Asyl: Ausschaffungsflug KM 491

Nr. 19 –

Ein Flüchtling wird in Handschellen gefesselt und, von zwei Polizisten in zivil begleitet, auf einem Linienflug von Zürich nach Malta ausgeschafft. Ein WOZ-Reporter ist als Augenzeuge mit an Bord – bis er selbst ins Geschehen eingreift.

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Kalte Luft strömt aus der Decke, die Kabine verdunkelt sich, die Turbinen laufen an, das Flugzeug vibriert. Ein heller Ton dringt aus dem Lautsprecher: «Fasten your seatbelts.»

Der Rentner nebenan verschanzt sich hinter der «Times of Malta». Drei Reihen weiter hinten unterhalten sich zwei Männer über einen schmächtigen Passagier in ihrer Mitte hinweg. Es ist kühl, aber meine Hände sind schweissnass. Ich rutsche unruhig auf meinem Sitz herum, drehe mich dauernd nach hinten. Der Mann in der Sitzreihe nebenan wirft mir argwöhnische Blicke zu.

Gleich geht es los, denke ich. Gleich steht er auf.



Es war einer dieser ewig langen Tage, an denen tausend Dinge gesagt werden, aber nichts richtig besprochen wird. Die Sitzung plätscherte vor sich hin, und mir brummte der Schädel, als plötzlich mein Handy klingelte. Ich klemmte den Anruf ab. Aber es klingelte erneut. Zweimal, dreimal. «Sitzung», tippte ich in den Bildschirm. «Rufe gleich zurück. Oder dringend?»

«Dringend.»

Am anderen Ende der Leitung war ein Informant, der es eilig hatte: «Es geht um einen Flüchtling, der sich in Haft befindet. Auf sein Asylgesuch wurde nicht eingetreten, weil er angeblich über einen sicheren Drittstaat eingereist sein soll. Er soll nach Malta abgeschoben werden, hat sich aber geweigert, freiwillig in ein Flugzeug zu steigen. Seither befindet er sich in Haft. Er ist in Hungerstreik getreten, zehn Tage lang, bis ihn sein Bruder überzeugte abzubrechen. Es wäre gefährlich geworden, weil er offenbar an Herzproblemen leidet. Heute Mittag hat er seinen Bruder angerufen und ihm mitgeteilt, dass er am Abend von Zürich nach Malta ausgeschafft werden soll. Es kommt nur ein Flug infrage: Air Malta 491, Abflug um 18 Uhr. Er wird sich gegen die Ausschaffung wehren. Es wäre gut, wenn ein Journalist dabei wäre, der alles dokumentiert.»

Die WOZ bemüht sich seit Jahren um eine offizielle Erlaubnis, einen Ausschaffungsflug begleiten zu dürfen. Alle Anfragen, bei Fluggesellschaften, bei der Anti-Folter-Kommission und bei Ärzten, die die Flüge beobachten, scheiterten an den Absagen des Staatssekretariats für Migration (SEM).

Ausschaffungsflüge sind ein heisses Eisen, weil sie sich im Grenzgebiet des Rechts abspielen. Die Stimmung auf den Flügen ist angespannt, Flüchtlinge wehren sich, die Polizei wendet Zwangsmassnahmen an, auf Linienflügen, aber auch auf sogenannten Sonderflügen (vgl. «Bis zur Ganzkörperfesselung» im Anschluss an diesen Text).

