussergewöhnliche Premiere: Millionen TunesierInnen verfolgten am Fernsehen live die Berichte von Opfern der Diktatur. Im luxuriösen Club Elyssa oberhalb einer malerischen Meeresbucht ausserhalb von Tunis, wo einst Leïla Trabelsi, die Gattin des im Arabischen Frühling geflüchteten Despoten Zine al-Abidine Ben Ali, ihre Gäste zu empfangen pflegte, fanden am Donnerstag und am Freitag vergangener Woche öffentliche Anhörungen statt. Jeweils vier Stunden lang.
Es waren erschütternde Zeugnisse: Latifa Matmati berichtete, wie ihr Mann Kamel, Ingenieur der staatlichen Elektrizitäts- und Gasgesellschaft, 1991 in Gabès von der Polizei abgeholt worden war. Schon kurz danach war er unter der Folter gestorben. Das aber hatte die Frau erst achtzehn Jahre später erfahren. Drei Jahre lang hatte sie, als ihr Mann längst schon tot war, Essen und Kleidung für ihn ins Gefängnis gebracht. Kamel Matmati hatte der islamistischen Ennahda angehört, die von 2011 bis 2014 den Premierminister stellte und heute mit drei Ministern im Kabinett vertreten ist.
Walid Kasraoui, der mit einer Beinprothese auf die Bühne kam, sagte: «Ich will wissen, wer auf mich geschossen hat.» Er war 23 Jahre alt, als einen Tag vor der Flucht Ben Alis, in einem Aussenviertel von Tunis, maskierte Polizisten elf Jugendliche erschossen und ihn schwer verwundeten.
Besonderes Aufsehen erregte der 77-jährige Schriftsteller Gilbert Naccache. Er hatte einst einer linksradikalen Gruppe angehört und unter der Regentschaft von Habib Bourguiba von 1968 bis 1979 im Gefängnis gesessen. Lakonisch stellte er fest: «Die Polizei kannte nur eine Arbeitsmethode: die Folter.»
Den Präsidenten interessierts nicht
Die Anhörung hatte die 2014 von der Verfassunggebenden Versammlung eingerichtete «Instanz für Wahrheit und Würde» initiert. Zugegen waren Opfer der Diktatur. Zugegen war Houcine Abassi, Präsident des Gewerkschaftsverbands UGTT, der mit drei weiteren Vertretern der Zivilgesellschaft 2015 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Zugegen war ein einziger – parteiloser – Minister.
Nicht zugegen war Präsident Béji Caïd Essebsi. Dabei handelte es sich bei der öffentlichen Anhörung um einen Meilenstein in der jüngsten Geschichte des Landes. 62 318 Dossiers waren bei der Instanz für Wahrheit und Würde eingegangen. 11 807 Anhörungen hatten deren 600 MitarbeiterInnen organisiert. Der Aufwand ist enorm, doch der Präsident scheint die Arbeit nicht zu würdigen. Es geht darum, die Verbrechen der Diktatur aufzudecken, die Täter zu benennen und die Opfer zu rehabilitieren, all dies, um die Gesellschaft auszusöhnen. Ein präsidiales Anliegen, möchte man meinen. Doch der Präsident sieht das offenbar anders.
Folter auch unter Bourguiba
Eine ganze Gesellschaft wird mit der Diktatur konfrontiert. Die Instanz für Wahrheit und Würde hat sich mit den Verbrechen zwischen dem 1. Juli 1955 und dem 31. Dezember 2013 zu befassen. Der Zeitraum umfasst im Wesentlichen die Präsidentschaft Habib Bourguibas (1957–1987) und jene Ben Alis (1987–2011). Während sich Ben Ali und sein Clan die profitablen Zweige der Wirtschaft unter den Nagel rissen und sich masslos bereicherten, lebte Bourguiba bescheiden. Er hat Tunesien in die Unabhängigkeit geführt, das Land modernisiert und ihm die damals fortschrittlichste Verfassung im arabischen Raum gegeben, die Frauen und Männer weitgehend gleichstellte. Doch unter Bourguiba, dem der heutige Präsident als Chef der Polizeibehörde, als Innen-, Verteidigungs- und Aussenminister diente, wurde ebenso gefoltert wie unter Ben Ali – daran erinnerte im «Elyssa» der Schriftsteller Naccache.
Präsident Essebsi ist ein Verehrer Bourguibas, über den er ein Buch geschrieben hat. Unter Essebsi sind auch viele Politiker der Ära Ben Ali wieder in Ämter gekommen. Die alte politische Elite hat – abgesehen vom engeren Clan um Ben Ali und seine Gattin – den Arabischen Frühling ziemlich unbeschadet überstanden. Und die Aufarbeitung der Diktatur, Voraussetzung für eine Versöhnung, scheint nicht ihr Herzensanliegen zu sein.
Sihem Bensedrine, die Präsidentin der Instanz für Wahrheit und Würde, war unter der Diktatur Ben Alis eine der bekanntesten DissidentInnen. Von einem Grossteil der heutigen politischen Elite wird sie nicht sonderlich geschätzt. Ihr werden mal Revanchismus, mal mangelnde Distanz zur islamistischen Ennahda, mal administrative Fehler unterstellt. Doch die frühere Menschenrechtsaktivistin und Journalistin will weiterhin die Gesellschaft aufrütteln. Die nächste öffentliche Anhörung von Opfern der Diktatur soll am 17. Dezember stattfinden. Es ist der Tag, an dem sich im Jahr 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi anzündete und damit einen Protest entfachte, der in den Arabischen Frühling mündete. Und bei der übernächsten Anhörung – so hofft Bensedrine – werden sich auch Täter der Öffentlichkeit stellen. Sie ist für den 14. Januar 2017 geplant, den Tag, an dem 2011 Ben Ali ins Exil flüchtete.