Medientagebuch aus China: Keine zerrissenen Teufel
Wolf Kantelhardt über ein mediales Blackout in China
«Ein junger Mann in Schanghai wurde wegen In-Umlauf-Bringen des Gerüchts, er sei wegen In-Umlauf-Bringen eines Gerüchts für fünfzehn Tage in Haft genommen worden, für fünfzehn Tage in Haft genommen; die Kunstausstellung zum 70. Jahrestag des Siegs über den Faschismus im Chinesischen Kunstmuseum wird wegen des 70. Jahrestags des Siegs über den Faschismus vorübergehend geschlossen …» – das ist keine offizielle Nachricht, nur eine Botschaft auf dem chinesischen Kommunikationsportal «WeChat». Aber zumindest die Information über das Kunstmuseum stimmt. Mit nur drei Kilometern Entfernung liegt es zu dicht an der Strasse des Langen Friedens in Beijing, auf der am 3. September die Militärparade zum «70. Jahrestag des Siegs des chinesischen Volks im antijapanischen Widerstandskampf sowie des weltweiten Siegs im Kampf gegen den Faschismus» – das ist die offizielle Bezeichnung – stattfindet.
Noch ohne die «70» hat diese Bezeichnung 21 Schriftzeichen. Sehr lang für einen Feiertag. Der «Staatsgründungstag» (1. Oktober) hat nur drei, das Frühlingsfest sogar nur zwei Zeichen, und die meisten chinesischen Feiertage werden überhaupt nur mit Zahlen bezeichnet: «3 8» der Internationale Frauentag, «5 4» der Tag der 4.-Mai-Bewegung, «5 1» der Tag der Arbeit. Doch die zuvor noch nie begangene Feier des Siegs über Japan und den Faschismus könnte für die Beijinger Bevölkerung auch sonst recht lang werden. Der gesamte Innenstadtbereich und alle grösseren Parks sind gesperrt, die wichtigsten Einkaufzentren und Fussgängerzonen schliessen, mehrere U-Bahn-Linien werden im Innenstadtbereich stillgelegt. Die «Staatliche Verwaltungsbehörde für Presse, Veröffentlichungen, Radio, Film und Fernsehen» (SARFT) hat angeordnet, für fünf Tage alle Unterhaltungsprogramme und Fernsehserien einzustellen. «Die mit dem Jahrestag in Zusammenhang stehenden Programme sind aber recht vielfältig», berichtet die «Volkszeitung». Und besonders tröstlich: «Extreme Szenen wie Teufel-mit-den-Händen-zerreissen werden vermieden.» Letzteres ist eine Anspielung auf die arg verspottete 35. Folge der pseudohistorischen Fernsehserie «Der antijapanische Wunderkämpfer», in der ein Chinese einen Japaner im Eifer des Gefechts mit blossen Händen der Länge nach halbierte (inklusive Kopf).
Normalerweise könnten die FersehzuschauerInnen nun auf den Sportkanal CCTV 5 ausweichen. Am 3. September wird es aber auch dort langweilig. Ab 4 Uhr morgens Wiederholungen, etwa jene eines Angelwettbewerbs auf dem Okeechobee-See in Florida von 2013. Um 6 Uhr dann Morgengymnastik, um 6.30 Uhr Sportnachrichten, und von 7 bis 12 Uhr ist auch hier – wie auf allen Kanälen – die Militärparade zu sehen. In diesen fünf Stunden werden die NachrichtensprecherInnen viel Zeit haben, nicht nur um die offizielle Gedenktagsbezeichnung mit ihren 21 Schriftzeichen zu wiederholen, sondern auch, um aufzuzählen, was bereits seit Tagen als «offizielle Nachrichten» auf «WeChat» zu lesen ist: dass 22 Strassenreinigungsfahrzeuge die Strassen rund um den Platz des Himmlischen Friedens absprühen, damit hier weniger als zwei Gramm Staub pro Quadratmeter liegen. Und dass für die SoldatInnen 129 Toilettenfahrzeuge mit 2390 Plätzen aufgestellt wurden – mehr als viermal so viel wie bei der grossen Parade zum sechzigjährigen Bestehen der Volksrepublik.
Ach ja, und was ist nun mit dem jungen Mann aus Schanghai passiert?
Wolf Kantelhardt schreibt für die WOZ aus Beijing.