Im Sommer 2014 erfuhr ich, dass das SEM mit der französischen Firma Twin Jet jeweils mittwochs um 11.40 Uhr Ausschaffungsflüge von Genf nach Mailand ansetzt (siehe WOZ Nr. 33/2014 ). In den zweimotorigen neunzehnplätzigen Maschinen werden Asylsuchende im Rahmen des Dublin-Abkommens in das Land überstellt, wo sie ihr erstes Asylgesuch eingereicht haben. Nach offizieller Darstellung geschieht das auf regulären Linienflügen. Das SEM erklärte, diese seien «auf den kommerziellen Flugreservationssystemen aufgeschaltet» und könnten «jederzeit» gebucht werden. Ich versuchte also mehrfach und auf verschiedenen Wegen, ein Ticket zu kaufen. Doch die Fluggesellschaft beschied mir stets, die Flüge seien «nicht öffentlich», die Tickets «bestimmten Gruppen» vorbehalten. Es handelte sich also um sogenannte Sonderflüge, die eigens zum Zweck der Ausschaffung vom SEM gechartert wurden. (Entgegen früheren Behauptungen hat das SEM später eingestanden, dass die Flüge von niemandem gebucht werden können ausser von der Migrationsbehörde selbst.)

Sonderflüge sind stark umstritten. Nicht alle Staaten nehmen sie an. Oft dienen sie sogenannten Ausschaffungen auf Level 4, die von Menschenrechtsgruppen heftig kritisiert werden: Die Polizei kann besondere Zwangsmassnahmen anwenden bis hin zur Ganzkörperfesselung – Flüchtlinge werden an Füssen, Knien, Oberarmen und Händen gefesselt, und ihnen wird ein Helm mit Spuckschutz übergezogen.

Joseph Ndukaku Chiakwa hätte am 17. März 2010 auf einem Sonderflug nach Nigeria ausgeschafft werden sollen. Er war während der Haft in Hungerstreik getreten und wehrte sich gegen die Ausschaffung. Die Polizisten fesselten ihn am ganzen Körper. Der 29-jährige Nigerianer starb bei den Vorbereitungen des Flugs. Die Ärzte fanden später heraus, dass er an einem Herzfehler gelitten hatte.



Ich legte das Handy auf und packte in aller Eile meine Sachen zusammen. Ich steckte mein Notizheft ein, zog mir eine Jacke über und kramte die Zettel zusammen, auf denen ich mir das Wichtigste notierte hatte.

Flugnummer: KM 491.

Abflugzeit: 18 Uhr.

Vorname des Flüchtlings: Azad.



Es war bereits halb fünf, und ich zweifelte, ob ich es rechtzeitig an den Flughafen schaffen würde. Ich kannte weder die Geschichte des Flüchtlings noch sein Alter. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah. Vor allem aber wusste ich nicht, ob er sich tatsächlich in dem Flieger befand. Und was dann?

Ich prüfte den Akku meines Handys – er war zur Hälfte geladen – und fuhr die Bildschirmhelligkeit herunter. Ich war komplett unvorbereitet.

Ich stieg gerade in die S-Bahn zum Flughafen Zürich, als mein Handy erneut klingelte. Der Bruder des Flüchtlings. Er wisse nicht viel, entschuldigte er sich mit aufgeregter Stimme. Er habe nur kurz mit Azad reden können. Ich möge ihn bitte zurückrufen, sobald ich wisse, ob sich sein Bruder im Flugzeug befinde. Er selbst verständige nun Flüchtlingsorganisationen auf Malta, damit sie seinem Bruder nach der Ankunft helfen könnten.



Ein freundlicher Herr von Air Malta hatte mir am Telefon empfohlen, erst am nächsten Tag zu fliegen. Für den 18-Uhr-Flug sei es wahrscheinlich zu spät. Ich irrte durch die Flughalle und suchte einen Ticketschalter. Dort würden sie mir vielleicht noch ein Ticket verkaufen. Alle Gepäckstücke waren bereits aufgegeben, der Check-in-Schalter von Air Malta war verlassen, die Anzeigetafeln forderten die PassagierInnen von Flug KM 491 auf, sich zum Gate zu begeben. Es war Viertel nach fünf, 45 Minuten bis zum Abflug.

