Festung Europa: Mehr Grenzschutz heisst mehr Tote
Die klarsten Worte sprach Maltas Ministerpräsident. «Mit der Zeit wird Europa hart für seine Tatenlosigkeit verurteilt werden, wie es verurteilt wurde, als es vor Völkermord die Augen verschloss.» Das sagte Joseph Muscat am vergangenen Sonntag. Zuvor waren binnen weniger Tage rund 1500 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
Die Katastrophen, die sich täglich an Europas Aussengrenzen abspielen, sind nicht neu. Sie geschehen seit Jahren. Und die Antwort der Politik darauf ist immer dieselbe: noch mehr Abschottung.
Die italienische Rettungsoperation «Mare Nostrum» wurde vergangenes Jahr eingestellt. Ersetzt wurde sie durch Kriegsschiffe und Helikopter vor den Küsten, koordiniert durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Die Migrationspolitik der EU will Flüchtlinge von der Reise nach Europa abhalten. Doch Menschen, die vor Krieg, Hunger oder Perspektivlosigkeit fliehen, haben wenig zu verlieren. Ein stärkerer Grenzschutz bedeutet nicht weniger Flüchtlinge. Er bedeutet nur mehr Tote. Die jüngsten Ereignisse offenbaren erneut, dass die europäische Politik der Abschottung das Mittelmeer zum Massengrab macht.
Während die institutionelle Politik versagt, versuchen Freiwillige alles Mögliche, um etwas gegen das Sterben auf dem Mittelmeer zu tun. Sie richten Notruftelefone ein, schicken Rettungsboote und koordinieren Hilfseinsätze auf hoher See – und retten so unzählige Leben. Schon die blosse Existenz dieser Projekte spiegelt den Zynismus der europäischen Migrationspolitik: Die Seenotrettung wird an die Zivilgesellschaft ausgelagert, die Zuständigkeit abgeschoben. Aber private Hilfe entbindet die Friedensnobelpreisträgerin EU nicht von ihrer Verantwortung.
Migration findet statt. Wer glaubt, man könne zwischen guten Kriegsflüchtlingen und schlechten Wirtschaftsflüchtlingen unterscheiden, verweigert sich der Realität. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein globales Wirtschafts- und Handelssystem etabliert, in dem Waren und Kapital nicht mehr an nationale Grenzen gebunden sind. Eine Errungenschaft der EU ist, dass diese Freiheit im Innern auch auf Personen ausgeweitet wurde. Sich der Realität stellen heisst anerkennen, dass auch Menschen von ausserhalb der Festung Europa das Recht haben, diese Freiheit einzufordern.
Natürlich sind Sofortmassnahmen nötig, um sie auf ihrem Weg nicht einfach ertrinken zu lassen: Seenotrettung, die Wiedereinführung des Botschaftsasyls, humanitäre Visa, eine Erweiterung der Flüchtlingskontingente – doch letztlich sind all diese Massnahmen nur Symptombekämpfung. Allein schon die Forderung nach einer humanitären Rettungsmission auf dem Mittelmeer ist eine Bankrotterklärung, die zeigt, wie sehr sich die Verhältnisse verschoben haben, wie weit der Pragmatismus fortgeschritten ist – auch, oder gerade, in der Linken.
Vor zehn Jahren stimmte ein Grossteil der parlamentarischen Linken den Abkommen von Schengen und Dublin zu. Das Schengener Abkommen versprach die Grenzen in Europa abzuschaffen, verstärkte aber im Gegenzug die Polizeipräsenz im Innern. Gegen aussen zog es die Mauern um Europa in die Höhe. Das Dubliner Abkommen verunmöglicht es Flüchtlingen faktisch, legal in die Schweiz zu reisen und Asyl zu beantragen. Denn MigrantInnen müssen ihr Gesuch in dem Land stellen, das sie zuerst betreten. So stranden Tausende in Griechenland oder Italien oder werden dorthin zurückgeschickt, wenn sie in einen anderen Staat weiterreisen.
Denkt man diese Politik weiter, gibt es in letzter Konsequenz nur zwei Möglichkeiten. Einmal: Die EU versiegelt ihre Aussengrenzen, baut noch höhere Zäune, verstärkt die Überwachung, setzt auf noch mehr Repression. Sie lagert die Asylverfahren in nordafrikanische Staaten aus, wie dies bereits gefordert wird. Am Ende dieser Entwicklung stehen riesige Auffanglager als europäische Exklaven in chaotischen, gescheiterten Staaten wie Libyen, wo staatliche Strukturen fehlen und ein rechtliches Vakuum herrscht. Und wer verhindert dann, dass Menschen aus solchen Lagern fliehen und sich trotzdem zur Fahrt übers Mittelmeer entschliessen? Und was geschieht mit den Flüchtlingen, die kein Asyl erhalten?
In die andere Richtung wagt schon kaum mehr jemand zu denken: die vollständige Abschaffung der Grenzen.
Was hiesse das denn: Bewegungsfreiheit als Menschenrecht? Wie geht eine Gesellschaft mit offenen Grenzen um? Was geschieht mit MigrantInnen, die nach Europa kommen? Wovon leben sie? Wie leben sie in einer Europäischen Union, in der die Arbeitslosigkeit hoch und die Verlustängste gross sind und die seit ihrem Bestehen wohl noch nie so instabil war wie heute? Das sind die unangenehmen Fragen, vor denen sich viele Linke bislang gedrückt haben. Und denen sie sich stellen müssen, wenn sie die rein karitative Symptombekämpfung überwinden möchten.
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