Praktische Solidarität: Ohne sie geht nichts

Nr. 39 –

Seit Wien zur Drehscheibe der Migrationsströme geworden ist, stehen Hunderte ehrenamtliche HelferInnen an den Bahnhöfen und versorgen ankommende Flüchtlinge. Viele haben selbst Migrationshintergrund. Ihre Arbeit ist unentbehrlich geworden.

Europas Flüchtlingspolitik wird derzeit nicht in Brüssel oder Berlin gemacht, sondern in einem zugestellten, fensterlosen Raum auf der Ostseite des Wiener Hauptbahnhofs, in dem es an diesem heissen Herbstnachmittag ein wenig nach alten Socken riecht.

«Fahrradgarage» steht über der Eingangstür, aber Fahrräder stehen hier längst nicht mehr herum. Sie mussten Tischen weichen, auf denen sich Computer an Computer reiht, einem Regal, das bis oben hin mit Rucksäcken und Taschen gefüllt ist. Ein Dutzend Männer und Frauen in gelben Leuchtwesten, auf denen Name und Funktion stehen, diskutieren, rufen quer durch den Raum oder starren still in einen Bildschirm, als könnten sie dort der allgemeinen Hektik entfliehen. Das ständige Kommen und Gehen in dieser Schaltzentrale der Migration erinnert an einen Bienenstock: ein chaotisches Gewusel, das sich erst mit der Zeit als wohlgeordnetes Durcheinander entpuppt.

Bald ist Schichtwechsel, und Mona Azz ist zu spät dran. Aber nach Plan funktioniert die letzten Tage eh wenig. Ein kurzer Rundgang noch, um sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie die nächste Schicht zusammentrommelt und erklärt, was es in der Nacht zu tun gibt.

Sie betritt die Bahnhofshalle, links sitzt eine Gruppe Reisender am Boden und wartet, bis ihre Handys aufgeladen sind, rechts liegen auf einem Tisch Hygieneprodukte: Rasierer, Pflaster, Zahnbürsten, Deos. Sie geht vorbei an den Essensständen, wo es nach Bohnensuppe und frischem Falafel riecht, vorbei an zwei AnwältInnen, die gerade die Dokumente einer Flüchtlingsfamilie aus einer Plastikfolie ziehen, vorbei an der mit Matratzen ausgelegten Spielecke, in der eine Horde Kinder mit Bällen spielen.

Gestern EinwanderIn, heute HelferIn

Mona Azz war gerade auf der Rückreise aus Marokko, als sie die Meldung im Radio hörte. Sie hatte die Sommerferien im Land ihrer Familie verbracht, und aus dem Lautsprecher tönte die Nachricht, dass 71 Menschen im Kühlraum eines Lastwagens auf der österreichischen Autobahn erstickt waren. Das war Ende August, und seither gab es nur wenige Tage, an denen die 22-jährige Wirtschaftsrechtsstudentin nicht an den Wiener Bahnhöfen stand, um zu helfen: anfangs am Westbahnhof, dann, nachdem die Caritas dort übernommen hatte, am Hauptbahnhof, der mittlerweile zur internationalen Drehscheibe der Flüchtlinge geworden ist.

Mona Azz, Flüchtlingshelferin.

#Trainofhope war vor wenigen Wochen nur ein Hashtag in den Social Media, über den Privatpersonen meldeten, was am Bahnhof benötigt wurde, um die Flüchtlinge zu versorgen. Mittlerweile ist daraus eine Organisation entstanden mit einem Kernteam aus etwa vierzig Personen und vielen Hundert freiwilligen HelferInnen, die sich meist für ein paar Stunden anmelden und oft Tage bleiben. Ein Verein ist in Gründung. Privatpersonen und Organisationen rufen an, bieten Schlafplätze, Esswaren, Kleider. Über Social Media kommunizieren die HelferInnen, woran es gerade mangelt: Weissbrot, Obst, Klebeband, Kühlschränke, Kinderwagen. Niemand rechnet mit einem schnellen Ende des Migrationsstroms. Die HelferInnen gehen davon aus, dass sie hier noch Wochen oder Monate stehen werden.