Wenn ich ohne Gepäck reiste, sagte der Herr am Ticketschalter, könnten sie mich vielleicht noch durchschleusen. Ich zeigte auf meine Arbeitsmappe, der Mann nickte und nahm den Hörer in die Hand: «Könnt ihr das Gate offen halten? Hier wartet noch ein Passagier. Er ist in zehn Minuten bei euch.»

Ich drängelte durch die Sicherheitsschleuse, hetzte durch die Gänge und traf gerade noch rechtzeitig am Gate ein. Ich stellte mich in die Schlange und folgte der Menschenmenge langsam durch das Gateway. Kurz bevor ich das Flugzeug betrat, klingelte schon wieder das Handy: «Ist er da?», fragte Azads Bruder. Ich sagte ihm, dass ich erst einsteige. Und ich bat ihn um ein Foto seines Bruders.

Zwei Polizisten in orangen Leuchtwesten beäugten mich kritisch. Bedeutete ihre Anwesenheit, dass sich Azad im Flugzeug befand? Oder war das bloss das übliche Sicherheitsaufgebot?

Ich streckte dem Steward mein Ticket entgegen, und er wies mir meinen Platz zu: 25D, weit hinten. Das Flugzeug war voll, TouristInnen, Geschäftsleute, Junge, Alte – wie sollte ich Azad bloss erkennen? Das versprochene Foto traf nicht ein.

Ich zwängte mich an den PassagierInnen vorbei und suchte die Sitzreihen ab. Aber da war nichts Auffälliges. Erst als ich meinen Platz gefunden hatte und ein letztes Mal die PassagierInnen um mich herum prüfte, entdeckte ich drei Reihen hinter mir einen schmächtigen Mann mit kurzen Haaren. Er war jung und steckte in einem schwarzen T-Shirt und einem grauen Jäckchen. Neben ihm sassen zwei kräftige Typen, einer mit Halbglatze und Ohrring, der andere mit olivgrüner Army-Jacke. Sie sassen merkwürdig zueinandergewandt, als wollten sie den Mann in der Mitte abschirmen. Sie unterhielten sich über den schmächtigen Mann hinweg. Er erwiderte meinen Blick, begriff aber nicht, warum ich ihn anstarrte.

«Tu t’appelles Azad?», fragte ich ihn unvermittelt. Er schüttelte unauffällig den Kopf. Seine Begleiter bemerkten es trotzdem. Ich fühlte mich ertappt und drehte mich weg. War das Azad? War er der Flüchtling, der ausgeschafft werden sollte? Aber warum leugnete er seinen Namen? Handelte es sich überhaupt um eine Ausschaffung? Oder war das alles nur ein grosses Missverständnis?

Ein älterer Herr bemerkte meine Unruhe und nickte mir freundlich zu. Dann verschwand sein Gesicht wieder hinter der «Times of Malta». Auch den übrigen PassagierInnen war mein Verhalten aufgefallen. Auf der anderen Gangseite sass ein bulliger Kerl, der absurderweise eine Napoleon-Uniform trug. Mit breitem Schnauz und grossem Zweispitz sah er aus, als reise er an eine Kostümparty. Er wunderte sich, warum ich mich ständig nach hinten drehte, und liess mich nicht mehr aus den Augen.

Ich schrieb Azads Bruder, er solle mir endlich das Foto schicken. Es war 17.41 Uhr, neunzehn Minuten bis zum Abflug.



Ich stand auf und schlich Richtung Toilette. Vorsichtig warf ich einen Blick zur Seite, und – tatsächlich – der Mann in der Mitte war gefesselt. Ein braunes Lederband umschloss seine Handgelenke, darüber zwei metallene Ringe, eine Kette. Vielleicht trug er auch Fussfesseln, aber das konnte ich nicht erkennen. Die Begleiter waren offensichtlich Polizisten. Es blieben noch zehn Minuten bis zum Abflug.

