Franco «Bifo» Berardi: «Wir halten Wahlen ab, so wie manche Urvölker Regentänze aufführten»
In Bologna wurden einst Hauswände mit seinem Übernamen vollgesprayt. Jetzt ist der marxistische Denker Franco «Bifo» Berardi erstmals auf Deutsch zu entdecken. Die Politik sieht er am Ende, aber seine polemische Kraft ist es noch lange nicht.
Er mache keine Politik mehr, sagt er. Dabei lässt er doch keine Gelegenheit aus, Stellung zu politischen Ereignissen zu nehmen, seine Zuhörer zu provozieren und die Politikerinnen zu attackieren. Auf Kongressen, in Podiumsdiskussionen, in unzähligen Videos im Internet. Auch kreist sein philosophischer Diskurs nach wie vor um die alten Fragen: Arbeit, Ökonomie, das Leiden am Kapitalismus und wie man diesen zu Fall bringt. Was also soll das heissen, keine Politik mehr?
Klar, sagt Franco «Bifo» Berardi, ein Aktivist sei er immer noch – aber kein politischer. Denn die Politik, die gebe es nicht mehr. Politik sei für ihn die Fähigkeit des menschlichen Willens, die gesellschaftlichen und technologischen Prozesse zu lenken – und diese Fähigkeit sei längst zugrunde gegangen. Die Demokratie? Eine Fiktion. «In einer Zeit, in der das Finanzwesen alles entscheidet, sprechen unsere Politiker nur aus Heuchelei noch von Demokratie», sagt Berardi. «Die Institutionen der Demokratie sind übrig geblieben, ihre Rituale. Wir halten Wahlen ab, so wie manche Urvölker Regentänze aufführten. Hatten ihre Tänze Einfluss auf den Gang der Wolken?»
Kein ganzes Schaufenster mehr
Die Politik mag am Ende sein, Berardis polemische Kraft und seine Ironie sind es offenbar nicht. Zur Person der Zeitgeschichte wurde er einst als Aktivist der Autonomia operaia, der ausserparlamentarischen linken Bewegung, die Antonio Negri 1973 ins Leben rief. Der Beiname Bifo war ursprünglich nur ein Pseudonym, mit dem er als Jugendlicher Bilder signierte. Aber als Berardi 1976 der Mitgliedschaft in den Roten Brigaden beschuldigt und verhaftet wurde, sprayten seine GenossInnen die Hauswände in Bologna mit der Inschrift «Bifo Libero» (Bifo frei) voll. Der Vorwurf erwies sich als haltlos, nach einem Monat kam er frei. Den Übernamen ist er nicht mehr losgeworden.
Wie viele seiner Generation war der 1948 geborene Bifo als Vierzehnjähriger der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) beigetreten – und drei Jahre später ausgeschlossen worden. In jenen Jahren war das nicht ungewöhnlich: Die jüngere Generation der KommunistInnen stand damals im Clinch mit der Partei. Sie war weder mit der Sowjettreue der PCI einverstanden noch mit ihrer Verbürgerlichung und Anbiederung an die Konservativen. Das trieb sie in die Gruppen der ausserparlamentarischen Opposition, die die italienische 68er-Bewegung ausmachten.
1967, an der Universität von Bologna, lernte Bifo Antonio Negri kennen und mit ihm jene Gruppe marxistischer Intellektueller, die sich im Dunstkreis der Zeitschriften «Quaderni rossi», «Classe operaia» und «Contropiano» bewegten. Die Arbeiterklasse sei die treibende Kraft der Geschichte und der Motor der Revolution, schrieben diese OperaistInnen (von «operaio»: Arbeiter), und sie brauche weder Parteien noch Gewerkschaften, um den Kapitalismus in die Krise zu stürzen. Man verteilte Flugblätter in Fabriken und Arbeitervierteln und unterstützte die FabrikarbeiterInnen, als sie im «heissen Herbst» 1969 in den Streik traten.
Bifo war dabei, als aus diesem Kreis die Organisation Potere operaio (Arbeitermacht) hervorging, die sich als intellektuelle Avantgarde der Bewegung verstand. 1976 gründete er in Bologna das freie Radio Alice, mit einem Programm, das er heute als dadaistischen «Fluss von Poesie, Provokation und Information» beschreibt. Als Sprachrohr der Arbeiter- und Studentenbewegung zog Radio Alice freilich auch die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich. 1977, nach der Ermordung eines Studenten durch die Polizei, rief das Radio die HörerInnen dazu auf, als Antwort auf den Mord alle Glasflächen im öffentlichen Raum zu zerstören.
Am nächsten Tag war in Bologna kein Schaufenster mehr ganz, die Behörden reagierten mit rabiater Repression. Zwanzig RedaktorInnen von Radio Alice und rund 300 StudentInnen wurden verhaftet; die Polizei räumte die Universität mit Kettenpanzern. Berardi konnte den BeamtInnen entkommen, weil er schon Tage zuvor untergetaucht war. Er flüchtete nach Paris und initiierte eine Kampagne zur Freilassung seiner GefährtInnen.