Kaum ein Ort in Europa ist so stark von der Völkerwanderung betroffen wie Wien. Rund 35 000 Schutzsuchende sind allein in den ersten zwei Septemberwochen am Wiener Hauptbahnhof versorgt worden. In den ersten Tagen des Monats landeten hier jeden Tag rund 1000 Reisende. Anfang letzter Woche, als Ungarn die MigrantInnen zu Hunderten in Bussen an die österreichische Grenze fuhr, die Gesetze verschärfte und den Grenzzaun zu Serbien hochzog, kamen an einem Tag über 5000 Menschen an.

Die HelferInnen vom Wiener Hauptbahnhof heissen Julian, Martina oder Markus. Aber sie heissen vor allem auch Mona, Abdullah oder Yasmina. Nichts ginge hier ohne die vielen, die sich vor Jahren selber auf den Weg gemacht haben, deren Eltern ein besseres Leben in Europa suchten, die mit zwei Sprachen und Kulturen aufgewachsen sind. Nichts funktionierte ohne die MigrantInnen, die den zukünftigen ÖsterreicherInnen beim Ankommen helfen.

Souverän ist, wer den Laden schmeisst. Und das sind zurzeit ein paar Dutzend Menschen mit Migrationshintergrund, ohne die weder die Polizei, Bahnangestellte noch ÄrztInnen ihre Arbeit machen könnten.

Es ist ein ruhiger Tag, und Mona Azz, die in Wien geborene Tochter marokkanischer Einwanderer, ist froh darum. Sie weiss, dass sich das jederzeit ändern kann. Am Abend soll ein Zug mit tausend Reisenden aus Belgrad eintreffen. Sicher ist das nicht. Falsche Gerüchte verbreiten sich so schnell wie der Sturm, der gerade über Wien aufzieht. Niemand weiss, was der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban als Nächstes plant, wann der nächste Zug eintrifft, wann die Flüchtlinge aus Kroatien und Slowenien in Österreich ankommen.

«Sind wir in Sicherheit?»

Auf dem Perron in Salzburg wartet eine Gruppe Jugendlicher mit weissen T-Shirts, auf denen sie mit Filzstiften die Sprachen aufgeschrieben haben, die sie sprechen: Arabisch, Kurdisch, Farsi. Hani ist einer von ihnen. Der 23-jährige Tunesier hatte sich vor zehn Jahren selber auf den Weg nach Europa gemacht, mit dem Boot nach Lampedusa. Er lebte in Italien, in Deutschland, in der Schweiz. In Adliswil arbeitete er in einem Altersheim. Er erhielt nie Asyl, wurde aber wegen illegalen Aufenthalts verhaftet, sass sechs Monate im Gefängnis, reiste später weiter nach Österreich und hat auch hier keine Aussichten auf einen legalen Aufenthaltsstatus.

Seit zwei Wochen verbringt er jeden Tag am Bahnhof. Von der Polizei hält sich Hani üblicherweise fern. Aber in den letzten Wochen ist nichts mehr, wie es war: Jetzt steht er am Bahnhof Schulter an Schulter mit den PolizistInnen und erklärt ihnen, was die Ankommenden fragen, übersetzt die Anweisungen der Polizei für die Reisenden.

Was in Salzburg improvisiert und ohne Struktur geschieht, ist am Wiener Hauptbahnhof wesentlich geordneter. Es gibt KoordinatorInnen für verschiedene Einheiten: Küche, Medizin, Kleiderlager, DolmetscherInnen. Es gibt einen Schichtbetrieb, der 24 Stunden aufrechterhalten wird.

Mona Azz kommt mal morgens, mal nachmittags, mal nachts – oft auch für zwei der drei Achtstundenschichten, je nachdem, wie es Arbeit und Studium erlauben. Sie holt Reisende vom Perron ab, lotst sie weiter, erklärt ihnen, wo sie duschen und schlafen können, wo die Ärzte sind, wie sie ein Ticket für die Weiterreise kaufen können. Vor allem aber geht es darum, die Ankommenden zu beruhigen. Keine Frage hat sie in den letzten Wochen öfter gehört: «Sind wir in Sicherheit?»