Ich malte mir aus, was sich nun abspielen würde: Der Kabinenchef prüft alle Gurte. Azad erhebt sich und protestiert lautstark gegen seine Ausschaffung. Das Flugzeug darf das Terminal nicht verlassen, solange nicht alle angegurtet auf ihren Plätzen sitzen. Dann waren verschiedene Szenarien denkbar: Es gibt Radau. Und das Kabinenpersonal weigert sich, unter diesen Umständen zu fliegen.

Oder die PassagierInnen stören sich daran, dass ihr Ferienflug als Gefangenentransport missbraucht wird. Sie verlangen, dass der Häftling das Flugzeug verlässt, oder solidarisieren sich sogar mit ihm. Im Internet finden sich Videos davon: PassagierInnen erheben sich, rufen Parolen, klatschen, weigern sich, Platz zu nehmen, bis die Ausschaffung abgebrochen wird.

Oder aber die Polizisten reagieren schnell: Sie drücken den Flüchtling in den Stuhl und machen ihm klar, dass es jetzt zu spät ist.

Auf jeden Fall hielt ich mein Handy bereit, um die Szene zu filmen.

Ich wartete darauf, dass endlich jemand die Gurte kontrollierte. Dass ein Steward in den Gang stand und das Sicherheitsprozedere erklärte. Dass der Flüchtling Alarm schlug.



Kalte Luft strömte aus der Decke, das Personal dimmte das Licht in der Kabine, die Turbinen liefen an, das Flugzeug vibrierte.

Gleich geht es los, dachte ich. Gleich würden wir auf die Piste rollen und abheben. Ich schwitzte. Und tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf: Warum geschieht nichts? Weshalb wehrt sich der Flüchtling nicht? Fliege ich jetzt nach Malta? Und dann? Was soll ich dort? Finde ich Azad jemals wieder? Warum zum Teufel steht der nicht auf?

Hätte ich weiter warten sollen? Ich hätte das Bordmagazin aus der Lehne gekramt und darin geblättert. Durch das winzige Fenster hätte ich die Lichter Zürichs schrumpfen sehen, bis die Nacht sie vollends verschluckte. Ich hätte ein Gespräch mit meinem Nachbarn angezettelt, ihn gefragt, wie er darüber denke, dass nur drei Reihen hinter uns ein Mann gefesselt war und gegen seinen Willen auf eine Insel im Mittelmeer verfrachtet wurde. Ich hätte ihm von meiner Arbeit erzählt und mein Notizheft gefüllt …

Stattdessen löste ich meinen Gurt, packte Handy und Tasche – und schoss hoch. Ich machte einen Schritt auf die Polizisten zu. Jetzt würde der Flüchtling sicher gleich aufstehen. Doch er reagierte nicht.

«Was ist los?», fragte ein Steward auf Englisch, der sofort herbeigeeilt war. «Fühlen Sie sich nicht wohl?»



«Nein», antwortete ich. «Da sitzt ein gefesselter Mann. Was soll das?»

«English, please.» Ich wiederholte den Satz, auf Englisch und lauter als eben. Ich wollte, dass man mich hörte. Dass die PassagierInnen aufmerksam wurden auf die Situation. Vielleicht würde ja noch jemand aufstehen. Unruhe machte sich breit, die Leute tuschelten, drehten sich nach mir um. Ein zweiter Flugbegleiter näherte sich. Ich spürte einen festen Griff um meinen Ellbogen. «Setzen Sie sich wieder hin!» Ich löste meinen Arm und stellte weiter Fragen: «Warum trägt der Mann Handschellen? Was geht hier vor sich?»

Ein Steward herrschte mich an: «Das geht Sie nichts an.» Dann versuchte er, mich zu beruhigen. Gelassen und geübt, als spräche er von herunterfallenden Atemmasken, erklärte er mir, dass das ein normales Prozedere sei. «He is being deported. Er war illegal in der Schweiz. Er muss zurück nach Malta.»