Überforderung der Psyche
Sein Aktivismus in der Autonomia war damit zu Ende. Aber die Leitgedanken der Bewegung seien für ihn immer noch gültig, sagt er. Was er etwa 1970 in seinem ersten Buch, «Contro il lavoro» (Gegen die Arbeit), geschrieben habe, würde er heute noch unterschreiben. Wie die Theorie der Operaisten im Allgemeinen war die Schrift massgeblich von Karl Marx’ «Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie» beeinflusst, insbesondere dem «Fragment über die Maschinen». Infolge des technologischen Fortschritts, hatte Marx vorausgesagt, würden die Maschinen immer mehr Aufgaben des Arbeiters übernehmen, bis die menschliche Arbeit überflüssig werde. Dies berge die Chance, «die Arbeitszeit für die gesamte Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren und so die Zeit aller frei für ihre eigene Entwicklung zu machen». Schon Marx ahnte, dass sich der Kapitalismus gegen eine solche Umverteilung von Arbeitszeit und Lohn wehren würde. In «Contro il lavoro» zog Bifo die Schlüsse daraus: Die Arbeiterbewegung müsse vor allem um die Reduktion der Arbeitszeit kämpfen. Darin sieht er heute mehr denn je den Ausweg aus unseren wirtschaftlichen und sozialen Problemen.
Ein kulturelles System
Seit er in Paris mit Gilles Deleuze und Félix Guattari arbeitete, versteht Bifo den Kapitalismus nicht mehr nur als Wirtschaftsordnung, sondern als kulturelles System mit psychologischen Voraussetzungen und Auswirkungen. Das zeigt sich auch in seinen neusten Büchern, in denen er der Frage nachgeht, wie die digitale Technologie unser Leben und unsere Arbeit verändert. Die Beschleunigung der Kommunikation überfordere unsere Psyche, schreibt Berardi etwa in seinem Essay «Der Aufstand», mit dem er jetzt erstmals auf Deutsch zu entdecken ist. Denn die menschliche Psyche sei nicht in der Lage, all die Informationen, mit denen sie bombardiert werde, zu verarbeiten. Aber genau das werde von uns verlangt, wenn wir im Zeitalter des deregulierten Arbeitsmarkts im Wettbewerb mit allen anderen bestehen wollen.
Der heutige «Info-Arbeiter», von Bifo auch «Kognitarier» genannt, produziere keine materiellen Güter mehr, sondern nur noch Fragmente von Wissen. Der sogenannte Arbeitgeber kaufe nicht mehr die ganze Arbeitszeit seiner Untergebenen, sondern nur Bruchstücke von deren kognitiver Leistung. So sei die prekäre Organisation der Arbeit ein existenzieller Zustand geworden. Die Folgen seien psychische Störungen, Depression und eine eklatante Zunahme von Selbstmorden. Die Prekarisierung der Arbeit und die Entsolidarisierung der Gesellschaft macht Bifo auch für die Errichtung der Finanzdiktatur mitverantwortlich, in der wir uns aktuell befinden.
Den Finanzkapitalismus – ein System, in dem sich Geld allein durch Geldzirkulation vermehrt, ohne über den Umweg der Produktion gehen zu müssen – deutet Berardi als Höhepunkt eines Abstraktionsprozesses, der alle Bereiche des menschlichen Lebens erfasst hat. Totalitär sei diese neue Form von Kapitalismus aber erst dadurch geworden, dass sich die Finanzwirtschaft die Informatik einverleibt habe und dadurch den zwischenmenschlichen Austausch durch technolinguistische Automatismen habe ersetzen können. Kommunikation sei in eine Kette von Zahlen und Algorithmen verwandelt worden: Ökonomische Verhandlungen, sagt Bifo, fänden nicht mehr zwischen Menschen, sondern zwischen Maschinen statt – mit ganz konkreten Folgen. «Wenn Yanis Varoufakis sich bei der Europäischen Zentralbank vorstellte und sagte: ‹In Griechenland verhungern die Menschen, tausend sind obdachlos geworden›, gab es niemanden, der ihm zuhörte. Man sagte ihm, er solle mit dem Computer sprechen. Und der Computer sagte ihm: ‹Mich interessiert nicht, was in Griechenland passiert. Du musst zahlen.›» Die Eurogruppe tue in Wahrheit nichts anderes, als die Befehle der Finanzwirtschaft auszuführen.
Von Verzweiflung, Tod und Krieg
Wer wollte ihm in diesem Punkt widersprechen? Schwerer fällt es, Berardis Vertrauen in die erlösende Kraft der Poesie zu teilen. In «Der Aufstand» schreibt er der Poesie die Fähigkeit zu, Sensibilität, Empathie und Solidarität zu reaktivieren und dadurch den gesellschaftlichen Körper wiederzubeleben – für ihn die Voraussetzung einer Befreiung aus den Fängen des Finanzkapitalismus. Nach der jüngsten Volte der Eurokrise ist allerdings auch Bifo pessimistischer geworden. «Im Buch spreche ich von Poesie. Vielleicht sollte ich von Verzweiflung, Tod und Krieg sprechen: Das steht in unserer Zukunft.»
Über Italien macht er sich schon längst keine Illusionen mehr. Nach seiner Rückkehr eröffnete Berardi ein selbstverwaltetes Kulturzentrum, in dem Seminare über psychische Leiden und Digitalisierung gehalten wurden, 2001 initiierte er dann ein Medienprojekt namens Telestreet: ein basisdemokratisches Fernsehen, mit dem er Silvio Berlusconis Mediaset-Monopol brechen wollte. Zahlenmässig war das Projekt durchaus ein Erfolg: In einem halben Jahr entstanden in Italien 180 entsprechende Mini-TV-Sender. Der kulturelle Ertrag des Experiments sei allerdings mager gewesen, bedauert er: «Zwanzig Jahre Berlusconi haben die italienische Kultur zu Grabe getragen. Im Berlusconismus ist eine ganze Generation in der absoluten Verachtung von Bildung und Kultur aufgewachsen.» Und ein Land ohne Kultur sei ein verlorenes Land.
Franco Berardi: Der Aufstand. Über Poesie und Finanzwirtschaft. Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Matthes & Seitz Verlag. Berlin 2015. 187 Seiten. 32 Franken