Viele Flüchtlinge erreichen Österreich erschöpft, verängstigt, teilweise auch verletzt. Ein freiwilliger Sanitäter am Hauptbahnhof listet die häufigsten Beschwerden der Geflüchteten auf: Unterkühlung, Blasen an den Füssen, Rückenprobleme von den langen Wanderungen mit einem Kind auf dem Arm. Er hat Fälle von Dschungelfäule gesehen, bei der sich die Fusssohle aufzulösen beginnt, weil die Füsse über Tage ohne Socken in nassen Schuhen stecken und deshalb nie trocknen. Er erzählt von jungen Männern mit Prellungen und Schürfungen an Beinen, Rücken und Schultern, weil sie in Ungarn von Rechtsextremen verprügelt und über den Asphalt geschleift wurden. Er berichtet von Geburten im Treck, von hochschwangeren Frauen, die unmittelbar nach ihrer Ankunft ins Krankenhaus gefahren werden mussten.

Auch wenn die Arbeit anstrengend ist, nervenaufreibend und die freiwilligen HelferInnen manchmal an psychische und physische Grenzen kommen – es ist erstaunlich, wie gut dieses spontan organisierte Projekt funktioniert. Das liegt nicht zuletzt an den zahlreichen erfahrenen HelferInnen: eine Frau, die zwischen zwei Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen am Hauptbahnhof aushilft, ein Mann, der seit zwei Jahrzehnten in der Katastrophenhilfe der österreichischen Armee tätig ist, ein Jugendlicher, der für die österreichische Bahn arbeitet, aber eine Woche freigenommen hat, um nun – ehrenamtlich – am Ticketschalter der Bahn Arabisch–Deutsch zu übersetzen.

Über 20 000 an einem Wochenende

Am nächsten Tag ist es wieder so weit, eine Nachricht wie aus dem Nichts: Der ORF meldet, dass 6200 Flüchtlinge am Grenzübergang Nickelsdorf angekommen seien. Über das Wochenende werden insgesamt über 20 000 Flüchtlinge österreichischen Boden betreten. Wieder fahren Dutzende Privatpersonen aus Wien mit ihren Autos an die Grenze, so wie sie es in diesen Tagen oft tun. Sie holen die Reisenden ab und bringen sie an den Hauptbahnhof. Dann beginnt die Arbeit für Mona Azz aufs Neue. Als Koordinatorin der DolmetscherInnen steigt sie auf eine Bank, damit sie alle sehen, und hält eine kurze Ansprache: «Salam aleikum, meine lieben Dolmetscher! Danke, dass ihr gekommen seid. Ihr seid das entscheidende Team hier, vergesst das nicht. Das Wichtigste: Immer freundlich bleiben und trotzdem bestimmt. Dann: Niemand schaltet das Funkgerät aus, auch wenn es manchmal stört. Was die Weiterreise angeht: Wer nicht Pass, Ticket und Reservierung hat – nicht auf den Zug schicken. Sonst stoppt sie die Polizei vor der Grenze. Übernachtungen: Wir haben Schlafplätze organisiert. Die Reisenden sollen sich ausruhen, etwas essen und am nächsten Tag weiterziehen. Niemand schläft im Hauptbahnhof, der muss in der Nacht gereinigt werden. Alles klar? Dann an die Arbeit. Jalla, jalla!»

Was macht der Staat?

Angesichts der grossen freiwilligen Hilfe in Salzburg, Wien, Röszke und anderen Stationen auf der Route der Reisenden kommt unweigerlich die Frage auf: Was macht eigentlich der Staat?

Viel zu wenig, finden die österreichischen Grünen. Viele Flüchtlinge haben sich diesen Sommer auf den Weg gemacht, nachdem die internationale Hilfe im Libanon und in Jordanien praktisch zusammengebrochen ist. Im Libanon musste das World Food Programme (WFP) mangels Geld die Nahrungsmittelhilfe auf 13,50 US-Dollar pro Monat und Flüchtling halbieren.

Die Grünen kritisieren deshalb die Regierung, sie lasse Syrienflüchtlinge im Stich. Zahlte die Schweiz etwa im Jahr 2015 rund sechzig Millionen US-Dollar an das WFP, kam von Österreich kein Cent. Der Grüne Peter Pilz verlangt deshalb vom Sicherheitsrat mehr Hilfe vor Ort: Die Regierung solle dem WFP «umgehend 50 Millionen Euro zur Versorgung der Flüchtlinge zukommen lassen».