Die Leute um mich herum sahen mich fragend an. Einige waren offensichtlich verärgert. Andere vergruben sich wieder hinter ihren Laptops und Magazinen. Die Polizisten flüsterten sich etwas zu. Ich fragte den Mann, der mich bisher nur mit grossen Augen angesehen hatte: «Stimmt das? Willst du nach Malta?» Zögerlich, als beginge er damit eine Todsünde, schüttelte er den Kopf und sagte leise: «No.»



Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, jetzt werde er sich gegen seine Ausschaffung wehren. Aber er muckte nicht auf, er erhob sich nicht, schrie nicht. Er sass einfach nur da und schwieg, als wäre das Urteil über ihn längst gefällt.

Ich wandte mich an die PassagierInnen, rief, dass hier ein Mann gefesselt sei und deportiert werde. Ich forderte sie auf: Verlassen Sie Ihre Plätze! Auf Englisch und auf Deutsch. «Wenn Sie aufstehen», rief ich, «kann der Flieger nicht starten, der Mann nicht ausgeschafft werden.» Meine Stimme zitterte.

In meiner Erinnerung dauerte die verbale Auseinandersetzung mit dem Kabinenpersonal eine halbe Ewigkeit. Aber meine Handykamera, die in dieser Zeit mitlief, sagt etwas anderes: Gerade mal knappe fünf Minuten versuchte ich, die Ausschaffung dieses Mannes, den ich nicht kannte und der sich nicht wehrte, zu verhindern. Immer wieder sagte ich, dass ich mich mit dieser Situation nicht abfinden wollte. Dass mir das unangenehm war. «I am not comfortable with this.» Die Antwort war immer dieselbe: Ich solle mich hinsetzen – oder den Flieger verlassen. Alles habe seine Richtigkeit. Normales Prozedere. «Machen Sie sich keine Gedanken.» Ich solle bloss bitte nicht mit den Passagieren reden.

Diese wurden immer unruhiger, die Stimmung drohte zu kippen. Aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der Mann im Napoleon-Kostüm fürchtete offenbar, dass sich der Flug verspäten könnte. Er schnauzte mich an, ich solle endlich die Klappe halten: «Warum kommen Sie erst jetzt damit? Das hätten Sie doch früher sagen können.» Ärger lag in der Luft. Irgendwo hörte ich ein «Hau ab!». Und dann: Buhrufe.

Mir war schwindlig, und meine Bewegungen wurden fahrig. Immer wieder fragte mich der Flugbegleiter, ob ich das Flugzeug verlassen wollte. Aber ich sah nicht ein, warum ausgerechnet ich nachgeben, warum nicht der Mann in Handschellen von Bord gehen sollte.

Die Polizisten fummelten am Flüchtling herum. Dann sagte der Steward: «Sehen Sie? Die Handschellen sind weg. Setzen Sie sich bitte wieder hin.»

Ich wusste nicht, was ich weiter sagen oder tun sollte. Ich stotterte. Der Lärm der Turbinen verschluckte meine Einwände. Das Personal bugsierte mich langsam Richtung Pilotenkabine. Sie wollten nicht weiter vor vollem Flugzeug diskutieren. Ich rief noch einmal in den Flieger: «Haben Sie kein Problem damit, dass dieser Mann in Handschellen gefesselt ausgeschafft wird? Niemand?»

Die einzige Antwort war ein Mittelfinger, den mir jemand ins Gesicht streckte.

«Wo ist das Problem?», fragte der Steward, während er mich sanft nach vorne schob. «There is no problem. You are creating a problem.» – Es gibt kein Problem. Sie sind das Problem.



Der Satz sass. Augenblicklich wurde mir klar, dass ich komplett aus der Rolle gefallen war, dass ich sämtliche Grenzen überschritten hatte. Ich war kein Journalist mehr, der eine Ausschaffung dokumentierte. Ich war nicht mal ein Aktivist, der eine Ausschaffung verhinderte. In diesem Moment war ich bloss ein Querulant, ein ärgerlicher Zwischenfall, der den planmässigen Abflug unnötig verspätete, eine Randnotiz im Logbuch des Piloten.

