Flüchtlinge – wie weiter?: Pragmatismus statt Dublin
Die bisherige Logik der EU ist die: Dass täglich Tausende Flüchtlinge die Aussengrenzen passieren, ist ein Ausnahmezustand. Zu dieser Annahme passt die Rhetorik der Staatschefs. Von einer «aussergewöhnlichen Situation» ist die Rede, von «Notfällen». Entsprechend fällt die bisherige Reaktion aus: militärisch. Die Grenzschutzagentur Frontex schickt Kriegsschiffe, der Rechtspopulist Viktor Orban lässt 175 Kilometer Stacheldraht ausrollen. Auch die Beitrittskandidaten helfen kräftig mit: Die mazedonische Polizei blockiert die Grenzen und attackiert Geflüchtete mit Tränengas und Prügeln.
In ganz Europa reagiert die Politik mit Notfallplänen: ineffektiven Abschottungsmassnahmen mit noch mehr Toten im Mittelmeer und menschenunwürdigen Zuständen an den Aussengrenzen als Folge. Sie verschlingen Unmengen Geld, das sinnvoller eingesetzt werden könnte. In Brüssel, Berlin und auch in Bern macht man immer wieder das Gleiche – und hofft auf ein neues Ergebnis. Gestern Lampedusa, heute Calais, morgen ein anderer exponierter Ort: An jedem neuen «Brennpunkt» manifestiert sich das Fehlen einer Flüchtlingspolitik. Das Dublin-Abkommen ist so klar gescheitert, dass man sich fragt, warum es auf dem Papier überhaupt noch besteht. Deutschland hat dies nun bemerkt und alle Dublin-Verfahren für SyrerInnen ausgesetzt – die Schweiz sollte folgen.
Dabei ist die Entwicklung alles andere als überraschend. Solange in Syrien Bomben fallen und die Länder des westlichen Balkans keine Perspektiven bieten, die Ausbeutung der Rohstoffe in Afrika weitergeht und der Waffenhandel floriert, werden Flucht und Migration nicht bloss ein vorübergehendes Phänomen sein. Keine Bewegung, die sich schon bald wieder erledigt hat. Deutschland etwa rechnet für dieses Jahr mit bis zu 800 000 Asylanträgen. Wer sagt, dass nächstes Jahr nicht genauso viele, womöglich mehr, kommen? Die Schweiz verzeichnet zwar sinkende Zahlen – wohl aber vor allem, weil sich die Fluchtrouten verschoben haben.
Die Diskussionen um Taschengeldkürzungen und weitere «abschreckende» Massnahmen gehen am Thema vorbei. Mag die künstliche Unterscheidung zwischen Kriegsflüchtlingen und ArbeitsmigrantInnen auch erhalten bleiben: Für beide Gruppen sind pragmatische politische Lösungen gefragt.
Was aber wäre eine realistische Flüchtlingspolitik, auf nationaler wie europäischer Ebene? Im Gespräch sind gemeinsame Aufnahme- und Entscheidungszentren an den Aussengrenzen. Wenn die EU-Länder es nicht einmal schaffen, einige Tausend Flüchtlinge fair auf die Länder zu verteilen, wie kann garantiert werden, dass sie nicht unnötig lange in solchen Zentren aufgehalten werden? Auch die Forderung nach einheitlichen Asylstandards lässt sich in naher Zukunft nicht umsetzen. Betrachtet man die ungleiche Wirtschaftskraft, ist klar: Innerhalb Europas werden reiche Länder weiterhin im Verhältnis mehr Flüchtlinge aufnehmen. Sie verfügen ja auch über die Mittel, ihre Verantwortung wahrzunehmen.
Auch auf nationaler Ebene braucht es pragmatische und unkonventionelle Antworten: mehr Personal im Verfahren wie in der Betreuung, beschleunigte Asylverfahren, niedrigere Hürden, etwa bei Arbeitsbewilligungen, und gezielte Integrationsmassnahmen. Und wo immer möglich: Legalisierungen. Denn entgegen den Wünschen rechter RealitätsverweigerInnen werden die meisten Neuankömmlinge bleiben. Eine solch unkonventionelle Politik setzt auch auf die Zivilgesellschaft. Es gibt zum Glück nicht nur den rassistischen Mob auf der Strasse und im Netz, bereits heute engagieren sich Tausende für Flüchtlinge. Und selbstverständlich müssen auch die Flüchtlinge mitreden können: Flüchtlingshilfe, organisiert mit ihnen, nicht über ihre Köpfe hinweg.
Parallel dazu muss jedoch auch ein System entstehen, das die Zuwanderung von ausserhalb der EU legalisiert. Länder wie Deutschland oder die Schweiz sind schon seit Jahren Einwanderungsländer. Eine Einwanderungspolitik fehlt noch immer. Sie beginnt mit der Einsicht: Flüchtlinge und MigrantInnen sind nicht der Notfall. Sie sind der Normalfall.