Ich verstummte und liess mich, begleitet von Applaus und Buhrufen, Richtung Ausgang führen: Applaus für das Personal, Buhrufe für mich.

Der Pilot trat aus seiner Kabine und erklärte mir die Sache nochmals. Aber ich hörte nicht hin. Widerstandslos händigte ich dem Steward mein Ticket aus. Er fragte nach allfälligem Gepäck, prüfte meinen Namen und strich mich von der Passagierliste.

Bevor der Vorhang zur Kabine gezogen wurde, warf ich einen letzten Blick zurück auf die klatschende Menge. Ein Mann hielt noch immer den Arm in die Luft und zeigte mir den Mittelfinger.

Diese Episode spielte sich vergangenen Herbst ab. Nachdem der 
Autor den Flughafen verlassen hatte, erhielt er ein E-Mail von Azads Bruder mit einem Foto. Darauf war ein anderer Mann als jener im Flugzeug abgebildet. Azad hatte sich bereits im Gefängnis geweigert, seine Zelle zu verlassen.

Zwei Wochen später besuchte der Autor Azad im Gefängnis. Tags darauf stürmten vier vermummte Polizisten in die Zelle, überwältigten und fesselten ihn und fuhren mit ihm zum Flughafen Zürich. Er klammerte sich an die Treppe zum Flugzeug und wehrte sich lauthals gegen die Ausschaffung, bis der Pilot sich weigerte, Azad mitzunehmen.

Da die Schweiz Azad nicht in der nötigen Frist nach Malta ausschaffen konnte, muss sie sein Asylgesuch nun materiell prüfen. Seinen Namen, sein Bild und die Hintergründe seiner Fluchtgeschichte, die dem Autor bekannt sind, will Azad zurzeit nicht veröffentlicht sehen.

Vorabtrailer zu diesem Artikel

Ausschaffungen : Bis zur Ganzkörperfesselung

Bei Ausschaffungen unterscheidet man grundsätzlich vier Stufen: Wenn abgewiesene AsylbewerberInnen nicht freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren, werden sie unter Zwang ausgeschafft. PolizistInnen begleiten die Flüchtlinge auf ein gewöhnliches Linienflugzeug. Die Rückreise erfolgt ohne Fesselung und ohne Polizeibegleitung (Level 1).

Ist das nicht möglich, wird die Person in Handschellen und von zwei PolizistInnen begleitet in einem Linienflugzeug zurückgeflogen (Level 2, vgl. Haupttext weiter oben).

Auf Level 3 werden die Personen an Händen, Füssen, Knien und Oberarmen gefesselt und von PolizistInnen begleitet in einem Linienflugzeug (hinter einem Vorhang) ausgeflogen. Weil sich gewöhnliche PassagierInnen daran störten, sind Ausschaffungen auf Level 3 selten.

Die schärfste Stufe ist die sogenannte Level-4-Ausschaffung: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) organisiert einen Sonderflug, auf dem keine regulären PassagierInnen anwesend sind, die Auszuschaffenden werden gefesselt vom Ausschaffungsgefängnis am Flughafen auf die Chartermaschinen gebracht. Im Flugzeug werden sie von PolizistInnen begleitet. Ihre Fesselung wird unter Umständen während des Flugs gelöst.

In der Theorie dürfen abgewiesene Asylsuchende erst auf Level 4 ausgeschafft werden, wenn Level 1 und 2 gescheitert sind. Die Praxis sieht freilich etwas anders aus: Ausschaffungshäftlinge werden aufgefordert, selbstständig zurückzukehren. Weigern sie sich, gelten sie bei der Polizei als «renitent» und werden auf Level 4 ausgeschafft.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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